E-Book, Deutsch, 142 Seiten
Dannerer / Esterl Sprache(n) und Zugehörigkeiten
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7065-6392-5
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriterien der Zugehörigkeit im Spannungsfeld zwischen Politik und Gefühl
E-Book, Deutsch, 142 Seiten
Reihe: ide - information für deutschdidaktik
ISBN: 978-3-7065-6392-5
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Zugehörigkeit" ist ein sehr breiter Terminus, der zwar nicht neu ist, aber in letzter Zeit vermehrt genutzt wird, u.a. um Prozesse des Ein- und Ausschließens und der Positionierung flexibler zu erfassen als z.B. mit dem Begriff "Identität". Differenziert werden kann u.a. zwischen "Politik(en) der Zugehörigkeit" und "Gefühlen der Zugehörigkeit". Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit kann dabei unabhängig von Sprachen und Varietäten angezeigt bzw. empfunden werden, kann aber auch eng damit verbunden und in bestimmten Bereichen sogar daran gebunden sein.
Im schulischen Kontext wird Zugehörigkeit aufgrund von vordefinierten Kriterien einerseits formal geregelt (z.B. Aufnahme in eine Schule/Klasse, Einstufung als "mit Sonderpädagogischem Förderbedarf " oder "mit Migrationshintergrund", Zuordnung zu bestimmten Erstsprachen …), und andererseits sozial durch unterschiedliche Prozesse zwischen allen Akteur:innen immer wieder ausgehandelt. Dabei wird insbesondere die Beherrschung und/oder Verwendung von bestimmten Sprachen und Varietäten, von literalen Praktiken u. Ä. m. als Ausdruck von Zugehörigkeit gewertet.
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Politik und Gefühle der Zugehörigkeit in der Schule
Die Schule als Institution setzt – wie jede Institution – auf eine Reglementierung von Zugehörigkeiten an ihren Grenzen wie auch in ihrem Inneren: Dies beginnt mit der wohnortbedingten Zugehörigkeit zu einem Schulsprengel, der Aufnahme in die Schule bzw. der Feststellung der »Schulreife«, es betrifft außerdem die Gruppierung in Parallelklassen, die Aufnahme in bestimmte Wahl- und Freifächer, das Aufsteigen in die nächste Klasse bis hin zur Attestierung des erfolgreich abgelegten Pflichtschulabschlusses bzw. der Reifeprüfung. Zusätzlich werden Zugehörigkeiten nach Teilleistungen attestiert – mit der Feststellung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs oder mit dem Nichtbestehen der Kompetenzüberprüfung der Deutschkenntnisse mittels MIKA-D und damit der Zuordnung zu einer Deutschförderklasse oder -gruppe. Solche Ein- und Ausschlüsse werden zum Zweck einer »Homogenisierung« getroffen bzw. damit begründet. Diese »Politik der Zugehörigkeit« vertritt nach außen die Orientierung an klaren Regeln, Normen und Leistungsanforderungen. Um die Schwierigkeiten an den »Rändern« dieser Grenzen wissen allerdings alle Betroffenen. Neben der Politik der Zugehörigkeit, die oft starr ist und nicht selten lange gültige, langfristig (auch über die Institution hinaus) wirkende und ausschließliche Zugehörigkeiten schafft (wer schulreif ist, kann nicht zugleich nicht schulreif sein, wer in die 2a-Klasse geht, kann nicht zugleich auch die 2b besuchen), gibt es auch die »Gefühle der Zugehörigkeit«. Hier gibt es Ein- und Ausschlüsse, die blitzschnell wechseln können und markiert werden zum Beispiel durch Sprachen und Varietäten, durch einen Akzent, Mimik, Gestik, Körpersprache, durch Kenntnis von oder Verfügen über Symbole der Zugehörigkeit wie Kleidung, Lifestyle-Präferenzen, Mediennutzung (Geräte, Häufigkeit, Plattformen, Social