Dark / Voehl Horror Factory - Spielplatz des Bösen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5685-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 24, 80 Seiten
Reihe: Horror Factory
ISBN: 978-3-8387-5685-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
HORROR FACTORY: Neue Horror-Geschichten. Deutsche Autoren. Digitale Originalausgaben. Das ganze Spektrum des Phantastischen. Von Gothic bis Dark Fantasy. Vampire, Zombies, Serienmörder und das Grauen, das in der menschlichen Seele wohnt. Jeder Band in sich abgeschlossen. Die ganze Nachbarschaft hält den siebenjährigen Dustin für seltsam. Der Junge mit der verkrüppelten Hand lebt mit seinem Vater in einem niedersächsischen Dorf - ganz in der Nähe einer früheren germanischen Richtstätte. Oft steht Dustin allein am Fenster seines Zimmers und spricht mit den Tauben, die aus dem Lindenbaum zu ihm herüberfliegen. Aus ihren Schnäbeln ragen blutige Stofffetzen und verblichene Knochensplitter. Trotz der eindringlichen Warnung eines alten Mannes beschließen die Dorfbewohner, genau an der Stelle der früheren Richtstätte einen Abenteuerspielplatz zu bauen. Kurz darauf werden drei Kinder ermordet aufgefunden. Und Dustin wird immer feindseliger. Aus seinem Zimmer dringen seltsame Laute. Laute, die sich anhören wie ein Krächzen...
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»Dustin!« Der Junge zuckte zusammen und hob ängstlich den Kopf. Er saß in seinem Kinderzimmer auf dem Boden und spielte mit seinen Plastik-Dinosauriern. »Dustin!« Er horchte und spähte in die dunkle Ecke des Kinderzimmers. Was war das? »Dustin!« Er drehte den Kopf zur anderen Seite. Da war doch niemand. Woher kam die Stimme? »Dustin! Weißt du, wer ich bin?« Der Junge sah einen Schatten und kroch unter den kleinen Plastiktisch. »Dustin! Ich bin es!« Der Junge erstarrte. Sein Gesicht wurde weiß.«Mama!«, flüsterte er. »Mama. Wo bist du?« »Geh zum Fenster!«, sagte die Stimme. Dustin kroch unter dem Tisch hervor und ging ans Fenster. »Mach das Fenster auf!« Dustin stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte den Griff nach unten und öffnete das Fenster. »Siehst du den Baum?«, fragte die Stimme. Der Junge blickte auf die kahlen Zweige der Linde auf der Anhöhe. Ein eiskalter Wind wehte ins Zimmer, aber das störte ihn nicht. Er starrte auf den Baum. Die dunklen Äste zeichneten sich wie ein Geflecht von Adern vor dem grauen Himmel ab. In den Adern floss schwarzes Blut. Das Blut war so schwarz wie die Vögel, die im Geäst saßen oder hingen – den Kopf mit den spitzen Schnäbeln nach unten. Es waren Vögel von allen Größen, ein Gewirr von gefiederten Wesen, großen und kleinen. Sie schienen sich nicht zu bewegen, sie schienen leblos und starr, als schliefen sie oder wären tot. Er horchte. Wo war die Stimme? »Mama!«, rief er. »Wo bist du?« »Dustin! Die Vögel … sind … deine Freunde. Denk … daran, ich … bin … nicht … tot.« Die Stimme wurde immer leiser. Die letzten Worte waren kaum noch zu hören. Tot. Der Junge formte das Wort TOT mit seinen schmalen, blassen Lippen. Sein Gesicht war blass, seine Haut schien durchsichtig, seine Augen waren von einem wässrigen Blau. Er war sehr dünn, das T-Shirt mit dem Dinosaurier darauf war viel zu weit für seine schmale Brust, die dünnen, knochigen Arme sahen aus wie Stecken. Unten liefen Kinder vorbei. Sie sahen nach oben und riefen: »Hallo, du da, komm doch runter, und spiel mit uns!