de Moor Aus dem Licht
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26293-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-446-26293-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marente de Moor, 1972 in Den Haag geboren, lebte nach ihrem Studium der Slawistik mehrere Jahre in St. Petersburg, wo sie als Korrespondentin für niederländische und russische Medien arbeitete. Für ihren Roman 'Die niederländische Jungfrau' (Suhrkamp, 2011) wurde sie mit dem AKO-Literaturpreis und dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Ihr Werk wurde bisher in über fünfzehn Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt ihre viel gelobten Romane Aus dem Licht (2019) und Phon (2021), für den sie den Jan-Wolkers-Preis und den Ferdinand-Bordewijk-Preis für das beste niederländischsprachige Prosawerk erhielt.
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Am 16. September 1890 stieg ein Mann in den Zug von Dijon nach Paris, danach hörte man nie wieder etwas von ihm. Er hatte nicht vor zu verschwinden. Außerdem ist ein Mensch für sein Verschwinden genauso wie für seine Entstehung von anderen abhängig. Er kann nicht mal eben im stillen Kämmerlein beschließen, dass es ihn nicht mehr gibt, erst muss er vermisst werden. Wie auch immer, als Valéry Barre in den Zug stieg, hatte er noch vor, in Paris anzukommen. Unterwegs muss ihm etwas begegnet sein, das ihn ausgelöscht hat, und diejenigen, die ihn herbeisehnten, taten es noch lange Zeit vergeblich.
Die »Kaiserliche Linie«, die Eisenbahnstrecke, die Louis-Napoléon in sein Reich kerben ließ, führte quer über den schönen Körper Frankreichs, doch der Zug fuhr zu schnell. Die Reisenden starrten durch die Aussicht hindurch in ihre Erinnerungen an ein Land, in dem die Zeit noch nicht vereinheitlicht war, wo die Menschen von der Sonne abhängig waren, von Ebbe, Flut, fallenden Blättern und sich füllenden Eutern statt von der Eisenbahnzeit. In Tunnel hinein und aus ihnen heraus schoss der Zug, an Häusern, Bäumen, Flüssen, Bergen vorbei, ließ die Menschen stumm zurück, während über die Telegrafenleitungen entlang der Schienen Tausende Wörter ausgetauscht wurden. Valéry Barre betrachtete seine Heimat mit dem abwesenden Blick eines Reisenden. Von Paris aus wollte er nach England weiter, sich von Freunden und Kollegen verabschieden und einige Wochen später nach Amerika übersetzen. Das war der Plan. Doch mit ihm wollte und konnte er sich im Moment nicht befassen. Gedanken schossen ihm durch den Kopf wie Fledermäuse, die sich in ein Haus verirren: Rechts herum, links herum kreisend, ohne etwas zu berühren, mit hörbarer, aber kaum sichtbarer Geschwindigkeit, bis eine unnachahmliche Rechenaufgabe sie zum Fenster zurückfinden lässt. Vor einer Woche war er mit einer gefährlichen Idee im Kopf aufgewacht. Weder kam sie ihm gelegen, noch wollte sie wieder weichen. Als dürfte er nicht aufbrechen, sondern müsste in Europa bleiben, um sich ihr zu widmen. Nur am Morgen gönnte sie ihm einige leere Momente, einen glasigen Blick durchs Fenster auf den neuen Tag, doch dann gewann sie wieder an Boden. Jahrelang hatte er sich abgerackert, den heißen Atem der anderen im Nacken, doch jetzt lagen die Fahrkarten für seine triumphale Rückkehr bereit, und dann das. Wie eine Dirne provozierte sie ihn, verdrängte seine Arbeit, die patentiert werden konnte: Lass doch ab von diesem alten Kram, der ist zu Ende gedacht, bleib bei mir, ich bin spannender. War sie ihm eingeflüstert worden? An Konkurrenten, die ihn mit rebellischen und auf den ersten Blick genialen Gedanken von der Arbeit abhalten wollten, herrschte kein Mangel. Alle Erfinder keuchten unter der Last ihrer Furcht, vor allem ab einem gewissen Alter, wenn ihnen mehr einfiel, als sie noch zu Ende denken könnten. Doch was er spürte, war keine Eile. Es war Widerwillen. Diese Idee war nicht von ihm, und er hatte sie auch keinem Kollegen abgeluchst. Vielleicht war sie gar nicht von dieser Welt. Sie ähnelte vage der Erfindung, für die er vor drei Jahren Glück und Liebe geopfert hatte: dem Film.
Er war nicht der Einzige, der sich damit befasste. In Europa und in Amerika standen an die zwanzig Mann kurz davor, das Wesen der Bewegung zu erfassen und einzufangen. Wem würde es gelingen? Eigentlich hatte alles schon im zweiten Jahrhundert begonnen, bei den alten Chinesen, die mit ihren Wundertrommeln Vögel und Drachen an die Wand bliesen. Es hing ganz davon ab, was man als Bewegung ansah. Einige versuchten, sie auf Fotografien einzufangen, andere klebten Bilder hintereinander auf, ließen diese Runden drehen oder rannten selbst im Kreis. Die Zuschauer wurden in kleine Züge gesetzt, bekamen Brillen und Schachteln auf den Kopf, die Erfinder erblindeten oder drehten durch, und die Namen ihrer Erfindungen wurden immer länger, doch noch war es keinem gelungen, sich die flüchtige Wirklichkeit zu angeln. Nur Barre. Niemand wusste, dass er der Erste war. Er war sich selbst nicht sicher.