Media, Sprachverwendung), Varietätenverwendung (Jugendsprache, Dialekte), Fanartikel eines Fußballvereins etc. Insiderwissen und das Wissen um den »Hausbrauch« sind immaterielle Kennzeichen einer bestimmten Zugehörigkeit, die explizit durch ein »bei uns da« und »bei euch dort (unten)« ausgedrückt werden kann. Sich unauffällig und ohne Anstrengung und Nachdenken bewegen zu können, ist dem Gefühl der Zugehörigkeit inhärent. Mehrfachzugehörigkeiten oder auch ein rascher Wechsel von Zugehörigkeit kann Anstrengung bedeuten, kann aber auch lustvoll sein. Die Freiheit der fluiden Mehrfachzugehörigkeiten ist in manchen Bereichen immer wieder erklärungsbedürftig (Wer/Was bist du? Zu wem gehörst du? Zu wem hältst du?), in anderen eröffnet sie spielerisch die Möglichkeiten der »Grenzüberschreitung«. In der Forschung gilt das Konzept der Zugehörigkeit als in besonderem Maße flexibel und offen, als differenzierbar in Fremd- und Selbstzuschreibung von Zugehörigkeiten und in die bereits erwähnten Ebenen der Politik und der Gefühle der Zugehörigkeit. Damit eröffnet es gegenüber dem Konzept der Identität oder der Positionierung noch einmal neue Perspektiven. (Nicht-)Zugehörigkeit(en) können selbst gewählt sein oder aber vom Gegenüber/einer anderen Gruppe/einer Institution erzwungen, verhindert oder toleriert werden. Einer Aufnahme steht die Abweisung, die Verbesonderung, das Othering gegenüber. In (Sprach-) Biographien haben wir es nicht selten mit wechselnden (Wünschen nach/Vorstellungen von) Zugehörigkeiten zu tun. Aber nicht nur Institutionen entscheiden über Zugehörigkeiten, auch im informellen Bereich, zum Beispiel in den Sozialen Medien, werden laufend Zugehörigkeiten verhandelt, wenn man beispielsweise als Follower:in zugehörig zu einem:einer Influencer:in ist. Gerade im Netz wird aber auch deutlich, wie wichtig es sein kann, die Nichtzugehörigkeit aushalten zu können oder einer Ausgrenzung von anderen mit Zivilcourage zu begegnen und gegen Hate-Speech aufzutreten. Die neuen Lehrpläne für die Sekundarstufe I (2023) thematisieren Zugehörigkeit in den allgemeinen didaktischen Grundsätzen, wo es im Grundsatz 6 (»Alle am Schulleben Beteiligten pflegen einen respektvollen Umgang miteinander«) heißt: Eine zentrale Aufgabe der Schule ist es, Rahmenbedingungen für den respektvollen und wertschätzenden Umgang mit Vielfalt und der Begegnung der Kulturen im Alltagsleben zu schaffen. Vor dem Hintergrund einer global vernetzten und heterogenen Gesellschaft sollen Schülerinnen und Schüler ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Vielfalt eine Realität ist, die auch eine wertvolle Ressource darstellt. Schülerinnen und Schüler sollen unter anderem erfahren, dass das Lernen und Beherrschen mehrerer Sprachen von entscheidender Bedeutung für die individuelle Identitätsbildung, die Teilhabe an Gesellschaft und Kultur sowie das Miteinander in einer mehrsprachigen Welt ist. Insbesondere sollen die Sprache, Kultur und die jeweilige Geschichte der sechs autochthonen Volksgruppen in Österreich gemäß § 1 Abs. 2 Volksgruppengesetz, BGBl. Nr. 396/1976, im Unterricht aufgegriffen und ein Bewusstsein für die Rechte und den Schutz von Minderheiten geschaffen werden. Für alle Schülerinnen und Schüler werden im Unterricht Gelegenheiten geboten, sich reflektiert und kritisch mit (eigenen) Identitäten und Zugehörigkeiten auseinanderzusetzen. Gleichzeitig sollen die grundsätzlichen Werte, Normen und Traditionen einer aufgeklärten, europäischen Gesellschaft vermittelt