E-Book, Deutsch, 229 Seiten
Danck / Delaney / Feldhaus Dunkle Pfade, scharfe Zähne
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7584-0488-7
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 229 Seiten
ISBN: 978-3-7584-0488-7
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine schöne Fremde, die ein finsteres Geheimnis verbirgt. Ein schildkrötenartiges Wesen im Fluss, das von zu Hause vertrieben wird. Eine menschengroße Katze mit unstillbarem Appetit auf Rache. Yokai - japanische Geister- und Monsterwesen - existieren in den erstaunlichsten Formen und an allen denkbaren Orten. In zehn fantastischen Geschichten laden sie dich ein, ihnen Auge in Auge gegenüberzutreten. Doch Vorsicht, nicht alle Yokai sind harmlos und gutgesinnt ... Wagst du es trotzdem? Irasshaimase - Willkommen! --------------------- Alle Erlöse gehen an den Verein 'Deutsch-Japanische Gesellschaft Berlin e.V.' --------------------- Mit Illustrationen von Vincent Brosche. --------------------- Geschichten: SCHNEESCHWEIGEN - Anne Danck | WAS DU SÄST ... - Stella Delaney | DIE FLUSSNIXE - Claudi Feldhaus | UNTEN IM FLUSS - Anne Zandt | FESTGEFAHREN - Mika M. Krüger | KEIN OPFER - Kristina Schreiber | BEFLECKT - Jane Asayuki | SCHATTENBUND - Luga Faunus | PERFEKT UNPERFEKT - Juliet May | HEIRATSANGEBOT - Saskia Dreßler |
Anne Danck, geboren 1991 und aufgewachsen in Berlin, war von jeher von zwei Dingen fasziniert: vom Schreiben und von der Biologie. Letzteres führte sie zum Studium aus Berlin fort und anschließend zurück, um dort als begeisterte Verhaltensbiologin zu promovieren. Das Schreiben wiederum ist die tägliche Therapie, die ihr beim Sortieren der Gedanken hilft. Mit fünfzehn Jahren erhielt sie ihre erste Auszeichnung für eine Kurzgeschichte, es folgten diverse Veröffentlichungen in Anthologien, darunter auch die »Anthologie Noir 1«, die mit dem Deutschen Phantastik Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman-Debüt »Spielmannsbraut« erschien 2021, 2022 ihre märchenhafte Anthologie »Wünsche so schwarz wie Ebenholz« und 2023 der Dark Fantasy-Roman »Es war einmal im Dunklen Wald«.
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??? WAS DU SÄST …
Stella Delaney Triggerwarnungen befinden sich am Ende des Buches. Rot. Dunkles, klebriges Rot. Seine Finger zuckten. Er kämpfte gegen den Drang, die eine Hand mit der anderen zu umfassen und gegen seine Brust zu drücken wie ein verletztes Tier. Stattdessen ließ er sie hängen, als gehörten sie nicht zu ihm. Und lief weiter. Um ihn herum herrschte gräulich-fahles Zwielicht. Zwischen hohen, dichten Bäumen kniete er sich auf den weichen Waldboden und tauchte seine Hände ins kalte Wasser eines flachen Stroms. Rote Schlieren bildeten sich, tanzten in der klaren Flüssigkeit wie Tinte in einem Wasserglas. Als er seine Finger wieder hob, waren sie sauber. Makellos. Als wäre nichts geschehen. Er stand auf, wischte die Hände an seiner Hose ab. Drehte sich um und ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Doch irgendwo im Dunklen zwischen den Bäumen waren große, leuchtende Augen, die ihm nachstarrten. Sie hatten alles gesehen. *** Ryan zuckte zusammen und war plötzlich hellwach. Der Raum um ihn herum vibrierte. Laute Musik, fröhliche Stimmen, bunte, blinkende Lichter, die sich wie Nadeln in seine Augen bohrten. Für einen Moment starrte er benommen auf die dunkle, glatte Tischplatte, auf der eben noch sein Kopf gelegen und deren Kante schmerzhaft gegen seine Rippen gedrückt hatte. Zahlreiche leere und halbvolle Gläser mit verschiedenen, leuchtend bunten Flüssigkeiten standen darauf, zwischen Abdrücken und eingetrockneten Flecken. Sein Magen hob sich, rebellierte fast. Das schwarze Kunstleder der Couch knirschte, als er sein Gewicht verlagerte, um sich aufzurichten. Er befand sich in der Kabine einer