E-Book, Deutsch, 299 Seiten
Dagerman Gebranntes Kind
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-945370-64-3
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 299 Seiten
ISBN: 978-3-945370-64-3
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stig Dagerman (1923-1954) wurde in Älvkarleby nördlich von Uppsala als Sohn eines Sprengmeisters und einer Telefonistin geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern väterlicherseits auf dem Land auf, bis er 1931 zu seinem Vater nach Stockholm zog. 1940 wurde sein Großvater von einem Psychopathen erstochen, eine »Wahnsinnstat«, die ihm lebenslang nachging - zumal kurz darauf ein Freund bei einem gemeinsamen Bergurlaub in einem Lawinenunglück ums Leben kam. Dagerman arbeitete nach seinem Abitur für die anarchosyndikalistische Zeitung »Arbetaren« und debütierte 1945 mit dem Roman »Die Schlange«. Die kommenden Jahre waren geprägt von exzessiven Schreibphasen und einem kometenhaften Aufstieg, aber auch von Schreibblockaden, schweren Depressionen und existenziellen Krisen. 1943 heiratete er die deutsche Geflüchtete Annemarie Götze, mit der er zwei Söhne hatte und über deren Familie er Zugang zu Deutschland fand. Nach dem Scheitern der Ehe heiratete Dagerman 1953 die bekannte Schauspielerin Anita Björk, mit der er eine Tochter hatte. Mit gerade 31 Jahren nahm er sich 1954 das Leben.
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EINE KERZE AUSPUSTEN
Eine Ehefrau soll um zwei Uhr beerdigt werden, und um halb zwölf steht der Ehemann in der Küche vor dem gesprungenen Spiegel über dem Spülbecken. Lange geweint hat er nicht, aber er hat lange wachgelegen, und die Augäpfel sind rot. Das Hemd ist weiß und blütenrein, und die Hose dampft nach dem Bügeln schwach. Während seine jüngste Schwester den harten weißen Kragen hinten am Hals einhakt und danach die weiße Fliege so sanft über die Kehle streift, dass es einer Zärtlichkeit gleicht, lehnt der Witwer sich über das Becken und sieht sich aufdringlich in seine Augen. Dann streicht er über sie, als wollte er eine Träne wegwischen, aber der Handrücken bleibt trocken. Die jüngste Schwester, die seine schöne Schwester ist, hält die Hand unter seiner Kehle still. Weiß wie Schnee glänzt die Fliege auf der roten Haut. Verstohlen streichelt er ihre Hand. Die schöne Schwester ist die Schwester, die er liebt. Wer schön ist, den liebt er. Seine Frau war hässlich und krank. Deshalb hat er nicht geweint.
Die hässliche Schwester steht am Herd. Dort zischt Gas. Der Deckel des glänzenden Kaffeekessels hüpft auf und ab. Mit roten Fingern sucht sie unter den Gashähnen, um es abzudrehen. Zwölf Jahren lebt sie schon in der Stadt, hat aber noch nicht gelernt, die richtigen Hähne zu finden. Sie trägt eine Brille mit schwarzen Bügeln, und wenn sie jemandem in die Augen sehen will, beugt sie sich weit vor und glotzt in einer Weise, wie man es hier nicht tut. Endlich findet sie den richtigen Hahn und dreht ihn ab.
»Trägt man zur Beerdigung eine weiße Fliege …?«
Es ist die schöne Schwester, die das fragt. Der Witwer fingert an den Manschettenknöpfen herum. Er trägt überlange schwarze Schuhe, und als er sich plötzlich auf die Zehenspitzen stellt, knirschen sie kurz. Aber die hässliche Schwester fährt hastig herum, als würde sie von jemandem angegriffen.