werden. Es gilt, das gemeinsame Fundament heraus zu streichen, insbesondere demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit, die Egalität der Geschlechter und die Säkularität des Staates, die Basis für ein gedeihliches Zusammenleben in einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft sind. [Lehrplan AHS 2023; Hervorh. von M. D. und U. E.] Der Lehrplan verbindet also Zugehörigkeiten und Identitäten und stellt zunächst die Bedeutung von Sprachen, dann aber stark die von Werten, Normen und Traditionen in den Mittelpunkt. Während Sprachen in ihrer Vielfalt (»das Miteinander in einer mehrsprachigen Welt«) gesehen werden, erfolgt bei den »Werten, Normen und Traditionen einer aufgeklärten, europäischen Gesellschaft« eine Festlegung auf ein »gemeinsame[s] Fundament«. Ausgangspunkt für unsere Idee zu diesem Heft war der Zusammenhang von Sprachen und Varietäten und Zugehörigkeit(en). Mehrsprachige und mehrvarietäre Kompetenzen eröffnen den Blickwinkel auf Mehrfachzugehörigkeiten und Räume des Übergangs, wie sie beim Dolmetschen und Übersetzen besonders bewusst (gemacht) werden. Fragen des Zusammenspiels von Sprachen und Zugehörigkeiten betreffen unterschiedlichste Bereiche, nicht alle lassen sich in einem Themenheft behandeln. Daher haben wir uns in diesem Heft vordringlich auf folgende Aspekte konzentriert: Im Vordergrund steht die äußere Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen Fragen von Mehrfachzugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten – von sozialen Ausgrenzungen aufgrund einer als unangenehm, weil ungewohnt bzw. unangemessen, wahrgenommenen Sprechweise (Intensität, Lautstärke, die nicht zum sozialen Geschlecht passen) bis hin zu den viel diskutierten Sprachförderklassen bzw. dem Instrument MIKA-D für die Kompetenzfeststellung. Perspektiven auf das Agieren der Institution Schule wie auch auf die Selbstwahrnehmung von (Nicht-)Zugehörigkeit durch Schüler:innen sind hier gleichermaßen zu berücksichtigen. Neben der inzwischen breit geführten Diskussion zur (migrationsbedingten) äußeren Mehrsprachigkeit war es uns aber auch wichtig, Sprachen und Varietäten sowie die »Übergangszonen« in den Mittelpunkt zu rücken, die ansonsten wenig Berücksichtigung finden: Die immer noch nicht ausreichende Integration der Österreichischen Gebärdensprache als Minderheitensprache kann hier als Beispiel für eine fortwährende Attestierung von Nichtzugehörigkeit gelesen werden. An den »Rändern« und in diesem Sinne als ein Ausdruck von Mehrfachzugehörigkeit, der allerdings keineswegs immer ausreichend geschätzt wird, kann die Dolmetschkompetenz von Schüler:innen angesehen werden, deren Einsatz und Bewertung in der Schule stärker ins Bewusstsein gerückt werden sollte. Und schließlich ist es die Leichte Sprache bzw. die Einfache Sprache, die Übergänge in Richtung Bildungssprache erleichtern sollte, deren Einsatz aber gerade im Hinblick auf eine Verfestigung von Kategorisierungen als »nicht-zugehörig« immer wieder hinterfragt werden sollte. Für die Rolle, die Dialektkompetenzen für die Verhandlung von Zugehörigkeit spielen, verweisen wir auf Heft 3/2024 der ide, das dem Thema »Dialekt« gewidmet sein wird. Wir legen den Fokus in unserem Heft sehr deutlich auf bildungspolitische Fragen und vorwiegend sprachbezogene Zugänge sowie sprachdidaktische Anregungen zur Sichtbarmachung unterschiedlicher Zugehörigkeiten im Unterricht. Der bedeutsamen Rolle der Literatur bei der Thematisierung und Verhandlung von Zugehörigkeiten...