Dark John Sinclair - Folge 1060
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8387-3793-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Mystikerin (1. Teil)
E-Book, Deutsch, Band 1060, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
ISBN: 978-3-8387-3793-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Endlich als E-Book: Die Folgen der Kult-Serie John Sinclair aus den Jahren 1990 - 1999!
DIE MYSTIKERIN (1. Teil).
Das blutbefleckte Kleid, das Messer in der Hand, auf dem Tisch der wie zum Ritual aufgebettete Tote, alles war so glasklar.
Jane Collins und ich brauchten nur hinzugehen, um die junge Mörderin festzunehmen. Wir taten es und hatten trotzdem verloren, denn wenig später wurde sie uns von einer geheimnisvollen Erscheinung geraubt. Beide verschwanden wie Nebel in der Sonne.
Wir hatten die Fremde damit zum ersten Mal gesehen. Es war die Mystikerin, die uns noch viel Ärger und Kopfzerbrechen bereiten sollte.
John Sinclair ist der Serien-Klassiker von Jason Dark. Mit über 300 Millionen verkauften Heftromanen und Taschenbüchern, sowie 1,5 Millionen Hörspielfolgen ist John Sinclair die erfolgreichste Horrorserie der Welt. Für alle Gruselfans und Freunde atemloser Spannung. Tauche ein in die fremde, abenteuerliche Welt von John Sinclair und begleite den Oberinspektor des Scotland Yard im Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit.
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Die Mystikerin (1. Teil)
»Du musst dich nicht fürchten, mein Kind. Ich bin bei dir. Ich gebe auf dich acht wie ein Engel aus dem Himmel …«
Ginny, die junge Frau mit den blonden Locken und dem Puppengesicht, erschrak so heftig, dass ihr die brennende Zigarette zwischen den Fingern hervorrutschte, auf die rote Bettdecke fiel und nicht im Ascher landete, der neben ihrem rechten nackten Oberschenkel stand.
Ginny fror plötzlich.
Die Angst kehrte zurück.
Diesmal war es eine andere Angst. Nicht die vor ihrem Zuhälter, die eigentlich immer vorhanden war. Es war die Furcht vor der Stimme, die sie zwar gehört, deren Sprecherin sie aber nicht gesehen hatte.
Die Stimme war dagewesen. Als eine Botschaft hatte sie sich für einen Moment in der Zelle ausgebreitet.
Zelle. So nannte Ginny das schmale Zimmer, in dem sie die Kunden empfangen musste. Vier Wände, eine Decke, ein schmales Fenster, nicht mehr als eine Luke. Zumeist leuchtete das rote Licht, und es warf seinen Schein auch nach draußen, damit jeder genau wusste, was ihn erwartete, wenn er in die Nähe des Hauses kam.
Ginny arbeitete in einem Bordell. Verdammt harte Schichten, aber es brachte zumindest mehr Geld ein als andere Arbeiten in einem Büro oder in einer Fabrik. Im Lauf der beiden Jahre ihrer »Tätigkeit« hatte sich Ginny zudem an vieles gewöhnt. Sie gehörte zu den Mädchen, die sehr begehrt waren. Sie sah jünger aus als dreiundzwanzig. Das runde, kindliche Gesicht, die großen Augen, das lockige Haar und ein attraktiver Körper mit großer Oberweite. Ginny trug einen String Tanga. Das Oberteil konnte ihre beiden Brüste kaum bändigen. Auch an anderen Stellen war sie gut proportioniert. Es stimmte nicht, dass Männer nur diese dünnen Hippen liebten, sonst hätte sie nicht so gut zu tun gehabt.
Ihr Arbeitszimmer bestand aus einer Mischung zwischen Lasterhöhle und Zelle. Das Bett mit der roten Decke, die schmale Kommode, die Lampe, das Waschbecken, die Handtücher, die Glotze mit dem Recorder für die Sexfilme, alles war billiger Standard, ebenso das Bett mit der weichen Matratze.
Jedesmal wenn ein Freier sie verlassen hatte, wechselte Ginny die Unterlage aus, ein großes Handtuch. Über Hygiene stritt man sich hier nicht.
Hinzu kam der Geruch. Er war nicht natürlich. Es duftete nach süßlichen Deos, aber auch nicht zu stark, schließlich sollte das Zeug dem Gast nicht in den Kleidern hängen bleiben.
