E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Dankers Passwort Rote Alge
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-946820-86-4
Verlag: Hybrid Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-946820-86-4
Verlag: Hybrid Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der 19-jährige Jan liegt auf dem Boden eines düsteren Kriechkellers, eingesperrt, nur in Unterwäsche und ohne Aussicht auf Hilfe. Währenddessen kommt Luka mit einem gestohlenen Auto in einem Feriendorf in der Nähe von Schwerin an und erinnert sich an nichts. Die hübsche Kellnerin Inga wirft sich an ihn heran und bringt dabei Lukas mühsam aufrecht erhaltende Fassade ins Wanken. Als schließlich Jana auftaucht, beginnt ein Machtkampf und eine Fahrt auf Leben und Tod.
Julia Dankers erblickte Ende der Siebziger in der ländlichen Idylle Norddeutschlands das Licht der Welt. Nach der Schule begann sie eine Ausbildung in der Küche und verdiente sich als Bassistin in einer Rockband, sowie als Reporterin für das örtliche Käseblatt ein karges Zubrot. Inzwischen lebt sie mit ihrer Frau und zwei Kindern in der Märchenstadt Buxtehude, arbeitet als Küchenleitung in einer großen Kindertagesstätte und nebenher als Autorin zahlreicher Romane und Kurzgeschichten.
Autoren/Hrsg.
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1. Luka
Konzentriert steuere ich den Wagen über die einsamen Landstraßen. An der Landschaft merke ich, dass ich im Osten bin. Eigentlich sind die Straßen und die Schilder keine anderen als im Westen. Trotzdem fühlt es sich minimalistischer an und die Luft riecht muffig und verbraucht, wenn ich meine Augen für einen Moment schließe. Es ist nicht schwer, einen Fiat Panda aus den Neunzigern zu knacken und kurzzuschließen. In einem Fiat Panda gibt es nicht allzu viel Technik, er ähnelt einem blechernen Karton. Dieser hier hat noch nicht einmal ein Radio, dafür Allradantrieb und extrabreite Reifen. Außerdem ist er ein gutes Stück höher gelegt – wie ein Geländewagen- und in der Bundeswehrtarnfarbe dunkelgrün lackiert. Solch einer wird von Jägern, Landwirten, Rentnern und Künstlern gefahren. Vielleicht brauchen Künstler keine Musik, weil die Musik in ihren Köpfen ausreicht. Ich bin ein Überlebenskünstler. Im besten Falle. Das monotone Rauschen des Motors macht mich wahnsinnig. Januar, Februar, März, April … die Jahresuhr steht niemals still … Unmelodisch summe ich ein altes Kinderlied vor mich hin und habe keinen blassen Schimmer, woher ich es kenne. Es ist Mai, glaube ich, und trete das Gaspedal ein kleines bisschen fester durch. Bäume rauschen an mir vorüber, als hätten sie ein Eigenleben. Als würden sie vor irgendetwas fliehen, das hinter ihnen liegt und weit vor mir. Fast so, als würde ich einfach so dasitzen in einem Glaskasten, meinem Kokon, und tatenlos meine Umwelt beobachten, ohne mich fortzubewegen. Es ist kalt für Mai, doch das interessiert mich herzlich wenig. Ich sollte mich zusammenreißen, damit ich nicht einnicke in der tristen Monotonie regennasser, dörflicher Landstraßen. Um mich wachzuhalten, fummele ich an den Fensterhebern herum. Endlich gelingt es mir, das Fenster zu öffnen und ein paar kühle Tropfen küssen meine Stirn. Ich habe Schwerin hinter mir gelassen, ohne die Autobahn zu benutzen. Das war gar nicht so einfach ohne Navi, Handy mit Google Maps oder altmodische Karte. Solch eine hat im Handschuhfach gelegen, leider eine russische. Jetzt liegt sie irgendwo hinter Lübeck auf der Straße, weil ich sie vor Wut und Enttäuschung weggeworfen habe. Vielleicht sind ein paar LKW darüber hinweggerauscht oder irgendein ausgesetzter Hund hat drauf gepullert. Ein