E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Dahl Misterioso
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-492-95170-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Reihe: A-Team (Paul Hjelm und Kerstin Holm)
ISBN: 978-3-492-95170-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2
Paul Hjelm ging durch den Kopf, wie lange er nicht mehr in einem Streifenwagen mit Blaulicht und heulender Sirene gesessen hatte. Er saß auf der Rückbank, eingezwängt zwischen zwei uniformierten Polizisten und einem Kripobeamten in Zivil. Als der Wagen in einem heftigen Linksschwenk auf den Botkyrkaleden Reifengummi verbrannte, beugte er sich vor und legte dem Fahrer eine Hand auf die Schulter.
»Es wäre vielleicht besser, die Sirenen auszuschalten«, sagte er leise.
Der Fahrer streckte die Hand nach dem Knopf aus, aber still wurde es deswegen noch lange nicht; die quietschenden Reifen und der heulende Motor sorgten für einen gleichbleibenden Lärmpegel.
Hjelm beobachtete seinen Kollegen in Zivil. Svante Ernstsson hielt sich krampfhaft an einer Schlaufe fest, die von der Decke herunterhing. Baumeln in modernen Polizeiwagen tatsächlich noch Handschlaufen? dachte Paul Hjelm – und gleichzeitig ging ihm auf, daß diese Frage jetzt irgendwie unangebracht war.
Dann dachte er, daß er in letzter Zeit häufiger unangebrachte Sachen dachte.
Es war knapp einen Monat her, daß Svante Ernstsson nach einer absurden Verfolgungsjagd durch Fittja auf dem Tegelängsvägen unbeschadet aus einem total demolierten Einsatzwagen gestiegen war. Er lachte unsicher, als der Wagen an der Ausfahrt nach Fittja vorbei über die stark befahrene Autobahn preschte, bevor er sich in Höhe von Slagsta in die langgezogene Linkskurve legte und über die Kreuzung raste. Rechts ging es in den Tegelängsvägen, Svante Ernstssons starrer Blick war stur nach links gerichtet. Danach entspannte er sich ein wenig.
Hjelm konnte sich lebhaft vorstellen, was in Ernstsson vorging. Nach fast siebenjähriger enger Zusammenarbeit in einem der härtesten Polizeidistrikte des Landes kannten sie einander in- und auswendig. Dabei war ihm klar, daß sie im Grunde genommen herzlich wenig voneinander wußten.
Hjelm fühlte sich vollkommen leer. Darum hatte er sich auch von der Angst seines Kollegen anstecken lassen. Um sich selbst einen Moment lang zu entfliehen.
Der Tag hatte erdenklich dämlich begonnen. Es war stickig gewesen im Schlafzimmer, die frühe Morgensonne hatte auf den Jalousien gestanden und den Mief noch aufgeheizt. Er war näher an Cilla herangerückt, die aber, als sie seine Erregung spürte, ein Stück von ihm weggerutscht war. Er hatte es nicht gemerkt, nicht merken wollen, war in seiner hartnäckig pochenden Geilheit weiter hinter ihr her gerobbt. Und sie war weiter von ihm weggerutscht, bis sie die Bettkante erreichte und aus dem Bett fiel. Er war hochgefahren, auf einen Schlag hellwach, und abrupt erschlafft. Sie hatte sich langsam aufgerappelt, kopfschüttelnd, wortlos wütend. Dann hatte sie eine Hand in den Slip geschoben, eine blutige Binde herausgezogen und sie ihm vor die Nase gehalten, worauf er angeekelt und entschuldigend zugleich das Gesicht verzogen hatte. In dem Augenblick hatten sie Dannes vierzehnjährig-pickeliges und völlig entgeistertes Gesicht in der Tür entdeckt. Im nächsten Moment war er davongestürzt. Seine Zimmertür krachte, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Public Enemy rappte in voller Lautstärke los. Hjelm und Cilla tauschten kurze Blicke. Plötzlich waren sie in einem wirren Schuldgefühl wieder vereint. Cilla lief über den Flur, aber ihr Klopfen an Dannes Tür war aussichtslos.
