Dalembert | Jenseits der See | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 145 Seiten

Dalembert Jenseits der See


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95988-061-9
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 145 Seiten

ISBN: 978-3-95988-061-9
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Eine Insel auf der anderen Seite des Ozeans, wo Abschied, Exil und Flucht allgegenwärtig sind. »Jenseits der See« erzählt von der langen Wanderung des haitianischen Volkes von den Sklavenschiffen bis zu den Kanus der Boatpeople. Eine haitianische Familiensaga über drei Generationen. Bleiben oder gehen, freiwillig oder gezwungen, diese Fragen variiert Louis-Philippe Dalembert in seinem »packenden, aber alles andere als leichtverdaulichen Roman« (Gaby Mayr, SWR2) virtuos aus dem Blickwinkel der Hauptfiguren. »Für mich ist Dalembert die literarische Entdeckung der letzten Jahre. [...] ?Jenseits der See? verlangt den Leser/innen einiges ab. Aber es lohnt sich!« Gert Eisenbürger, ila »Jenseits der See« - Platz 5 der litprom-Bestenliste Weltempfänger 2/2009.

Louis-Philippe Dalembert, Lyriker, Romanautor, Literaturwissenschaftler und Journalist, wurde 1962 in Port-au-Prince geboren, hat die ersten 25 Jahre seines Lebens in Haiti verbracht und durchstreift seither nach eigener Aussage als Vagabund die Welt. (Nord- und Südamerika, Karibik, Afrika, Europa, den Nahen und Mittleren Osten). Er lebt heute zwischen Paris, Rom und Port-au-Prince. Seine Bücher, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden, liegen nun endlich auch auf Deutsch vor.

Dalembert Jenseits der See jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


