E-Book, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm
Dalferth Wirkendes Wort
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-374-05650-7
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie
E-Book, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-374-05650-7
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ingolf U. Dalferth, Dr. theol., Dres. h.c., Jahrgang 1948, war von 1995 bis 2013 Ordinarius für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich und von 1998 bis 2012 Direktor des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich. Seit 2007 lehrt er als Danforth Professor of Philosophy of Religion an der Claremont Graduate University in Kalifornien. Dalferth war mehrfach Präsident der Europäischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, von 1999 bis 2008 Gründungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie und 2016/2017 Präsident der Society for the Philosophy of Religion in den USA. Er war Lecturer in Cambridge und Manchester, Fellow am Collegium Helveticum in Zürich sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin und von 2017 bis 2018 Leibniz-Professor in Leipzig. 2005 und 2006 erhielt er die Ehrendoktorwürden der Theologischen Fakultäten von Uppsala und Kopenhagen. Dalferth ist Autor und Herausgeber vieler wichtiger Schriften. Er ist u. a. Hauptherausgeber der 'Theologischen Literaturzeitung' (Leipzig) und der Publikationsreihe 'Religion in Philosophy and Theology' (Tübingen).
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I
DIE KRISE DES SCHRIFTPRINZIPS
Der Streit um die Stellung der Schrift im Leben der Kirche und im Denken der Theologie hat die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts von Anfang an bewegt.22 Erst in den kontroverstheologischen Debatten der Folgezeit hat das zur Ausbildung einer Lehre von der Schrift in den Prolegomena der Dogmatik und zum Konstrukt der Schrift als Erkenntnisprinzip der Dogmatik geführt.23 Diese dogmatische Argumentationsfigur geriet im 18. Jahrhundert im Zuge der sich ausbreitenden historisch-kritischen Bibelforschung der Aufklärung in eine tiefgreifende Krise.24 Im Gegenzug wurde im Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts das Schriftprinzip zum Wesensmerkmal des Protestantismus erklärt, mit dessen Hilfe sich dieser von anderen Gestalten des Christentums, insbesondere von der römisch-katholischen Kirche und Theologie, unterscheiden lasse.25 Dieses Schibboleth des neuzeitlichen Protestantismus wurde im 20. Jahrhundert von theologischer wie von nichttheologischer Seite umfassend kritisiert.26 Seither ist von der Schrift theologisch vor allem mit Verweis auf die Krise des Schriftprinzips die Rede.27 Während die einen daraus eine Dauerkrise des Protestantismus ableiten und die strikte Verabschiedung oder gründliche Revision des Schriftprinzips fordern,28 versuchen andere auf verschiedenen Wegen für eine Zukunft des Schriftprinzips zu argumentieren.29 Beides ist nur dann kein Schritt zurück in die Problemlagen des 19. Jahrhunderts, wenn zugleich die offenen Aufgaben einer theologischen Lehre von der Schrift in Angriff genommen werden. Dabei sind die Unklarheiten vergangener Debatten und Lehrbildungen zu vermeiden, ohne die Bedeutung der Schrift für das Leben der Kirche auszublenden oder zu unterschätzen. Denn dass die Schrift in den christlichen Kirchen aller Traditionen eine zentrale Bedeutung hat, lässt sich kaum bestreiten. Doch wie diese Bedeutung theologisch zu verstehen und zu würdigen ist, ist tiefgreifend strittig.
1 DIE UNKLARE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT KIRCHLICHER REDE VON DER SCHRIFT
Alle christlichen Kirchen gebrauchen und verweisen auf die Schrift. Aber ist auch klar, was sie damit meinen und wovon sie dabei reden? Reden sie von demselben? Diese Fragen lassen sich nicht ohne Weiteres bejahen. Was in offiziellen Dokumenten der evangelischen Kirchen und protestantischen Ökumene mit ‚Schrift‘ gemeint wird, ist erstaunlich unklar. Ich beschränke mich auf vier Beispiele.30
1.1 DIE BASISFORMEL DES ÖKUMENISCHEN RATES DER KIRCHEN
Seit 1961 definiert sich der Ökumenische Rat der Kirchen mit folgender Formel: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“31
Was heißt hier „gemäß der Heiligen Schrift“? Was würde fehlen, wenn nur von der Gemeinschaft der Kirchen die Rede wäre, „die den Herrn Jesus Christus […] als Gott und Heiland bekennen“? So ähnlich lautete der Vorläufer der Basisformel – das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948: „Der Ökumenische Rat der Kirchen setzt sich zusammen aus Kirchen, die Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen.“ Von der Schrift war hier keine Rede. Warum wird in der Basisformel von 1961 ausdrücklich auf die ‚Heilige Schrift‘ verwiesen? Was ist dadurch gewonnen bzw. was ginge verloren, wenn man diesen Zusatz wegließe?