Wenig später saßen sie am Frühstückstisch.
Tova und Danne waren schon in der Schule. Danne hatte weder gefrühstückt noch ein Wort gesagt, keinen von ihnen auch nur eines Blickes gewürdigt.
Es sah aus, als spräche Cilla Hjelm mit den Spatzen auf dem Vogeltisch draußen vorm Fenster ihres Reihenhauses: »Du bist bei zwei Geburten dabeigewesen. Wie zum Teufel kann es angehen, daß du dich immer noch vor den weiblichen Körperfunktionen ekelst?« Er war vollkommen leer. Der Wagen ließ Slagstas Kleingartenkolonie rechts und die Brunnaschule links liegen und erreichte kurz darauf den Tomtbergavägen, der den schwer definierbaren Grenzbereich (mit fast vierhundert Hausnummern) zwischen Hallunda und Norsborg wie ein überdimensionales Hufeisen einrahmte. Dann bog der Wagen scharf nach links ins Zentrum von Hallunda ab; einen Augenblick lang hatte Hjelm Svante Ernstsson auf dem Schoß. Sie tauschten müde Blicke und sahen die kurzen, aber dichtbesiedelten Sackgassen Lindvägen, Kornvägen, Hampvägen, Havrevägen vor dem Fenster vorbeiziehen, die brutale Phantasielosigkeit der hohen, gleichförmigen Sechziger- und Siebziger-Jahre-Klötze. Nährboden, dachte Paul Hjelm, ohne genau zu wissen, wie er darauf kam.
Auf dem Marktplatz standen drei Polizeiwagen mit offenen Türen, hinter denen ein paar Uniformierte mit gezogenen Dienstwaffen kauerten und in völlig verschiedene Richtungen zielten. Weitere Polizisten waren damit beschäftigt, Schaulustige, Mütter mit Kinderwagen und Hundebesitzer zu verscheuchen.
Sie hielten neben den anderen Polizeiwagen. Die beiden Polizisten stiegen sofort aus und eilten ihren Kollegen zu Hilfe. Es ging um die »Evakuierung des Bereichs«, so hieß es zumindest später in den Akten. Hjelm saß noch halb im Auto, als Ernstsson bereits auf dem Weg zum nächsten Wagen war, aus dem sich Johan Bringmans schlaffe Gestalt zwängte und träge den Rücken streckte.
»Die Ausländerbehörde«, sagte er mitten im Strecken. »Drei Geiseln.«
»Okay, was wissen wir?« fragte Ernstsson, aus höchsten Höhen auf Bringmans krummen Rücken herabblickend, und knöpfte angesichts der Spätwintersonne seine Lederjacke auf.
»Schrotflinte, zweiter Stock. Der größte Teil des Gebäudes ist geräumt. Wir warten auf die Spezialeinheit.«
»Aus Kungsholmen?« fragte Hjelm. »Das kann dauern. Hast du gesehen, was für ein Verkehr auf der E 4 ist?«
»Wo steckt Bruun?« fragte Ernstsson.