Ginny hatte die Zigarette wieder aufgenommen, noch einen Zug geraucht und sie dann ausgedrückt. Reglos saß sie auf dem Bett und lauschte.
Einbildung? Nein, auf keinen Fall. Die Stimme war vorhanden gewesen.
Ginny hatte nicht selbst geflüstert und sich nicht mit den Worten beruhigt. Da war etwas gewesen, aber etwas, mit dem sie nichts anfangen konnte und das sie beunruhigte.
Auf ihrem fast nackten Körper lag eine Gänsehaut. Sie wollte auch nicht weichen, blieb wie eine zweite Haut, als Ginny den Kopf bewegte und sich umschaute. Das Bett stand günstig. Es endete mit dem Kopfteil an der Wand; so konnte sie das kleine Zimmer gut überblicken, ohne allerdings jemand zu sehen.
Es gab nur eine Person, und das war sie.
Um diese Zeit herrschte wenig Betrieb im Haus. Trotz der recht dünnen Wände war nicht viel aus den Nachbarzimmern zu hören. Hin und wieder ein Musikfetzen, mal eine Stimme, ein Lachen oder bestimmte, typische Geräusche, die eben zu diesem Job gehörten.
Ihr Abkassierer war es nicht gewesen. Er würde noch kommen. Und er trat anders auf. Rocco war einer, der wenig redete. Er kam, kassierte, rechnete nach, und wenn es zu wenig war, ging es Ginny zumeist schlecht. Alles lief über ihn ab. Er zahlte auch die Miete für das Zimmer. Um einigermaßen zu verdienen, musste Ginny schon zahlreiche Gäste bedienen. Brachte sie zu wenig, gab es Ärger mit Rocco.
Er würde wieder kommen. Innerhalb der nächsten Viertelstunde. Erst danach konnte sie wieder einen Freier empfangen. Das eingenommene Geld lag neben dem Bett auf der Konsole. Der Lampenfuß hielt die Summe fest. Hoch war sie nicht. Aber Ginny hatte auch nicht gemogelt. Der Betrieb war an diesem Tag eben nicht so gut gewesen. Außerdem konnte sie ihren Zuhälter nicht betrügen. Jeder Gast wurde registriert. Das wusste auch Rocco. Bevor er zu ihr kam, zählte er die Anzahl der Kunden durch.
Es interessierte ihn nicht, ob sie wenige oder viele Kunden gehabt hatte. Die Summe musste stimmen. Waren es wenige, dann sollte Ginny, um den Umsatz zu erreichen, gewisse Extras anbieten, die dann mehr Einnahmen brachten.
Das hatte sie getan, aber die Männer waren heute nicht darauf eingegangen. Es würde ihr nicht leichtfallen, ihrem Zuhälter dies klarzumachen.
Schon beim letzten Mal hatte er sie bedroht und davon gesprochen, dass seine Geduld am Ende war.
Ginny fürchtete sich vor ihm. Alle Kolleginnen hatten Angst vor ihren Abkassierern. Diese Furcht vor Rocco verdrängte die andere, die von der Stimme verursacht worden war.
Ginny holte wieder eine Zigarette hervor. Das schmale Fenster hatte sie gekippt und schaute zu, wie der Rauch träge in seine Richtung zog. Sie blickte auch deshalb hin, weil sie davon ausging, dass sich die unbekannte Person hinter dem Fenster aufhielt, obwohl es Unsinn war. Ihr Zimmer lag in der ersten Etage. An der glatten Hauswand konnte so leicht niemand hochklettern.
Noch immer lehnte sie mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine angezogen. Von draußen hörte sie Geräusche. Schritte auf dem Flur. Die Stimme ihrer dunkelhäutigen Kollegin von nebenan, die einen Kunden auf das Zimmer schleifte. Ginny hörte, wie wenig später die Tür hart zufiel.
»Scheiße!« flüsterte Ginny. Sie kam sich vor wie ein Tier, das in die Falle gelaufen war. Auf ihrer Haut hatte sich Schweiß abgesetzt. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde sie, und das schien der oder die Unbekannte auch gemerkt zu haben, denn Ginny hörte die Stimme plötzlich von neuem.