GRANNIES ERZÄHLUNG
I
Lange habe ich davon geträumt, den Ozean zu überqueren, so wie man mit einem Schritt über eine Pfütze steigt, um zu sehen, wo Himmel und Erde zusammenkommen, wo die Wurzeln des Horizonts sind. Ein alter, nunmehr unerreichbarer Jugendtraum ... Jonas dürfte mich nicht hören, sonst wäre wieder ein kräftiger Anschnauzer fällig: »Hör auf, Unsinn zu reden, Grannie.« Dabei hätte jeder andere es schon eingesehen. Das Rad hat sich weitergedreht. Nun wartet eher die andere Seite des Lebens auf mich, und ich nähere mich dem Ufer ohne Bedauern ... Als Kinder wohnten wir in einem Viertel oben auf einem Hügel, einer Art Dach der Stadt und der Welt, von wo ich das geringste Kräuseln des Ozeans verfolgen konnte, bevor die Siedlungen aus Pappe, rostigem Blech und Schlamm den Blick auf die Landschaft versperrt haben. Den Hügel bis zu den Hafenkais herunterzurennen, nachdem ich über das elterliche Verbot hinweggehüpft war und mich zwischen den Kutschen und den ersten Autos hindurchgeschlängelt hatte, war ein Kinderspiel, gefährlich nur durch die allzu oft in Erfüllung gegangene Aussicht auf eine Abreibung nach der Rückkehr. Kaum hatte ich, noch ganz außer Atem vom Aufstieg, die Galerie betreten, als eine Hand mich packte und mich den Preis für meine Eskapade in bar entrichten ließ. Aber während Maman Lorvanna zuhaute, mehr aus Gewohnheit als in der Überzeugung, mir mein Laster austreiben zu können, und sich mein Körper zum Schein vor Schmerzen krümmte, damit sie aufhörte, mich für eine Trommel zu halten, flog mein Geist tausend Meilen weit weg, fortgetragen von einem Vers, den meine Klassenkameraden und ich uns auf dem Schulhof ausgedacht hatten, um die Verbote der Erwachsenen herauszufordern. Man musste ihn nur im Geiste, manchmal, aus Provokation, auch hörbar vor sich hinsingen, und man war unempfindlich gegen die Strafe und bereit, seine Missetat zu wiederholen:   Kale m, kale m, kale m Kò m se zèb, la pouse.*   Und so war ich oft an den Kais, um beim Auslaufen und bei der Ankunft der Frachter zuzusehen. Gleichgültig gegen das Hin und Her der unter den Zucker-, Kaffee- und Kakaosäcken schwitzenden und stöhnenden Schauerleute. Allenfalls abgelenkt durch das Gedränge der Leute, die im Sonntagsstaat auf der Plattform versammelt waren, die einen, weil sie einen Verwandten erwarteten, die anderen, um unter Schluchzen oder mit unbeweglicher Miene, ihren Kummer verdrängend, einem Angehörigen gute Reise zu wünschen. Ich lauerte mit steigender Erregung auf die ersten ankommenden Reisenden – aber die Abreisenden interessierten mich ehrlich gesagt genauso. Ich hätte sie am liebsten angesprochen, sie gefragt, was sie von dort mitgebracht hatten. Von jenseits des Horizonts. Nicht die äußeren Zeichen der großen Überfahrt, die so mancher Angeber zur Schau stellte, um seine Nachbarn neidisch zu machen. Solcher Firlefanz hat mich nie interessiert. Ich hätte gern gehabt, dass sie mir von ihren Erfahrungen erzählten, mir sagten, welche Unterschiede sie vorgefunden hatten, das süße Nichtverstehen der neuen Sprachen, die Blumen, die Bäume, den Schnee ... alles, was Dortdrüben so schön machte. Dieses halb heimliche Verkehren an den Hafenkais war wie eine Sparbüchse, in die ich den ganzen Schatz meiner Phantasie warf. Ein mit dem fieberhaften Eifer und der Ausdauer des Sammlers hier und dort zusammengelesener Schatz. Meiner Neugier entging keine Information. Außer alten, halb zerrissenen Illustrierten, die mir unter ich weiß nicht mehr welchen Umständen in die Hände fielen und die ich mit dem langsamen Appetit des zum Tode Verurteilten verschlang, versäumte ich nicht eine Geographiestunde. Ich war so zum Liebling der Lehrer geworden, die mir manches Mal beim Aufsagen der Lektionen das Ruder überließen. Heute könnte ich nur schwer sagen, wie diese andere Seite der Welt aussah, von der ich träumte. Es gab so viele davon, so, so, so viele. Eine immer verschiedener als die andere. Das hing von meinen momentanen Launen ab. Davon, wie das Wetter gerade war: Mal trotzten die Schiffe dem wildesten Orkan, mal glitten sie wie Schwäne über einen ölglatten Ozean. Von dem, was ich von den Unterhaltungen in meiner Umgebung mitbekam: Ein aufgeschnapptes Wort, und meine Phantasie begann auf vollen Touren zu arbeiten und die fernen Länder mit all den verrückten Einfällen meiner Kleinmädchenträumereien zu bevölkern. Woraus bestand der Amazonasregenwald meiner Kindheit? Welche fantastischen Wesen bevölkerten ihn? Die Wanderdünen der Sahara, das Gelobte Land, das große Australien, in dem Heerscharen von Kängurus umherhüpften ...   »Eines Tages wirst auch du in deinen Wachträumen verschwinden, ohne dass du darauf gefasst bist.