E-Book, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 208 mm
Reihe: afrika bewegt
Dangarembga Die Schwere des Seins
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-949545-44-3
Verlag: Orlanda Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Postkoloniale Erzählungen aus Simbabwe
E-Book, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 208 mm
Reihe: afrika bewegt
ISBN: 978-3-949545-44-3
Verlag: Orlanda Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Vorwort
Madeleine Thien
»Ich werde an der Quelle des Stromes leben,
wo die Fragen aller Menschen beginnen.« Dambudzo Marechera aus Das Haus des Hungers 1 Im November 2012 trafen wir uns zehn Tage lang in einem Bibliotheksraum der spanischen Botschaft in Harare. Der Raum befand sich in einem scheinbar provisorischen Gebäude, das durch Benutzung zu einer dauerhaften Einrichtung geworden war: eine Art Modul am hinteren Rand des Rasens der Botschaft. Unsere Gruppe von zehn Schriftsteller*innen, darunter Ignatius Tirivangani Mabasa, Tsitsi Dangarembga und ich selbst als Moderator*innen, trafen uns jeden Tag für sieben Stunden, um zu lesen, zu diskutieren und vor allem um zu schreiben. Dieses Buch enthält sieben literarische Werke. Es wurde von über sechzig wahren Geschichten inspiriert – Erinnerungen, Testamenten, Zeugenaussagen, Geständnissen, Fragen, Bekenntnissen, Gegendarstellungen –, die uns per Post und über in ganz Simbabwe aufgestellte Sammelkästen erreichten. »Ich bin eine fünfzig Jahre alte Frau«, beginnt Brief Nummer 10. 19 ist unterschrieben mit »Eine beunruhigte Mutter«. 20, 41, 44, 45, 50: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« 49: »Ich bin eine Großmutter. Soll ich es einfach vergessen?« 51: »Wie sollen wir das lösen, wenn sogar mein Leben bedroht ist?« 11: »Ich habe diese Vorfälle nie der Polizei gemeldet.« 41: »Von einer Person belästigt zu werden, schmerzt mehr als eine Krankheit.« 29: »Ich will dir von meinem Leben erzählen.« 34: »Mein Herz blutet.« Alle Verfasser*innen wollten eine Wahrheit zum Ausdruck bringen, und sie wollten, dass diese Wahrheit gehört wird. Viele äußerten auch den Wunsch – das Bedürfnis –, sich selbst zu akzeptieren, wie sie jetzt sind, heute, nach zutiefst traumatischen Erfahrungen. 2 An einem Nachmittag gab uns Tsitsi die Anweisung, uns auf dem Rasen der Botschaft zu verteilen und über einen Akt der Gewalt – physischer, emotionaler oder psychologischer Gewalt – nachzudenken, den wir selbst begangen hatten. Ich saß allein da und dachte über etwas nach, das ich als Jugendliche getan hatte, und ich zwang mich, fünfzehn oder zwanzig lange Minuten aus der Perspektive des Opfers darüber nachzudenken. Ich sah viele Dinge, die ich vor mir selbst verborgen hatte. Als sich die Gruppe wieder versammelte, war ich die Einzige, die ihre Geschichte nicht erzählte. Bis heute denke ich über die Ereignisse nach, die die Gruppe diskutierte, und werde davon verfolgt, und ich erinnere mich, wie mich der Gedanke entsetzte, dass Tsitsi mich auffordern würde zu sprechen. Ich bin überzeugt, dass ich nichts hätte sagen können. 3 Mehrere Male am Tag lasen wir Entwürfe unserer Geschichten laut vor. Die Gruppe dachte über den Wortlaut nach. Wir stellten den Verfasser*innen und uns gegenseitig Fragen. Konnte es wirklich so sein?, fragten wir uns. Jemand von uns war in Haft gewesen und gefoltert worden; alle verstanden, was Gewalt bedeutete. Wir tauchten ein in Geschichten, schöne und schreckliche Geschichten, Geschichten von Großeltern, Brüdern, Schwester, Freunden, Geschichten aus unserer eigenen Kindheit. Das Wissen im Raum reichte tief. Wir entdeckten Gemeinsamkeiten und auch Meinungsverschiedenheiten. Marechera schrieb: »Das Leben der kleinen Leute ist wie ein Spinnennetz; es hängen winzige Skelette der Größe darin.« Wir suchten nach den unmerklichen Details im individuellen Leben; wir schauten uns an, was einzelne Menschen geworden waren und was sie hätten werden können. Wir waren auf der Suche nach der Fülle der Menschheit, gleichgültig, wie schwer es fiel hinzusehen. 4 Briefe aus ganz Simbabwe. In den Schreiben ist jede Form des Ausdrucks zu hören: Schreie, Geflüster, Weinen. Manche Stimmen sind sachlich, andere stehen noch unter Schock. Viele stellen unbeantwortbare Fragen. Das Haus eines Mannes wird niedergebrannt. Die Tochter mit Trisomie 21 wird vom Sohn eines einflussreichen Mannes vergewaltigt. Eine zweiundzwanzigjährige Frau wird regelmäßig von dem Mann geschlagen, den sie liebt. Eine Mutter sagt: »Er schlug mit dem Ziegelstein auf meine Tochter ein, bis sie tot war.