E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
De Luca Das Gewicht des Schmetterlings
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0084-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0084-9
Verlag: Ullstein HC
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Erri De Luca, geboren 1950 in Neapel, zog mit 19 nach Rom und arbeitete dort als Maurer, LKW-Fahrer und Lagerarbeiter. Im Selbststudium brachte er sich mehrere Sprachen bei, darunter auch Althebräisch, um die Bibel übersetzen zu können. Erst mit 40 begann er zu schreiben und hat seither mehr als 30 Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht und gehört zu den meistgelesenen, auflagenstärksten Autoren Italiens. Seine Bücher wurden in Italien, Frankreich und Israel zu Bestsellern, und sind außerdem in Ländern wie Spanien, Portugal, Holland, den USA, Brasilien, Polen und Litauen erschienen. Erri De Luca wurde 2010 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet und 2013 mit dem Prix Européen de Littérature.
Weitere Infos & Material
Das Gewicht des
Schmetterlings
Seine Mutter war vom Jäger erlegt worden. In seinen kitzjungen Nüstern hatte sich der Geruch von Mensch und Schießpulver unauslöschlich festgesetzt.
Früh verwaist wie seine Schwester, ohne die Nähe eines Rudels, lernte er, sich allein durchzuschlagen. Er wuchs zu einer Größe heran, die die seiner männlichen Artgenossen weit übertraf. Seine Schwester war an einem wolkenverhangenen Wintertag von einem Adler gerissen worden. Sie bemerkte ihn, wie er fast bewegungslos über ihnen in der Luft stand, während sie abgeschieden auf einem Sonnenhang weideten, wo sich noch letztes vergilbtes Gras fand. Die Schwester hatte den Adler gespürt, selbst bei zugezogenem Himmel, ohne dass sein Schatten auf dem Boden zu sehen war.
Für eines von ihnen gab es kein Entrinnen. Seine Schwester stürzte los, geradewegs dem Adler entgegen, eine leichte Beute.
Ganz auf sich allein gestellt, wuchs er völlig frei und einsam auf. Als er reif dafür war, suchte er das nächste Rudel auf, forderte den führenden Platzbock zum Kampf und gewann. Er wurde König an einem Tag und mit einem Duell.
Beim Kampf gehen die Gamsböcke nicht aufs Ganze. Der Sieger wird schon bei den ersten Zusammenstößen ausgemacht. Dabei rammen sie nicht die Hörner aneinander wie die Steinböcke und Ziegen. Mit zum Boden gesenktem Kopf versuchen sie ihre leicht zurückgebogenen Hörner in den Bauch des anderen zu stoßen. Wenn der Gegner nicht augenblicklich aufgibt, durchbohren sie die Bauchdecke und schlitzen sie beim Zurückziehen des Kopfes mit den Hörnern auf. Es ist selten, dass es zu diesem Ende kommt.
Doch bei ihm war das anders. Ohne Regeln aufgewachsen, war er es jetzt, der sie bestimmte. Es war ein strahlender Novembertag, als die Rivalen zum Duell aufeinandertrafen, auf der Erde lagen vereinzelte Flecken frischen Schnees. Die Weibchen werden vor Einbruch des Winters brünstig und bringen ihre Jungen mitten im Frühling zur Welt. Die Gamsböcke kämpfen im November.
Von einem Felsvorsprung herunter war er plötzlich bei der weidenden Herde aufgetaucht. Die Weibchen ergriffen sofort mit ihren Jährlingen die Flucht, nur der Platzbock blieb stehen und stampfte mit den Vorderhufen wild auf das Gras.