»Keine Angst, Mädchen. Ich bin in deiner Nähe. Ich werde dich beschützen. Du brauchst dieses Elend nicht mehr lange zu ertragen, das verspreche ich dir.«
Ginny hatte jedes Wort gehört. Leise, aber trotzdem klar und deutlich war es gesprochen worden. Sie bewegte ihren Kopf. Schaute wieder nach rechts und nach links. Sogar zur Decke ließ sie ihren Blick wandern, ohne allerdings etwas erkennen zu können. Der Unbekannte hielt sich bedeckt.
Es gab hier keinen Lautsprecher, der Außengeräusche übertragen hätte. Aus der Glotze war die Stimme nicht gekommen. Zudem hatte Ginny den Apparat nicht eingeschaltet. Das Gleiche galt für den Videorecorder. Da war nichts zu machen.
Sie drückte die Zigarette aus und streckte die Beine aus. Wieder suchten die Augen das Objekt. Allmählich wurde ihr unheimlich zumute. Auf dem Rücken lag die kalte Schicht, die Arme waren ebenfalls mit einer Gänsehaut bedeckt, und in der Kehle spürte sie einen harten Druck. Auf dem Boden vor dem Bett zeichnete sich ebenfalls nichts ab. Sie war allein und war es trotzdem nicht.
»He, wer bist du!« Endlich konnte sich Ginny zu dieser Frage durchringen. Sie war ihr verdammt schwergefallen, doch sie erhielt keine Antwort.
»Melde dich doch …«
Auch jetzt bezweifelte sie, eine Antwort zu bekommen. Es war ein Irrtum. Die Stimme war da. »Keine Sorge, ich kümmere mich um dich. Ich bin deine Beschützerin. Ich werde dich vor diesem verfluchten Typen bewahren, Ginny.«
Ihr Atem stockte. Die Anrede war sehr persönlich gewesen. Sie hatte auch lauter geklungen, als sollte jedes Wort überdeutlich zu verstehen sein.
Ihr lagen zahlreiche Fragen auf der Zunge, aber sie fand nicht den Mut, sie zu stellen. Die Stimme versagte. Sie konnte nur immer ins Leere schauen, zu mehr war sie nicht fähig.
Nichts geschah.
Die Normalität kehrte zurück. Im Zimmer nebenan ging es richtig zur Sache. Die entsprechenden Begleitgeräusche drangen durch die dünne Wand, doch darum kümmerte Ginny sich nicht. Sie konzentrierte sich auf sich selbst und ihre Umgebung – und natürlich auf eine Wiederkehr der verdammten Stimme.
Verdammt?
Nein, sie war nicht verdammt. Sie war so weich gewesen, auch so beruhigend, doch Ginny konnte sich einfach nicht beruhigen. Es lag nicht einmal so sehr an der Stimme, sondern daran, dass sie keinen Erklärung dafür fand.
Gab es Geister? Bisher hatte Ginny nicht daran geglaubt. Mittlerweile war sie dabei, ihre Meinung zu ändern. Es konnte durchaus sein, dass es so etwas gab. Als Kind hatte sie immer an Engel geglaubt, ohne sie jedoch gesehen zu haben. Sie war nur davon überzeugt gewesen, dass Engel existierten und die guten Menschen beschützten, während sie für die schlechten nichts taten.
Aber konnten Engel sprechen? Ginny wusste es nicht. Sie dachte auch an nichts. Sie wollte sich nicht quälen. Es hatte keinen Sinn, über Dinge nachzudenken, für die sie keine Erklärung fand. Andererseits fielen ihr so viele Dinge ein, die sie mit ihren Kolleginnen zusammen besprochen hatte. Da war oft von Geistern die Rede gewesen, die ihre Hände tatsächlich schützend über einen Menschen hielten. Angefangen von der Geburt und erst mit dem Tod endend.
Aber wie lief es hier? Ginny konnte sich plötzlich nicht mehr an diese Theorien klammern. Es war etwas anderes, wenn man mit den Kolleginnen darüber redete und theoretisierte, als so etwas tatsächlich in der Praxis zu erleben.
Es blieb ihr nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass die Stimme wieder ertönte. Ginny legte auch den Kopf zurück, um besser die nackte graue Decke abzusuchen, denn alles Gute sollte ja bekanntlich von oben kommen. Zumindest hatte man ihr das als Kind beigebracht....