Karaoke-Bar, wie ihm der große Bildschirm verriet, auf dem noch der Text des letzten Liedes flackerte. Aber warum war er ganz allein? Und wie zur Hölle hatte er bei diesem Lärm einschlafen können? Die Tür der Kabine öffnete sich, und eine kleine, unscheinbare Frau kam in den Raum. Vermutlich eine Angestellte, die die Gläser abräumen und sauber machen wollte. Sie verbeugte sich kurz und sagte dann etwas auf Japanisch, das Ryan nicht verstand. Wahrscheinlich wollte sie ihn höflich darauf hinweisen, dass seine reservierte Zeit um war. Ryan zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, griff nach seiner schwarzen Lederjacke und stand schwungvoll auf. Zu schwungvoll. Für einen Moment drehte sich der Raum um ihn herum. Ruhig bleiben. Einen Punkt fixieren. Atmen. Sein Blick hielt sich am Karaoke-Bildschirm fest. Er versuchte, das Lied anhand der angezeigten Worte zu erkennen. Doch noch bevor es ihm gelang, flimmerte der Bildschirm plötzlich wie ein Fernseher mit schlechtem Empfang. Aus dem Schneesturm der Pixel formten sich vier Kanji, blutrot, auf weißem Hintergrund. ???? Sie pulsierten wie ein schlagendes Herz. Ryan rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Bildschirm schwarz. Oder war er das schon die ganze Zeit gewesen? In seinen Gedanken herrschte Chaos. Erinnerungen, Gegenwart, wirre Träume – alles verschwamm miteinander und ließ ihn orientierungslos zurück. Die Frau sprach ihn erneut an, riss Ryan aus seiner Trance. Oh Gott, sie musste denken, er sei irgendein besoffener Tourist. »Ich bin schon weg. Einen Moment …« Sie hielt etwas mit beiden Händen, und streckte es Ryan entgegen. Reklame? Die Rechnung? Ohne sein Zutun griff seine rechte Hand nach dem Papier. Er warf noch einen Geldschein auf den Tisch, bevor er aus dem Raum stürmte. Das Rufen der Frau ignorierte er. Ja, er wusste es. In Japan gab man kein Trinkgeld. Es war nicht nur unerwünscht, sondern sogar eine Beleidigung, wie ihm sein Bruder schon am ersten Abend erklärt hatte. Er hatte sich als typischer, ungebildeter Amerikaner erwiesen. Als Gaijin. Wieder einmal. Ein bekanntes Gefühl stieg in ihm auf wie brodelnde Lava. Nichts wie raus hier. Doch seine Knie waren weich, sein Gang schwankend, als wäre er tatsächlich betrunken. Hatte er vielleicht doch einen Drink zu viel gehabt? Die Rezeption. Ein freier Kassenautomat. Den angezeigten Geldbetrag nahm er kaum wahr. Stattdessen starrte er auf das Logo der Bar – eine grinsende Comicversion der berühmten Winkekatze, die rechte Pfote erhoben, während die linke ein Mikrofon hielt. Wieder schien sich der Raum um ihn zu drehen und er bekam plötzlich kaum noch Luft. So schnell wie möglich zog er seine Karte durch. Dann war es endlich geschafft. Ryan lehnte sich einige Schritte vom Eingang der Bar entfernt an eine Hauswand. Stand einfach nur da, im Licht der tausend blinkenden Leuchtreklamen, die einem das Gefühl gaben, in einem Science-Fiction-Film gelandet zu sein. Wie vermutet befand er sich mitten in Shinjuku, dem Viertel von Tokio, das für seine vielen Einkaufsmöglichkeiten genauso bekannt war wie für seine Wolkenkratzer und das ausschweifende Nachtleben. In der rechten Hand hielt er immer noch das Papier. Er hob es an und betrachtete es zum ersten Mal genauer. Ein Bogen voller Fotosticker. Aus einem dieser Purikura-Automaten, wie es sie hier an jeder Ecke gab. Zwei Personen, umgeben von Blumenranken und kleinen Herzen und einer Sprechblase mit best friends. Er selbst, mit einem geradezu peinlichen Grinsen. Und Miyako. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus. Aber es war nicht seine Schuld. Es war verdammt nochmal nicht seine Schuld. Er hatte nie hierher kommen wollen. Nie das Bedürfnis gehabt, diese übergroße Insel, auf die sein älterer Bruder geflüchtet war, näher kennenzulernen. »Nicht eine Insel. Viele Inseln«, belehrte ihn sein begeisterter Sitznachbar im Flugzeug. »Im Ballungsraum Tokio leben 37 Millionen Menschen. 