Offenbar wäre die Formel viel laxer. Jesus Christus als Gott bekennen kann man auf viele und keineswegs miteinander zu vereinbarende Weisen. Man kann einen Menschen meinen, der in den Status eines Gottes erhoben wurde. Man kann einen Gott meinen, der dem einen Gott Vater beigeordnet oder subordiniert ist. Man kann von dem reden, der in der Basisformel als Gott der Sohn bezeichnet wird. Man kann dies als den Versuch verstehen, eine Differenz zwischen Vater und Sohn zum Ausdruck zu bringen, oder umgekehrt, die intime Nähe zwischen ihnen zu betonen. Das sind sehr verschiedene Möglichkeiten, die nicht nur in den dogmatischen Auseinandersetzungen der frühen Kirche intensiv umstritten waren. Zudem: Was heißt hier Jesus Christus „als Gott und Heiland bekennen“? Ist gemeint „als einen Gott bekennen“ oder „als den Gott bekennen“? „Soll“, wie Bultmann schon 1951 fragte,32 „mit der Bezeichnung Christi als ‚Gottes‘ seine Natur bezeichnet werden, sein metaphysisches Wesen oder seine Bedeutsamkeit? Hat die Aussage soteriologischen oder kosmologischen Charakter oder beides? Nun, jede der im Ökumenischen Rat vereinigten Kirchen kann es halten, wie sie will.“33
Es liegt nahe, dass 1961 durch den Zusatz „gemäß der Heiligen Schrift“ eben diese vieldeutige Mannigfaltigkeit reduziert, die Aussage also eindeutiger gemacht werden sollte. Doch wird sie das? Was meint denn „Heilige Schrift“ und was heißt es, ihr gemäß Jesus Christus als Gott zu bekennen? Ist mit ‚Heilige Schrift‘ das Neue Testament gemeint, dann wird Jesus Christus ausdrücklich und uneingeschränkt nur an einer Stelle als Gott bekannt, nämlich am Schluss der Thomas-Geschichte (Joh 20,28). Betrachtet man die übrigen Stellen, an denen das angedeutet, vorausgesetzt oder impliziert ist, dann gerät man sogleich wieder in die Vielfalt der christologischen Vorstellungen, der man durch den Hinweis auf die Heilige Schrift doch zu entgehen suchte. Oder werden damit überhaupt keine bestimmten Texte oder Stellen gemeint, sondern die „story“ von Jesus, die diese Texte erzählen, wie Dietrich Ritschl vor Jahren meinte?34 So oder so lässt sich die Heilige Schrift nicht gut als normative Instanz für das Bekenntnis von Jesus Christus als Gott und Heiland anführen, wenn nicht klar ist, wie diese Instanz verstanden werden soll. Das ist ein anderes Problem als die Frage, warum gerade die Schrift als solche normative Instanz in Anspruch genommen wird. Als normative Instanz kann die Heilige Schrift nur fungieren, wenn sich sagen lässt, was es heißt, „gemäß der Heiligen Schrift“ Jesus Christus als Gott und Heiland zu bekennen. Das setzt Klarheit darüber voraus, was unter dem Titel „Heilige Schrift“ als normative Instanz in Anspruch genommen wird. Sonst ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich hinter dieser Zustimmung heischenden Formel letztlich nichts mehr verbirgt als eine verbal kaschierte Konfusion.
1.2 DIE VERFASSUNG DES LUTHERISCHEN WELTBUNDES
Das Problem stellt sich ähnlich in der Verfassung des Lutherischen Weltbundes, auch wenn dieser seine Lehrgrundlagen präziser bestimmt:
„Der Lutherische Weltbund bekennt die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes als die alleinige Quelle und Norm seiner Lehre, seines Lebens und seines Dienstes. Er sieht in den drei ökumenischen Glaubensbekenntnissen und in den Bekenntnissen der lutherischen Kirche, insbesondere in der unveränderten Augsburgischen Konfession und in dem Kleinen Katechismus Martin Luthers eine zutreffende Auslegung des Wortes Gottes.“35
Die Heilige Schrift wird jetzt präziser als Altes und Neues Testament bestimmt – nicht als die Schriften des Alten Testaments und des Neuen Testaments (was ganz irreführend wäre), sondern als die eine Schrift des Alten und Neuen Testaments (was allein den Kanon der Kirche angemessen bezeichnet). Es werden sogar Aussagen über den so gekennzeichneten Gegenstand gemacht, die auf Lehrsätze über die Schrift hinauslaufen: Sie wird als „die alleinige Quelle und Norm“ aller Lehre und des ganzen Lebens und Handelns des Weltbundes bekannt. In der früheren Version dieses Verfassungsartikels von 1947 hieß es noch: „Der Lutherische Weltbund erkennt die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes als die alleinige Quelle und unfehlbare Norm aller Lehre und allen Handelns der Kirche an“36.
Drei Punkte fallen am neuen Text auf. Zum einen wird in der geltenden Fassung des Artikels nicht mehr von der Unfehlbarkeit der Norm der Heiligen Schrift gesprochen. Zwar wird nicht gesagt, dass sie das nicht wäre, aber es wird auch nicht mehr zum Thema gemacht. Zum anderen wird auch nicht mehr nahegelegt, dass der Lutherische Weltbund selbst Kirche sei. Zwar wird das auch nicht bestritten, aber es wird jetzt ausschließlich von der Lehre, dem Leben und dem Dienst des Weltbundes gesprochen. Zum dritten wird nicht mehr von der Anerkennung der Heiligen Schrift als alleiniger Quelle und Norm gesprochen, sondern vom Bekenntnis dazu.
An dieser letzten Änderung sind zwei Dinge hervorzuheben. Auf der einen Seite wird durch die Rede vom Bekennen eher noch verstärkt, was mit der Rede vom Anerkennen zum Ausdruck gebracht worden war: dass die Heilige Schrift eine der Kirche vorgegebene Quelle und normative Instanz darstellt, zu der sich die Kirche nur bekennen, die sie aber nicht selbst setzen oder hervorbringen kann. Die Heilige Schrift verdankt sich nicht der Kirche, sondern ist ihr als Quelle und Norm vorgegeben....