« Dieser Satz war von Hermanos, einem meiner vier Brüder, Zwillingsbruder von Jacques-Antoine, jünger als Diogène und Pétion. Er war eifersüchtig darauf, dass er meinen geheimen Garten nicht betreten konnte. Es ärgerte ihn, dass ich beide Torflügel verschloss und wegging, einfach so, ohne zu wissen, bis wohin ich trieb. Aber ich machte mir nichts daraus, zumal ich Hermanos mochte, sehr sogar. Und da das Verbot, in meine Träume einzudringen, nicht nur ihn traf, schiffte ich mich weiter zu noch ferneren Ufern ein, über die ich mich als Allererste wunderte. Komisch, ich empfinde dasselbe seltsame Gefühl, wenn ich all diese Erinnerungen tief unten in meinem Gedächtnis zurückverfolge. Ein Gefühl, verstehe, wer will, das erschreckend und lustvoll zugleich ist. So, wie wenn ich hörte, wie vom Schiff das Ablegesignal aufstieg, die Luft zerriss und dem Pöbel Schweigen gebot. Alles schien zu erstarren: die Hufschläge der Pferde auf dem Pflaster, das Treiben der Hafenarbeiter, der krakeelende Flug der Möwen, die unentschlossenen Arabesken der Wolken, das Lachen und das Weinen, und ließ den ohrenbetäubenden Schall die ganze Welt der Dinge in Besitz nehmen. Nur das schnarchende Geräusch, das das Leben der Zuckerarbeiter regelte und aus dem rauchenden Maul des riesigen Fabrikschornsteins zu kommen schien, hatte eine ebenso lähmende Kraft. Und während weiße Taschentücher an den Armen flatterten und das rege Leben nach der ersten Betäubung schüchtern wiedereinzusetzen versuchte, sah ich auf meinen Wolken, wie sich das Schiff in ohrenbetäubendem Gurgeln von der Landungsbrücke losriss, sich entfernte, mit dem Sandkorn am Horizont verschmolz und dann meinen Augen entschwand, welche so bestürzt dreinblickten, als hätte es die Liebe meines Lebens mit sich genommen. Inzwischen hatten Schaulustige und Begleiter die Kais verlassen. Es waren nur noch einige Schauerleute übrig, die sich mit einem Gummischlauch duschten, und, frisch eingetroffen, Garköchinnen, die ihren Krimskrams auspackten, die Auslage für ihre frittierten Speisen aufbauten und ihrerseits ihren Arbeitstag begannen. Bald würden die paar Straßenlaternen, die die Stadt als Ersatz für die Öllampen angeschafft hatte, angehen und die Straße einer Fauna überlassen, die meinem jugendlichen Alter unbekannt war. Diese Manöver, ausgeführt mit dem Abstand der Gewohnheit, brachten mich unvermittelt auf die Erde zurück: Es war Zeit, die Beine in die Hand zu nehmen und mich wieder auf den Heimweg zu machen. Bei der Rückkehr brachte ich in meinem Blick all das Jenseitige mit, das das Auslaufen des Schiffes suggerierte. Dann sah Hermanos mich erzürnt an: »Du wirst schon sehen, am Ende wirst du in deinen Träumen verschwinden, du Dummchen, und niemand wird dich zurückholen können.« Nur Diogène hatte die Gabe, mich zum Narren zu halten, wenn ihm danach war. Er brauchte nur zu sagen: »Ein neues Schiff ist im Hafen angekommen, eins, das du noch nie gesehen hast«, und ohne Rücksicht darauf, ob Maman Lorvanna da war oder nicht, schoss ich davon und war sogar schneller als der Wind. Für gewöhnlich bemerkte ich, wenn ich erst einmal dort war, dass es sich um einen alten Frachter handelte, den ich mit einem Blick vom Hügel hinunter hätte identifizieren können. Und während ich heimlich zurückkehrte, ganz außer Atem von dem eiligen Hin- und Rückweg, lachte er los: »Hast du das new boat gesehen?« Auch wenn ich mir schwor, dass ich mich von ihm nicht mehr hereinlegen lassen würde, seine Tücke und die Neugier siegten jedes Mal über meinen Vorsatz. Das einzige Mal, dass es mir gelang, nicht nachzugeben, goss es in Strömen, so dass ich einen guten Vorwand hatte, nicht rauszurennen und dann klatschnass zurückzukehren, für nichts und wieder nichts obendrein. Prompt verpasste ich die Gelegenheit, einen exakten Nachbau der Titanic zu sehen. Das Schiff, das in der Bucht vor Anker lag, gehörte einem deutschen Milliardär, der von Hafen zu Hafen rund um die Welt reiste. Seither geriet ich jedes Mal außer Fassung, wenn Diogène sein new boat ausgesprochen hatte. So kam ich zu dem Spitznamen, aus dem die Leute hier »Noubòt« machten. Im Laufe der Zeit löste mein Enkel Jonas meine beiden Brüder ab, er ist es nun, der mich mit einem »Wovon träumst du wieder, ti-Grannie?« aus meinen Grübeleien reißt. Ein Glück, dass Gott mir den gegeben hat. * das große schiff ist da und wartet auf sie die herde zieht ihm entgegen hunderte von tieren durchqueren eines nach dem anderen mit ausdruckslosem gesicht den engen korridor der hineinführt ohne zu verstehen wie ihnen geschieht der durchgang verengt sich an der verzweigung zwischen dem landungssteg und dem rumpf er ist nicht breiter als die schultern des kleinsten von ihnen die kräftigsten müssen schräg vorwärts gehen ein fußtritt oder ein kolbenhieb an die schulterblätter hilft bei...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.