37 Millionen! Die Metropolregion New York hat gerade mal 20 Millionen.« Ryan ließ ihn reden. Setzte seine Kopfhörer auf und tat so, als schlafe er. Als sei das alles nur ein komischer Traum, aus dem er wieder aufwachen würde. Zuhause, in seinem Zimmer in Houston. Doch nur wenige Stunden später stand er hellwach mitten in dieser Millionenstadt, in dem Apartment, das ihm sein Bruder organisiert hatte. »Ist das ein Witz? Hier bleibe ich keine fünf Minuten. Der reinste Hasenstall.« Sein Bruder Jason seufzte nur. Erklärte ihm nochmals mit ruhiger Stimme, wie der Wohnungsmarkt in Tokio funktionierte. Als wüsste er das nicht. Als sei er der kleine Bruder, der von nichts eine Ahnung hatte. Verfluchte winzige Apartments. Verfluchte chaotische Stadt. Wusste der Teufel, warum Tokio der absolute Traum so vieler junger Menschen aus der ganzen Welt war. Seiner war es auf jeden Fall nicht. Es fühlte sich wie eine Strafe an, eine Verbannung. Was in gewisser Weise auch stimmte. »Nicht mit mir!« Ryan drehte sich um. Wollte aus der Wohnung laufen, theatralisch die Tür zuschlagen – doch Jason hielt ihn zurück. Das sonst so ruhige, freundliche Gesicht seines Bruders wirkte plötzlich hart. »Es ist ja nicht so, als ob du eine Wahl hättest. Wenn ich Dad richtig verstanden habe, ist es das hier oder der Knast.« Einen Moment war Ryan sprachlos. Dann zischte er: »Das hier ist ein verdammter Knast.« Sein Bruder atmete tief ein, dann aus. »Du übertreibst. Ich habe selbst bis vor kurzem hier gewohnt. Die Lage ist ausgezeichnet, um die Stadt zu erkunden. Die Nachbarn sind größtenteils Studenten der Universität von Tokio, sie sprechen fast alle Englisch. Miyako, das Mädchen von gegenüber, ist in deinem Alter und richtig nett. Wenn du dir nur ein bisschen Mühe gibst …« Miyako. Der dumpfe Schmerz pochte weiter wie ein entzündeter Zahn. Er zerknüllte mit zitternden Fingern das Foto und ließ es zu Boden fallen. Ein älterer, gut gekleideter Mann warf ihm im Vorbeilaufen einen bösen Blick zu. »Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Kram, du …« Ryan konnte sich gerade noch fangen. Die Wut stieg erneut in ihm auf wie zähe, glühende Lava. Aber sie durfte nicht an die Oberfläche. Denn dann geschahen Dinge. Dinge, die ihn in Schwierigkeiten brachten. Er durfte sich vorstellen, was er jetzt gerne mit dem Mann gemacht hätte, aber er durfte es auf gar keinen Fall tun. Hier in Japan hatte man keine Wutausbrüche. Man sprach höflich, man verneigte sich, zeigte Ehrfurcht. Vielleicht hatten seine Eltern ja darauf gehofft, als sie ihn ausgerechnet hierher geschickt hatten. Aber das konnten sie vergessen. Der Menschenstrom um ihn herum floss dahin, und er ließ sich mittreiben in Richtung Bahnhof. Ein kleines Teilchen unter vielen. Er fand diesen Gedanken beruhigend und beunruhigend zugleich. Während er lief, hob er seine Hände. Drehte sie, untersuchte sie. Sie fühlten sich irgendwie leicht feucht und klebrig an, doch keine Spur von Rot. Klar, war ja auch nur ein Traum gewesen. Doch das mulmige Gefühl ließ sich nicht abschütteln. So, als stünde ihm eine Prüfung bevor, für die er nicht gelernt hatte. Wenigstens hatte er den Bahnhof fast erreicht. Der Strom der Menschen trug ihn über die riesige Kreuzung, als sein Blick an einer der großen 3D Reklametafel hängen blieb. Eine Sehenswürdigkeit, die es sogar in die CBS Morning Show geschafft hatte. Die gigantische, grau-weiße Katze starrte mit leuchtenden Augen auf ihn herab. Fixierte ihn wie Beute, duckte sich zum Sprung. Obwohl er wusste, dass es sich nur um eine geniale Mischung aus moderner Animation und optischer Illusion handelte, zuckte Ryan zusammen. Lief automatisch schneller. Sie sieht so verdammt...