« Ihr erschütternder Brief ist nur zehn Zeilen lang. Brief 41: »Sie sagen, ich soll zu meinem Vater und meiner Mutter gehen, damit sie mir etwas zu essen geben. Aber ich weiß nicht, wo mein Vater und meine Mutter sind, denn sie sind tot. Also bleibe ich bei meinem Hunger.« Wir lasen und lasen noch einmal. Die Fantasie wird nie ausreichen, aber wir versuchen dennoch, es uns vorzustellen. Zu Beginn des Workshops bringe ich Spiegel der Abwesenheit des syrischen Dichters Faraj Bayrakdar mit. »Ich habe gesagt: Du mein Ebenbild,/ sei Wasser oder Stein,/ ein mit Fata Morgana benetzter Sand,/ ein Grün bis es schmerzt,/ Vogel mit zögernden Flügeln/ oder ein Stück Himmel,/ der so verzweifelt ist,/ dass er nicht kleiner werden kann!/ Aber sei,/ sei kein Nichts.« 5 Wie sollte eine Gruppe von zehn Schriftsteller*innen als Bürger*innen von Simbabwe und als Künstler*innen – aber als Fremde für die Briefschreiber*innen – nehmen, was ihnen gegeben worden war, und es klug nutzen? 6 Überhaupt zu sprechen, ist ein unermessliches Risiko. Die Sprache eines anderen mit der eigenen Sprache zu kontern, ist ein Akt der Verwegenheit. In einer gespaltenen Gesellschaft zu sprechen, Dinge zu beschreiben, die die Gesellschaft lieber begraben möchte, ist beängstigend. Die Geschichte von jemand anderem zu erzählen, diese höchst persönlichen Briefe zu nehmen und sie als Literatur neu zu imaginieren – auch das ist belastend. In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises argumentiert Orhan Pamuk, dass ein Schriftsteller »die Kunstfertigkeit besitzen muss, die eigenen Geschichten zu erzählen, als wären es die Geschichten anderer Leute, und die Geschichten anderer Leute, als wären es die eigenen, denn das ist Literatur«. »Ich stoße die Jungen herum, betone jedes Wort mit einem Schlag ins Gesicht. Der Schmerz hätte meiner sein können. Das Geheimnis liegt in dem Wissen, dass er es nicht ist«, schreibt Charmaine R. Mujeri in Die Hunde des Kriegs. Yandani Mlilo meint: »Ihr unbewusstes Lachen war voller Schmerz.« In Karen Mukwasis Vor der Dämmerung kümmert sich eine Ärztin um eine Frau namens Ruth: »Ihre Freundlichkeit erreichte die andere Ruth auf eine Weise, wie es die Folter nicht getan hatte.« Gewalt durchzieht diese Seiten wie die Nähte und Flicken in Marecheras Haus des Hungers. Ich gebe zu, dass ich die Erzählungen immer wieder beiseitelegte. Die Schriftsteller*innen in unserem Workshop – Elizabeth R. S. Muchemwa, Yandani Mlilo, Karen Mukwasi, Charmaine R. Mujeri, Moses Semwayo, Kudakwashe Chisango, Tsitsi Dangarembga und Ignatius Tirivangani Mabasa – bemerkten eine Spirale, die einen Gewaltakt mit einem anderen verband, Akte, die die Täter im Sinne der Gerechtigkeit nicht nur für unvermeidbar, sondern für notwendig hielten. Die Geschichten in Die Schwere des Seins sind entschlossen, diese Spirale zu stören, indem sie die Welt durch die Augen der Täter betrachten, indem sie eingestehen, dass wir alle zu allem fähig sind. Wenn Gewalt vorherrscht, wie kann sich dann eine denkende, fühlende Person davon abwenden? Werden die, die auf Gewalt zurückgreifen, nicht immer im Vorteil sein gegenüber denen, die sich dafür entscheiden, »nichts zu tun«? In ihrer Geschichte »Tanz mit Gestern« bahnt sich Elizabeth schreibend einen Weg durch dieses Dilemma: »Ein Freund hat mir einmal erzählt, dass Rache süß schmeckt, bevor sie verübt wird, doch einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Rache mag bittersüß sein, aber sie ist stets magisch. Ich sage, dir ist Unrecht geschehen, füge auch du Unrecht zu. Punkt.« Die Geschichten blicken tief in die Funktionsweise von Gesellschaft und vernachlässigen, wie wir sie uns wünschen. Um das Warum zu verstehen, müssen wir zuerst das Wie verstehen – wirklich verstehen. Echte Veränderung ist ein Rätsel. Sie erfordert Mut und Intelligenz vom Einzelnen, aber nicht einmal das ist genug. Letztlich erfordert echte Veränderung Mut und Intelligenz des Kollektivs. 7 An einem Morgen untersagte uns das Personal der spanischen Botschaft, die rückwärtige Tür zu öffnen – was uns Durchzug ermöglicht hätte. Ich war sehr verärgert. Wenn wir gezwungen waren, diese Tür zu schließen, wie es die Mitarbeiterin der Botschaft verlangte, würde die Luft im Raum stehen und die Hitze unerträglich werden. Sie verschloss die...