bisschen ärgere ich mich, sie weggeworfen zu haben. Immerhin hätte ich es bis nach Russland schaffen können. In ein paar Tagen wäre ich vielleicht dort gewesen. Russland liegt in der Ferne. Und die Ferne ist mein Ziel. Ich fahre fort. Von mir. Ein Tapetenwechsel kann manchmal guttun, sagt man. Für mich bedeutet es mehr als das. Ein geklautes Auto über die Autobahn zu lenken, birgt ein gewisses Risiko. Cambs, Dobin, Bibow und Warin steht auf den Schildern, die an mir vorüberrauschen. Die Ortsnamen klingen wie Figuren aus der Sesamstraße. Dazwischen reihen sich Wiesen und Wälder nahtlos aneinander. Ab und zu unterbrechen kleine Ansammlungen von Häusern die flache Landschaft. Zwei oder drei Tankstellen passiere ich, ohne anzuhalten. Natürlich weiß ich, dass so eine Tankfüllung nicht ewig hält. Außerdem werde ich irgendwann etwas essen müssen. Obwohl mein Magen knurrt, spüre ich keinen Hunger, fast so, als ob er jemand anderem gehört. Gleichgültig registriere ich das Rucken des Motors, ein leichtes Aufbäumen, kurz bevor er ausgeht. Ich lasse den Wagen am Straßenrand ausrollen, schnappe die unförmige Reisetasche von der Rückbank und schließe die Türen sorgfältig. Für einen Passanten würde es aussehen, als ob ein Jäger die Karre dort geparkt hat, um im Wäldchen auf die Jagd zu gehen. Das Olivgrün des matten Lacks verschwimmt beinahe mit den Blättern der Bäume und dem hohen Gras des Seitenstreifens. Ein Chamäleon passt sich so an seine Umwelt an, denke ich, als ich mich nach zweihundert Metern flüchtig umblicke. Der Asphalt fühlt sich hart und rutschig unter meinen ein oder zwei Nummern zu großen Turnschuhen an. Feriendorf in vierhundert Metern steht auf dem kleinen, verblassten Schild, dessen Pfeilen ich folge. Die Luft riecht nach Regen und hängt schwer in meinen Kleidern. Bei jedem vierten Schritt muss ich meine Jeans ein Stückchen hochziehen, damit sie mir nicht vom Hintern rutscht. Ihre Säume verursachen ein schabendes Geräusch auf dem nassen Teer. Vor mir liegt ein See, ein paar kleine, barackenähnliche Hütten auf der rechten Seite, Wohnmobile und Wohnwagen auf der linken. Dahinter ein Häuschen mit Sanitäranlagen, in dessen Nähe ein paar Wagemutige trotz der bescheidenen Witterung ihre Zelte aufgeschlagen haben. Der Badesteg liegt verlassen da. Ich könnte losrennen und hineinspringen mit all meinen Klamotten, meiner Tasche und dem ganzen Plunder in meinen Hosentaschen, der sich fremd an meinen Fingerkuppen anfühlt. Ich könnte die Luft anhalten und mich bis auf den Grund sinken lassen, bis ich nicht mehr kann und Wasser atme. Niemand würde mich aufhalten. Ich tue es nicht, weil es albern wäre und zu einfach. Oder zu schwierig, falls sie mich retten und sich auf mich stürzen würden mit all den Fragen, die ich nicht beantworten kann. Die Rezeption befindet sich in einem großen, separaten Gebäude mit Restaurant, Kegelbahn und Hotelzimmern. Alt sieht die gesamte Anlage aus, wie aus einer Zeit vor über zwanzig Jahren, als ich noch nicht einmal geboren war. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich in zwanzig Jahren aussehen werde. Mein Gesicht unter den kurzen braunen Locken grinst mich aus dem Garderobenspiegel an. Ich trage keinen Bart, noch nicht mal einen dünnen Flaum, und sehe viel zu jung aus, um alleine zu verreisen. Mühsam huste ich meine Stimme heiser und eine halbe Oktave tiefer. Der dicke Stoff meiner derben Winterjacke kratzt auf meinen bloßen Armen. Bis zum Mund krieche ich hinein in den starren Kragen, meinen viel zu leichten Schutzpanzer, der mein Kinn kitzelt. »Hallo, junger Mann. Kann ich Ihnen helfen?