Verglichen mit dem Sturm in seinem Innern kam der Zug nicht sehr schnell voran. Draußen grasten Kühe noch nicht gemähte Weiden ab, Kuh um Kuh, Weide um Weide. Immer dasselbe Bild. Manchmal kam ein Heuhaufen oder eine Scheune vorbei, und er war sich sicher, dass er sie eben schon gesehen hatte. In seinem Abteil tat sich genauso wenig. Links gegenüber saß immer noch der Fettsack, in seinen Samtanzug gezwängt, den Fuß gegen die Abteiltür gestemmt, den Kopf passgenau an die Lehne geschmiegt, als wollte er so der Geschwindigkeit trotzen, mit der er durch die Lande befördert wurde. In seiner Hand hatte er immer noch die Taschenuhr, klappte sie seufzend alle drei Minuten auf. Sein Nebenmann genauso, etwas weniger häufig, außerdem war dessen Uhr mindestens vergoldet. Er trug sie nicht an einer Kette, sondern hielt sie in einer Hand, stützte diese mit der anderen ab, damit die gravierte Pferdeszenerie auf dem Deckel ja keinem entging. Beide Männer überboten sich gegenseitig im Hinblick auf die Zeit, während der dritte im Begriff war, aus der Zeit zu fallen.
Er sah hinaus, und ein Dorf kam vorbei, das er, wiederum, irgendwoher kannte. Wenn er all diese Dinge erkannte, mussten auch sie ihn kennen, klare Sache. Es konnte gar kein Zufall sein. Sowieso musste es mal vorbei sein mit seiner Gutgläubigkeit. Früher wären sie ihm nicht aufgefallen, all diese Herren, die wegschauten, sich in Schaufenster vertieften, sobald er sich nach ihnen umdrehte. Einmal wäre ihm seine Angst fast zum Verhängnis geworden. Da war er in einem verwinkelten Elendsviertel von Leeds blind losgerannt, wobei er sich immer wieder an den rauen Mauern abstützte, bis er sich beim Fluss ins Gras fallen ließ. Dennoch kam er nicht wieder zu Atem, weil auch die Luft ihn bestürmte, ihm eine wolkenlose Schicht nach der anderen auf die Brust drückte, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Alles war ihm auf den Fersen, das stand fest. In Wirklichkeit nahmen ihn seine Mitreisenden jedoch nicht wichtig. Sie hatten ihn kaum begrüßt, als wäre er bereits unsichtbar. Aber seine Tasche war ihnen aufgefallen, denn er hatte gezögert, sie ins Gepäcknetz zu legen. Es war kein gewöhnliches Gepäck, das sah man an seinen Gesten wie von einer Mutter, die prüft, ob ihr Kind ordentlich eingemummelt ist. Der Mann selbst konnte ihnen gestohlen bleiben, sein Meter vierundneunzig in vornehmem Harris-Tweed, sein unrasierter Hals über dem schmutzigen Kragen, sein gepeinigter Finger in dem zu engen Ehering. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn er sich vorgestellt hätte. Vielleicht hätten sie dann seinen Namen von den riesigen Bildern wiedererkannt: Valéry Barre, Panoramen. Doch so hielten sie ihn für einen der vielen Zugreisenden, die Angst vor Geschwindigkeit haben, einen Nagelbeißer, den schwindelt, wenn er Schienen sieht, und der in Schluchzen ausbricht, wenn er die Trillerpfeife des Schaffners hört. Angeblich war Tachophobie ansteckend, also ignorierten sie ihn lieber und klappten stattdessen die Zeit auf und zu.
Und Barre erkannte immer weitere Dinge. Einen Kirchturm aus Schiefer, eine Buche, eine merkwürdige Brücke. Es konnten falsche Erinnerungen sein, das passierte ihm in letzter Zeit öfter. Ganz schwummerig wurde ihm davon, beinahe übel. In der Revue Philosophique war er auf den Begriff des Déjà-vu gestoßen und auf die Theorie, dass es sich um Erinnerungen aus einem früheren Leben handelte, vermutlich lag es aber nur an Übermüdung, an neurologischen Prozessen, die die Zeit auf den Kopf stellten und die Ereignisse mal vor- und mal zurücklaufen ließen wie ein Kutscher seinen festgefahrenen Wagen. Er sollte erst einmal etwas essen. Claire, die steinalte, ständig flatulierende Köchin seines Bruders, hatte ihm Pasteten mitgegeben. Doch auf kindliche Weise ekelte er sich vor ihnen. Sein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen war ihm im Weg. Vor seinem inneren Auge sah er genau vor sich, Szene für Szene, wie die halbblinde Alte sich ihren Weg durchs Haus bahnte und danach mit ihren Händen, die alles abgetastet hatten — Hühnerstall, Latrine, Wände —, die Butter unters Mehl knetete. Und wie von einer Stanhope-Linse vergrößert, sah er Speichel aus ihrem schrumpeligen Mund kommen, zusammen mit den Worten: »Mit Speck und Nieren, für unterwegs«. Eine Gute war sie, die alte Claire, aber eine schmuddelige Gute. Auf dem Bahnhof hatte er den Proviant einem Straßenkind geschenkt. Wie viele andere Denker war er kein großer Esser. Beim Verarbeiten einer Idee nach der anderen entging ihm völlig, dass er auch so ein Ding war, das hin und wieder Brennstoff brauchte. Ein Übel seiner Zeit. Vor einem Monat hatte sich ein Mann in Grenoble zu Tode gedacht. Seine Frau schlug Alarm, nachdem er eine Woche nicht mehr aus seinem Arbeitszimmer...