Hoch in der Luft bildeten sich krächzende Schwärme von schwarzen Krähenflügeln. Vom Aufwind getragen, beobachteten sie, wie unten das Duell eröffnet wurde. Der einsame junge Bock preschte vor und scharrte unter heftigem Schnauben mit den Hufen. Es war ein kurzer und grausamer Kampf. Die Hörner des Herausforderers schlugen eine Bresche in die Verteidigung des Gegners, und mit dem linken Horn hakte er sich im Bauch des Gegners fest. Es gab ein lautes, reißendes Geräusch, als er ihm den Bauch aufschlitzte. Oben in der Höhe brach wildes Flügelklatschen los. Die Vögel riefen den Besiegten aus, der für sie bestimmt war. Mit offenem Bauch, aus dem die Eingeweide herausquollen, ergriff der Bock die Flucht. Schon stießen die Flügel zur Erde herab, um das Gedärm zu verschlingen. Die Flucht des Verlierers endete jäh, ein plötzliches Erstarren, dann brach er zusammen.
Weiße Schmetterlinge ließen sich auf dem blutbefleckten Horn des Siegers nieder. Einer von ihnen würde dort über Generationen von Schmetterlingen für immer bleiben und von April bis November wie ein Blütenblatt im Wind über dem Kopf des Gamskönigs flattern.
An diesem Novembermorgen wachte er müde auf. Allseits unangefochten beherrschte er seit vielen Jahren schon sein Revier. Seine Jungen wuchsen bei den Muttertieren auf und wussten nichts von der Unerbittlichkeit ihres Erzeugers. Unter seiner Herrschaft gab es keine Duelle. Die ausgewachsenen Männchen verließen das Revier und suchten sich bei einem anderen Rudel zu behaupten.
Es war eine Zeit des Friedens im Reich der Gämsen. Sie starben nur durch die Jagd des Menschen oder des Adlers. Das war der Preis, den die Gämsen an die Räuber aus dem Tal und aus der Luft für das Bewohnen dieses Reichs zahlten. Der Mensch lud sich den Fang auf die Schulter und trug ihn hinunter ins Tal, der Adler verzehrte ihn an Ort und Stelle, dann nahm er bergab Anlauf, um sich von Neuem in die Luft zu erheben.
Am Boden ist ein Adler plump und unbeholfen. Vom Fressen der Beute schwer geworden, gleicht er eher einem Truthahn. Mit seinen kurzen Füßen rennt er los und muss sich vor dem Abheben mehrmals vom Boden abstoßen. Am Boden ist ein satter Adler verwundbar.
Einmal, auf einer Hochebene, hatte der Gämsenkönig einen Adler getötet. Er hatte abgewartet, bis dieser voll- und schwergefressen war, dann griff er an. Der Adler gewann nur mühsam an Höhe, er flatterte knapp über der Erde. Wie gelähmt hatte die Herde aus der Ferne verfolgt, wie ihr König sich mit gesenktem Kopf auf den Adler stürzte, der immer wieder entkam, dann erneut nach unten taumelte. Mit einem Stoß des linken Horns hatte der König ihn beim Niedersinken noch in der Luft durchbohrt. Er sprang auf den verletzten Adler, trampelte ihn mit den Hufen nieder und ließ ihn schließlich zum Sterben liegen. Nie zuvor hatte man das im Reich der Gämsen
gesehen.
An diesem Novembermorgen wachte er müde auf, er wusste, dass seine Vorherrschaft zu Ende ging. Bald würde er den Hörnern eines seiner Söhne unterliegen. Einen von ihnen, der kampflustig vor ihm aufstampfte, hatte er schon am Bauch verletzen müssen, ohne dabei zu weit zu gehen. Aber nicht mehr lange, und ein anderer würde kommen, ihn besiegen und seine Eingeweide über die Wiese ausbreiten, er wäre dann nichts mehr als ein ausgeweidetes Gerippe. So wollte er nicht enden, besser in diesem Winter noch verschwinden, unauffindbar.
Er schlief abseits des Rudels, selbst zur Brunftzeit im Herbst. Für die Nacht hatte er verschiedene Unterschlupfe, unter ausgehöhlten Latschenkiefern, in Höhlen über brüchigen Felsen, wo weder der Mensch noch sein Geruch hinaufdringen konnten. Er stieg zu unterschiedlichen Zeiten zum Rudel herab, mal im Schutz des Nebels, mal noch vor Tagesanbruch oder nach Sonnenuntergang. Niemand konnte sein Kommen vorherbestimmen. Wenn er sich zeigte, liefen die Weibchen ihm entgegen, und die Jungböcke gingen vor ihm in die Knie.