« Die große dunkelhaarige Frau hinter dem Tresen schaut seitlich an mir vorbei und nickt kaum merklich. »Ich suche ein Zimmer. Für eine Nacht erst mal.« Ich bemerke ihren fragenden Blick und füge hastig hinzu: »Ich bin auf der Durchreise.« »Einzel oder Doppel?« Auf ihrer Oberlippe erkenne ich den dunklen Schatten eines Damenbarts. Ihre Frisur wirkt streng, zwei dünne Spangen halten das kurze, dunkle Haar zurück. »Einzel.« Zweifelnd blicke ich mich um, als würde noch jemand neben mir stehen. Irgendjemand unsichtbares oder ganz kleines vielleicht, den man mit bloßem Auge kaum erkennen kann. »Sicher.« Die große Frau lacht aufgesetzt. Die Fältchen um ihre Augen herum verraten, dass sie mindestens Mitte dreißig ist. Ich bin nicht gut im Schätzen, aber sie könnte wohl locker meine Mutter sein. Zum ersten Mal trifft ihr Blick den meinen und nicht nur einen diffusen Punkt knapp hinter mir. »Ein Zelt haben Sie nicht dabei, oder? Ein Wohnmobil?« Geschäftig lässt sie ihre Finger über die zerfledderten Seiten eines dicken Kalenders flattern. »Es ist noch keine Hauptsaison. Aber wir haben viele Stammgäste, die immer um diese Zeit kommen, wenn die Preise für die Übernachtungen noch niedrig sind. Rentner, Studenten und so … Künstler eben. Für ihre Kunstpausen.« Assis sagt sie nicht. Gestrandete Seelen auch nicht. Es ist schwer einzuschätzen, ob sie mich für einen Künstler oder einfach einen jungen Vagabunden hält. Wahrscheinlich will sie es auch gar nicht so genau wissen, solange die Kohle stimmt. »Nein, ein Wohnmobil habe ich nicht dabei. Auch kein Zelt. Es müsste schon ein richtiges Zimmer sein. Oder eine von diesen Hütten dort.« Mit ausgestrecktem Finger deute ich auf die winzigen Holzhäuser links vom See. Erst jetzt bemerke ich das getrocknete Blut unter meinem Fingernagel. Schnell lasse ich meine Hand in der Tasche verschwinden. Die Frau an der Rezeption schenkt dem keine weitere Beachtung. Ich lasse meinen Blick über die altmodischen Stühle und Tische des Gastraums wandern. Ein alter Mann betritt den Gastraum. Achtlos lässt er die Tür hinter sich zufallen. Gerade noch rechtzeitig bemerke ich die noch ältere Frau hinter ihm. Schnell reiße ich die Tür wieder auf, bevor sie ihr vor der Nase zuschlägt. Die ältere Dame lächelt mir traurig zu und nickt. Dann setzt sie sich zu ihm, ihrem Mann wahrscheinlich, der verdrossen aus dem Fenster starrt, so als existiere sie gar nicht. »Guten Abend, Familie Gerber.« Die Frau an der Rezeption zieht ihr dunkelgraues Kostüm zurecht. »Ich sage gleich in der Küche Bescheid, dass Sie da sind.« »Guten Abend.« Die ältere Frau nickt teilnahmslos. Danach starrt auch sie aus dem Fenster. Schlagartig fühle ich mich in einem Spiel meiner Kindheit gefangen: Wer als Erster was sagt, hat verloren. Aber ich werde nicht verlieren, presse meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Das sind also die Rentner, die außerhalb der Saison immer wieder kommen. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde ihn ein strammer Rettungsring zusammenschnüren. »Eine der Hütten also«, wiederholt die Rezeptionistin. »Die vermieten wir nur für mindestens drei Nächte. Wegen der Reinigung, der Heizung und dem ganzen Brimborium. Du kannst ein Hotelzimmer haben, wenn du nur eine Nacht bleiben möchtest.« Sie bemerkt gar nicht, dass sie mich plötzlich duzt. Mir selbst ist wohler dabei. Ich bin es nicht gewohnt, gesiezt zu werden. Drei Nächte schließen auch drei Tage mit ein. Drei Tage, an denen ich keine Entscheidungen treffen muss. Drei Tage, an denen ich einfach nur lebe, esse, trinke und atme. »Gut, dann nehme ich drei Nächte.« Meine trockenen Lippen schmerzen, als ich den Mund...