« Sie winkten, warteten kurz, doch als er nicht antwortete, liefen sie weiter. Dustin hatte die Kinder überhaupt nicht wahrgenommen. Er stand am Fenster und starrte auf die Linde und den Steinhaufen darunter. Der Wind wurde immer beißender, aber der Junge schloss das Fenster nicht. Die Kinder waren verschwunden, sie waren nach Hause gelaufen, wo ihre Mütter mit dem Abendbrot auf sie warteten und sie ermahnten: »Abendbrot! Wascht euch die Hände! Seid nicht so laut! Jetzt ist aber Schluss mit Fernsehen! Habt ihr mich verstanden?« Und dann würden sie nach all dem Geschimpfe und Gemecker ihre Kinder in die Arme nehmen und sie drücken und küssen und froh sein, dass es sie gab, diese kleinen Wesen, die sie so sehr liebten und für die sie alles tun würden. Dustin hatte keine Mutter mehr. Er war allein. Er starrte immer weiter auf den Baum, der schwärzer und schwärzer wurde, und auf die Vögel, die nach wie vor dort saßen oder hingen. Als die Umrisse des mächtigen Baumes noch schärfer hervortraten und die Luft immer eisiger wurde, erhoben sich die Raben auf den unteren Ästen. Sie spreizten die Flügel und schüttelten sich, als erwachten sie aus einem langen, tiefen Schlaf. Sie streckten die nadeldünnen Beine, stellten sich auf die spitzen Vogelfüße und erhoben sich in die Luft, um nach einem kurzen Flug gleich wieder auf dem Erdboden zu landen. Kra, kroa, kra – krächzten sie und begannen, mit den Schnäbeln ins Erdreich zu hacken, wild und schnell wie kleine Hämmer an einer Maschine. Der Dreck spritzte auf, sie bohrten den Schnabel immer tiefer in den Boden, pickten etwas Weißes heraus, erhoben sich und kamen direkt auf Dustin zugeflogen. Der Junge stand bewegungslos da. Er hörte das Rauschen in der Luft, als die Schar immer näher kam, hörte das Kra, kroa, kra, das seltsam vertraut klang, und wich keinen Zentimeter zurück, als sich die Vögel ganz dicht vor ihm auf der Fensterbank niederließen. Er hatte keine Angst vor ihnen, nein, überhaupt nicht, das waren doch seine Freunde! Fast hätte er sogar die Hand ausgestreckt und ihr drahtiges Gefieder gestreichelt. Sie öffneten einer nach dem anderen den Schnabel, ließen die gräulich-weißen Stäbchen fallen und blickten Dustin aus ihren großen, schwarz blinkenden Kugelaugen an, als warteten sie darauf, dass er etwas zu ihnen sagte. Dann spreizten sie lautlos die Flügel und flogen ins Dunkel hinaus. Dustin starrte auf die Stäbchen. Er nahm eins in die Hand. Es war ein kleiner Knochen. Er sammelte die anderen Knöchelchen ein und schloss das Fenster. Dann suchte er nach einer Kiste. Schließlich fand er eine leere Spielzeugschachtel und legte die kleinen, schmutzig grauen Knochen vorsichtig hinein. *
Alban Wittrock hatte die aufsteigende Panik in seinen rechten Fuß verbannt, wo sie seinen Wagen in ein Geschoss verwandelte, das durch die Dämmerung des kalten Märzabends zischte. Er drückte das Gaspedal so tief durch, als wollte er ein Loch in den Boden des Autos fräsen. Doch die Panik wich nicht, sondern wurde nur noch stärker. Er wusste, dass er zu schnell fuhr, viel zu schnell. Achtzig waren erlaubt. Nur achtzig. Doch er dachte an Dustin, der allein zu Hause war. Er hatte das Gefühl, dass Dustin in Gefahr war. Er konnte die Gefahr nicht genau benennen. Dustin würde nicht die Herdplatte anmachen. Er würde auch nicht mit Streichhölzern spielen wie Paulinchen, nein, es war etwas anderes, was ihn bedrohte. Alban hasste das Gefühl, die Angst, die ihn umschloss wie ein Panzer. Seine Schwester hatte einmal zu ihm gesagt, die große Angst um Dustin rührte allein von den Schuldgefühlen, wenn er seinen Sohn wieder einmal so lang allein gelassen hatte, viel länger als geplant. Aber er