An diesem Novembertag spürte der König, dass sein Untergang nahte. Sein Herz schlug weniger als zweihundert Mal in der Minute, es schien, diese Schubkraft, die für die Sprünge bergauf Sauerstoff liefert und sie leichter macht, hatte nachgelassen.
Die Hufschalen der Gämse sind wie die Finger eines Geigenspielers. Sie bewegen sich blind, ohne auch nur einen Millimeter vom Weg abzukommen. Wahre Zirkusartisten, flitzen die Gämsen in der Bergarena über Felsvorsprünge, sie sind Zauberkünstler beim Aufstieg, Akrobaten beim Abstieg. Die Gämsenhufe ergreifen regelrecht die Luft. Bei Bedarf dienen ihre Hornhautkissen als Schalldämpfer, sonst sind die beiden Hufschalen wie Flamencokastagnetten. Die Hufe der Gämse sind die vier Asse eines Falschspielers. Durch sie ist die Schwerkraft kein Gesetz mehr, sondern eine Variante des Themas.
Als er sie im Morgengrauen bei dichtem Nebel auf dem kaum sichtbaren Boden aufsetzte, spürte er, dass sie ihm keine Sicherheit mehr gaben. So wartete er, dass sein Herz bis in die Hufe hineinschlug und der Tag im Rhythmus der Schläge anbrach. Noch wollte er nicht aufgeben und sein linkes Horn vor einem jüngeren Bock beugen, nur weil der noch frischer an Kraft war.
Er schnupperte in den Horizont, um zu wissen, wohin er nie mehr zurückkehren und wo er unauffindbar sein würde. Der klare Sonnentag hatte den Nebel schnell vertrieben, und Licht strömte von Osten über das Rudel der Gämsen, die ihre Köpfe hoben und sich daran labten. Sie befanden sich viele Meter unter ihm. Von seinem schattigen Zufluchtsort beobachtete er sie. Sie waren so zahlreich, dass sie auch Verluste verkraften konnten, das war ihre Stärke. Sie waren nicht mutig, aber ihre große Zahl verlieh auch den Schwächsten noch Stärke.
Es waren seine Kinder, er hatte sie mit der Kraft seiner Flanken in die Welt gestoßen. Er war nicht stolz darauf, er hatte nur den Willen des Lebens vollzogen. Sie konnten sich bei helllichtem Tag ins Freie hinauswagen.
Es sind tapfere Weibchen, die im Mai zum Gebären auf die höchsten Weideplätze hinaufsteigen. In aller Einsamkeit kommen sie nieder und schließen sich dann mit anderen Müttern zu Gruppen zusammen. Himmel und Schluchten bilden die Umzäunung der Kindergärten, wo die Mütter ihre Jungen aufziehen. Mit ihren Hörnern bilden sie einen Schutzschild gegen die Beuteflüge des Adlers, auf die Hilfe eines Männchens können sie dabei nicht zählen.
Tapfer sind die Geißen, jede mit einem Kitz, das wie ein Schatten folgt und an ihren Zitzen hängt. Über sie alle wacht, aus einiger Entfernung, der König, froh darüber, dass mehr Weibchen als Männchen geboren wurden.
Der Geruch des Menschen und seines Gewehröls drang zu ihm herauf. Der Mörder seiner Mutter. Er war es, der ganz allein aufstieg, um Gämsen zu erlegen, und seit Jahren schon war er ihm, dem König, auf den Fersen.
Mit einem Tritt schleuderte der Gämsenkönig einen Stein weit über ein steiles Geröllfeld. Der Aufprall löste eine kleine Steinlawine aus. Weiter unten am Hang schaute der Mann hoch, auf der Suche nach der Stelle des Steinschlags, denn dort musste auch das Tier sein, das ihn verursacht hatte. Aber er blickte in die falsche...