Bringman zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wartet wahrscheinlich auf die Promis, denke ich mir. Na, egal, eine Angestellte aus dem Büro hat es nach draußen geschafft. Kommen Sie doch mal her, Johanna, ja genau. Das ist Johanna Nilsson, sie arbeitet da drinnen.«
Eine blonde Frau in den Vierzigern stieg aus dem Polizeiwagen und blieb vor Ernstsson stehen, eine Hand an der Stirn, während sie an den Nägeln der anderen kaute. Svante Ernstsson legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte beschwichtigend: »Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben. Wir werden das schon regeln. Kennen Sie den Mann?«
»Er heißt Dritëro Frakulla«, sagte Johanna Nilsson mit brüchiger Stimme. »Kosovoalbaner. Die Familie lebt schon eine ganze Weile hier. Jetzt sind sie in den allgemeinen Ausweisungsstrudel geraten. Sie dachten, es wäre alles geklärt, haben nur noch auf die positive Nachricht gewartet, und dann kam genau der gegenteilige Bescheid. Da ist ihm die Sicherung durchgebrannt, nehme ich an. Der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Ich weiß, wie das ist.«
»Kennen Sie ihn näher?«
»Ihn kennen? Mein Gott, er ist ein Freund von mir! Ich habe ihn betreut. Ich kenne seine Kinder, seine Frau, alle seine verdammten Katzen. Wahrscheinlich gilt das Ganze mir. Er ist ein zurückhaltender Mann, der keiner Fliege was zuleide tut. Ich hab ihn angelogen.« Sie wurde lauter: »Ohne es zu wollen, habe ich ihn die ganze Zeit angelogen, verdammt! Die Gesetze ändern sich alle naselang. Wie sollen wir unsere Arbeit gut machen, wenn sich alles, was wir sagen, am laufenden Band in Lügen verwandelt?«
Paul Hjelm erhob sich schwerfällig. Er zog die dicke Jeansjacke mit dem Fellkragen aus, schnallte das Schulterhalfter ab und warf es ins Auto, schob die Dienstpistole hinten in den Hosenbund und zog die Jacke wieder an.
Er war vollkommen leer.
»Was zum Teufel hast du vor?« fragten Svante Ernstsson und Johan Bringman im Chor.
»Ich geh jetzt da rein.«
»Die Spezialeinheit kann jeden Augenblick hier sein, verflucht noch mal!« rief Ernstsson ihm nach, als er den Tomtbergavägen überquerte. Er rannte hinter ihm her und packte ihn am Arm. »Warte, Pålle, mach jetzt keine Dummheiten. Bring dich nicht unnötig in Gefahr. Überlaß das den Experten.«
Ihre Blicke kreuzten sich. Er sah die leere Entschlossenheit in Hjelms Augen und ließ ihn los.
Wir kennen einander viel zu gut, dachte er und nickte.
Paul Hjelm schlich vorsichtig die Treppen zur Ausländerbehörde hoch. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Die Luft in dem geräumten Gebäude stand still. Um ihn herum purer Beton. Beton mit einem dicken, kunststoffartigen Anstrich, der trotz halbherziger Dekorationsversuche in Gestalt zufällig hingeklatschter Farbspritzer grau wirkte. Es roch nach Urin, Schweiß und Alkohol, und die wie Wüstenluft flimmernde Hitze verstärkte den Gestank noch. Der Duft Schwedens, dachte er.
Es war Ende der Neunziger.
Er schob sich durch den leeren tristen Korridor bis vor eine geschlossene Tür. Holte einmal tief Luft und rief: »Frakulla!«
Es herrschte absolute Stille. Um gar nicht erst ins Grübeln zu geraten, redete er einfach weiter: »Ich heiße Paul Hjelm und bin Polizist. Ich bin allein hier und unbewaffnet. Ich will nur mit Ihnen reden.«
Hinter der Tür tat sich etwas. Dann sagte eine tiefe Stimme fast unhörbar: »Kommen Sie rein!«
Er holte noch einmal tief Luft und öffnete die Tür.
Auf dem Fußboden des Büros saßen zwei Frauen und ein Mann mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. Daneben, vor einer fensterlosen Wand, stand ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einem braunen Anzug mit Weste, Schlips und Schrotflinte. Letztere war auf Paul Hjelms Nasenlöcher gerichtet.
Hjelm schloß die Tür hinter sich und hob die Arme.
»Ich weiß, was passiert ist, Frakulla«, sagte er, so ruhig er nur konnte. »Wir müssen versuchen, aus dieser Situation...