»Zur Beerdigung eine weiße …! Das weiß ich seit der vom Konsul …!«
Dann kneift sie den Mund zu. Ihre Augen blinzeln hinter der Brille, als fürchteten sie sich. Vielleicht tun sie das auch. Sie weiß alles über Beerdigungen. Dagegen kaum etwas über Hochzeiten. Die schöne Schwester lächelt und fährt fort, anzuprobieren und zu streicheln. Die hässliche stellt eine Vase mit weißen Trauerblumen vom Tisch auf den Spültisch. Der Witwer blickt erneut in den Spiegel und merkt auf einmal, dass er lächelt. Er schließt die Augen und atmet den Duft der Küche ein. So weit seine Erinnerungen zurückreichen, riechen Beerdigungen nach Kaffee und verschwitzten Schwestern.
Es ist jedoch auch eine Mutter, die beerdigt werden soll, und der Sohn ist zwanzig und nichts. Jetzt steht er in dem Zimmer, das voller Menschen ist, allein unter der Deckenlampe. Seine Augen sind leicht geschwollen. Er hat sie nach den Tränen der Nacht mit Wasser gekühlt und glaubt, es wäre nichts zu sehen. In Wahrheit ist aber alles zu sehen, und deshalb haben die Trauergäste ihn allein gelassen. Nicht aus Rücksicht, sondern aus Furcht, denn die Welt fürchtet den, der weint.
Eine Weile steht er vollkommen still, nestelt nicht einmal an seinen Manschetten herum, zieht nicht einmal am Trauerflor. Die goldene Pendeluhr, das Geschenk zum Fünfzigsten, schlägt schwach, ganz schwach ein Mal. An den Fenstern stehen die Gäste und reden. Sie haben Trauerflor in den Stimmen, aber einer aus der Verwandtschaft des Vaters klopft mit den Knöcheln auf dem Fensterbrett einen Marsch. Es sind harte Knöchel, und er wünschte, sie würden verstummen. Sie verstummen jedoch nicht. Dann dreht einer der vom Land Angereisten am Radio, obwohl es noch keine zwölf Uhr ist. Es brummt und brummt, aber fürs Erste kommt keiner auf die Idee, es wieder auszuschalten.
Lautlos fällt das Januarlicht ins Zimmer und schimmert auf allen glänzenden, knarrenden Schuhen. Mitten im Raum, unter der Lampe, ist eine neue, große Leere, und dort steht er allein und sieht und hört alles, obwohl er selbst woanders ist. Bevor seine Mutter starb und er allein zurückblieb, stand dort ein langer Tisch aus Eichenholz, doch dieser Tisch steht nun am Fenster. Eine weiße Decke ist über ihn gebreitet worden, und auf der Decke stehen Gläser und Karaffen mit dunklem Wein und fünfzehn zerbrechliche weiße Tassen und eine große braune Torte, die süß ist, aber bitter schmecken soll. Hinter den Karaffen, auf dem eigentlichen Fenstertisch, ist an diesem Tag das Porträt der Mutter in einem schweren schwarzen Rahmen aufgestellt. Es ist von Grün umflochten, dem teuren Grün des Januars. Während der Begräbniskaffee gekocht wird und der Pfarrer sich im Pfarrhof rasiert und die Beerdigungswagen in der Garage aufgetankt werden, versammeln sich die elf Gäste um den Tisch und das Bild der Toten. Es ist ein Jugendporträt, ihre Haare sind dunkel und voll und legen sich schwer über die glatte Stirn. Die Zähne, die zwischen den runden Lippen auftauchen, sind weiß und ohne Karies.
»Da war sie fünfundzwanzig«, sagt einer.
»Sechsundzwanzig«, berichtigt ihn ein anderer.
»Alma war hübsch, als sie jung war.«
»Ja, die Alma war hübsch.«
»Man versteht schon, dass Knut, dass Knut … äh …«
Dann erinnert man sich an den Sohn, der im Zimmer steht und zuhört.
»Schöne Haare hatte sie«, wirft jemand ein. Allzu schnell.