konnte es doch auch nicht ändern, wenn schon wieder eine Verkäuferin krank geworden war und er erst einmal für eine Vertretung sorgen musste. Verdammt noch mal! Er musste seinen Job gut machen! Er musste das Geld verdienen! Er konnte nicht zu Hause sitzen und mit Dustin spielen wie eine Mutter. Als er schließlich vom Gas ging, glaubte er einen Augenblick lang stillzustehen. Er beschleunigte wieder leicht, der Tacho pendelte sich auf hundert Stundenkilometer ein. Vor Einbruch der Dunkelheit wollte er sein Ziel erreichen. Doch da fühlte er einen stechenden Schmerz unter seinem Herzen. Wie einen Dolch. Kurz darauf verließ er die Schnellstraße und bog in die schmale Landstraße ein. Noch konnte er die Umrisse der Bäume erkennen, die sich vor dem grauen Himmel abzeichneten. Auch die scharf gezeichneten Linien der Dachfirste von Haykenau. So bald wie möglich würde er wieder wegziehen aus diesem Dreihundert-Seelen-Dorf im Niemandsland zwischen Heide und Nordsee. Es war so einsam hier. Er würde das nicht lange aushalten. Schon von Weitem konnte er das Haus sehen. Uff! Er atmete durch. Kein Kind, das auf der Straße stand und weinte, weil es sich allein gelassen fühlte und Angst hatte. Er blickte auf das Haus auf der Anhöhe, daneben die große Linde. Hunderte von Vögeln hockten auf den Zweigen. Mit jedem Tag schienen es mehr zu werden. Hoffentlich blieben sie friedlich. Er hatte in der letzten Zeit so allerlei gehört, von Krähen, die Müllsäcke zerfetzten, Wäschestücke von den Leinen rissen und Menschen angriffen. Sogar in den Städten, am helllichten Tag. Alban schaltete in den zweiten Gang und fuhr ganz langsam die Straße hinauf. Alles in Ordnung. Seinem Jungen ging es gut. Als er ausstieg, hörte er ein Rauschen in der Luft. Drei, vier Vögel kamen angeflogen und landeten auf der Kühlerhaube seines Wagens. Verdammt noch mal! Es gab ein quietschendes Geräusch, als die Vogelkrallen auf dem Lack abrutschten. Weg mit euch! Alban machte einen Schritt auf die Vögel zu – langer blauer Schwanz, schwarzer Kopf, weißer Bauch – waren das Elstern? Oder Krähen? Egal, weg mit euch, ihr frechen Biester! Er schwenkte die Aktentasche durch die Luft, doch die Vögel ließen sich nicht stören, sie blieben einfach sitzen und blickten ihn aus schwarzen Perlaugen an, frech, aufmüpfig, stur. Haut endlich ab! Wütend fegte Alban mit der Aktentasche vor den Biestern herum. Endlich flogen sie aufgescheucht davon. Ein Vogel blieb sitzen. Was hatte das Tier da im Schnabel? Jetzt breitete es die Flügel aus, sie waren größer, als Alban vermutet hatte, und stieß sich ab, mit einem kratzenden Geräusch, was Alban zur Weißglut brachte. Gleichzeitig ließ es etwas fallen, etwas Weißes, so groß wie ein Teelöffel mit einer Ausbuchtung an einem Ende. Scheißvogel! Ihm fiel Bianca ein. Bianca hatte Vögel geliebt. Sie hatte sie gefüttert, immer und überall. Einmal hatten sie deswegen sogar einen heftigen Streit gehabt. Bianca hatte dauernd die Tauben angelockt, hatte sie dicht herankommen lassen und sie sogar in die Hand genommen. Eine Taube in der Hand! Ekelhaft! Alban griff nach dem weißen Ding. Es war leicht wie Luft. An der Ausbuchtung hing etwas Faseriges, es sah aus wie altes Gras. Er wollte es gerade wegwerfen, als er es sich anders überlegte und das Ding in die linke Hosentasche steckte, während er aus der rechten den Haustürschlüssel fischte. Kurz bevor er die Haustür erreichte, blickte er zur Linde hinüber. Der Vogel war wirklich dreist. Er saß immer noch dort und beobachtete ihn mit unbewegtem Blick. »Blöder Vogel!«,...