»Zu der Zeit erwartete sie wohl schon das Mädchen.«
»Ach was, sie hatte ein Mädchen …?«
»Sie hätte eins haben sollen. Aber es starb.«
»Als Säugling …?«
»Ein Jahr war es alt. Und dann bekamen sie den Jungen. Aber da waren sie verheiratet.«
Da erinnert man sich erneut an ihn und verstummt diesmal. Jemand zieht ein großes weißes Taschentuch heraus und schnäuzt sich. Jetzt dreht man das Radio ab. Dann tritt man mit kleinen, knirschenden Schritten zur Seite, denn der Kaffee kommt. Die nette Tante, die er mag, weil sie hinter ihrer Brille geweint hat, trägt die Kanne. Sie hält sie hoch und würdevoll wie einen Kerzenständer und schwitzt in ihrem engen schwarzen Kleid. Dahinter kommt die junge Tante. Sie hat schwarze Seidenstrümpfe an, und die Männer im Raum vergessen bei ihrem Anblick den Moment und bemerken, dass sie schöne Beine hat. Einem Blick zuliebe lächelt sie jemanden an. Sie hat nicht geweint.
Als Letzter kommt der Vater. Langsam und mit gesenktem Blick geht er auf den Sohn zu. Alle sind verstummt und haben sich umgedreht. Auch der Mann, der einen Marsch klopfte, ist still. Auch der Vater ist still. Still und allein begegnen sie sich mitten im Raum. Ihre Hände begegnen sich, und ihre Arme begegnen sich. Dann begegnen sich ihre Brustkörbe. Zuletzt begegnen sich ihre Augen. Nicht lange, aber lange genug, dass beide sehen können, wer geweint hat und wessen Augen trocken geblieben sind.
»Weine nicht, mein Junge«, sagt der Vater.
Er hat es leise gesagt, trotzdem haben es alle gehört. Jetzt schluchzt jemand unter den Gästen auf, wenngleich nur kurz. Schuhe knirschen, und einige Kleider rascheln wie Schritte auf Laub. Der Arm des Vaters ist hart wie Stein.
»Weine nicht, mein Junge«, sagt er nochmals.
Da löst sich der Sohn sachte von ihm, der nicht geweint hat. Allein geht er den langen Weg von seinem Platz unter der Lampe zu dem Tisch mit den dampfenden Tassen und randvollen Gläsern. Jemand, der ihm im Weg steht, weicht scheu zur Seite. Ohne zu zittern, nimmt er eine Tasse und gleich darauf ein Glas und dreht sich langsam um.
Der Vater steht noch da. Der harte Arm hängt wie angeschossen an seiner rechten Seite hinab. Sachte senkt er den Kopf und klappt das eine rote Ohr platt nach vorn gegen den Wangenknochen. Doch erst als die Sonne zum Fenster hereinblitzt, erkennt der Sohn, dass die Augen des Vaters auf einmal feucht sind. Da verschüttet er ein paar Tropfen dunklen, bitteren Weins auf den Fußboden zwischen seinen Schuhen.
Bevor die Wagen eintreffen, stehen sie dann verteilt im Raum in Gruppen zusammen. Vier stehen unter der klingenden Pendeluhr und halten Gläser in den Händen. Wenn keiner hinsieht, nippen sie an ihnen. Es sind Leute vom Land, die Verwandten des Witwers, die man nur auf Hochzeiten und Beerdigungen sieht. Ihre Kleider riechen nach Motten. Sie sehen die teure Uhr an. Danach sehen sie einander an. Sie sehen die teure Enzyklopädie an, deren Lederrücken hinter dem Glas des Bücherschranks glänzen. Danach sehen sie einander an und nippen. Plötzlich stehen sie da und flüstern mit Lippen, die von Kaffee und Wein weich sind. Die Tote haben sie nie gemocht.
Unter der Lampe stehen die Schwestern mit den vier Freunden des Vaters zusammen, die sich den Montagvormittag freigenommen haben, um auf die Beerdigung zu...




