Cussler Schockwelle
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15198-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Dirk-Pitt-Roman
E-Book, Deutsch, Band 13, 608 Seiten
Reihe: Dirk Pitt
ISBN: 978-3-641-15198-0
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein »New York Times«-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.
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17. September 1876
Aberdeen, Schottland
Nachdem Scaggs nach England zurückgekehrt und ein kurzes Wiedersehen mit seiner Frau und seinen Kindern gefeiert hatte, bot ihm Carlisle & Dunhill das Kommando über einen ihrer neuesten und schönsten Klipper an, die Culloden, und schickte ihn zum Teehandel gen China. Nach sechs weiteren entbehrungsreichen Fahrten, auf denen er zwei neue Rekorde aufstellte, zog sich Scaggs, müde vom Seemannsleben, mit siebenundvierzig Jahren in sein Cottage nach Aberdeen zurück.
Die Kapitäne der großen Hochseeklipper alterten früh. Sie zollten den Anforderungen, die das Kommando über die schnellsten Schiffe der Welt stellte, ihren Tribut, geistig wie körperlich. Die meisten starben in jungen Jahren. Viele gingen mit ihren Schiffen unter. Sie waren die Besten der Besten, jene legendären Männer aus Eisen, die in der ruhmreichsten Zeit der Seefahrt auf hölzernen Schiffen mit unerhörter Geschwindigkeit die Meere durchpflügten. Sie starben in dem Bewusstsein, dass sie die großartigsten Segelschiffe befehligt hatten, die jemals von Menschenhand gebaut worden waren.
Scaggs, zäh wie die Balken im Bauch seiner Schiffe, schickte sich mit neunundfünfzig Jahren zur letzten großen Reise an. Da er auf den vier Fahrten zuvor sein Geld als Miteigner investiert und somit seinen Anteil am Gewinn der Reederei eingestrichen hatte, hinterließ er seinen Kindern ein beträchtliches Vermögen.
Nachdem Lucy, sein geliebtes Weib, gestorben war und seine Kinder ihrerseits Familien gegründet hatten, lebte er allein. Seine Liebe zur See hatte er sich bewahrt: Auf einer kleinen Ketsch, die er eigenhändig gebaut hatte, segelte er durch die Fjorde und Küstengewässer von Schottland. Nach einer kurzen Fahrt bei bitterkaltem Wetter nach Peterhead, wo er seinen Sohn und seine Enkel besuchen wollte, erkrankte er.
Ein paar Tage vor seinem Tod verlangte er seinen langjährigen Freund und ehemaligen Arbeitgeber Abner Carlisle zu sprechen. Carlisle, ein allseits geachteter Reeder, der gemeinsam mit seinem Kompagnon Alexander Dunhill ein beträchtliches Vermögen angehäuft hatte, war einer der angesehensten Bürger von Aberdeen. Neben der Schifffahrtsgesellschaft besaß er ein Handelskontor und eine Bank. Die Gelder, die er für wohltätige Zwecke stiftete, kamen vor allem der örtlichen Bibliothek und einem Krankenhaus zugute. Carlisle war schlank und drahtig, hatte eine Vollglatze und freundliche Augen. Er hinkte, seit er als junger Mann vom Pferd gestürzt war.
Jenny, die Tochter des Kapitäns, die Carlisle seit ihrer Geburt kannte, ließ ihn ein. Sie schloss ihn kurz in die Arme und ergriff seine Hand.
»Schön, dass Ihr kommt, Abner. Er verlangt alle halbe Stunde nach Euch.«
»Wie geht’s dem alten Seebären?«
»Ich fürchte, seine Tage sind gezählt«, erwiderte sie traurig.
Carlisle blickte sich in dem behaglichen, nach Seemannsart eingerichteten Haus um, ließ den Blick auf den Karten an den Wänden verweilen, auf denen die jeweiligen Tagesleistungen bei Scaggs’ Rekordfahrten abgesteckt waren. »Dieses Haus wird mir fehlen.«
»Meine Brüder meinen, es wäre zum Besten der Familie, wenn wir’s verkaufen.«
Sie brachte Carlisle nach oben und führte ihn durch eine offene Tür in ein Schlafzimmer mit einem großen Fenster, von dem aus man auf den Hafen von Aberdeen blickte. »Vater, Abner Carlisle ist da.«
»Wird auch Zeit«, grummelte Scaggs ungehalten.
Jenny drückte Carlisle einen Kuss auf die Wange. »Ich geh’ uns rasch Tee machen.«
Scaggs sah schlecht aus. Ein alter Mann, gezeichnet vom harten Leben, das er drei Jahrzehnte lang auf See geführt hatte. Aber die funkelnden, grüngrauen Augen, so stellte Carlisle bewundernd fest, leuchteten nach wie vor ungebrochen. »Ich habe ein neues Schiff für dich, Bully.«
»Was du nicht sagst«, krächzte Scraggs. »Was für eine Besegelung?«
»Gar keine. Es ist ein Dampfer.«
Scaggs’ Gesicht lief rot an. Er hob den Kopf. »Gottverdammte Stinkpötte. Man sollte nicht zulassen, dass sie die Meere verschmutzen.«
Auf diese Antwort hatte Carlisle gehofft. Bully Scaggs stand an der Schwelle des Todes, doch er würde sie ebenso unbeugsam überschreiten, wie er gelebt hatte.
»Die Zeiten haben sich geändert, mein Freund. Die Cutty Sark und die Thermopylae sind die einzigen uns bekannten Klipper, die noch auf große Fahrt gehen.«
»Ich hab’ nicht viel Zeit für müßige Plauderei. Ich habe dich hergebeten, weil ich dir auf dem Sterbelager ein Geständnis machen und dich persönlich um einen Gefallen bitten möchte.«
Carlisle schaute Scaggs an und sagte spöttisch: »Hast du etwa einen Betrunkenen verprügelt oder in einem Bordell in Schanghai eine kleine Chinesin flachgelegt, ohne es mir zu beichten?«
»Ich rede von der Gladiator«, grummelte Scaggs. »Ich habe gelogen.«
»Sie ist in einem Taifun gesunken«, versetzte Carlisle. »Was gibt es da zu lügen?«
»Sie ist in einem Taifun gesunken, schon richtig, aber die Passagiere und die Besatzung sind nicht mit ihr untergegangen.«
Carlisle schwieg eine Weile, dann sagte er vorsichtig: »Charles Bully Scaggs, du bist der ehrlichste Mann, dem ich je begegnet bin. In den fünfzig Jahren, die wir uns kennen, hast du niemals auch nur einen Vertrauensbruch begangen. Bist du sicher, dass es nicht die Krankheit ist, die dir jetzt Hirngespinste vorgaukelt?«
»Vertrau mir, wenn ich sage, dass ich achtzehn Jahre mit einer Lüge gelebt habe, um eine Schuld zu begleichen.«
Carlisle musterte ihn neugierig. »Was möchtest du mir erzählen?«
»Eine Geschichte, die ich noch niemandem erzählt habe.« Scaggs ließ sich auf das Kissen zurücksinken und starrte an Carlisle vorbei in die Ferne auf etwas, was nur er sehen konnte. »Die Geschichte vom Floß der Gladiator.«
Jenny kehrte eine halbe Stunde später zurück und brachte den Tee. Es dämmerte inzwischen, und so zündete sie die Petroleumlampen im Schlafzimmer an. »Vater, du musst etwas essen. Ich habe deine Lieblingsfischsuppe gekocht.«
»Ich habe keinen Appetit, Tochter.«
»Abner hat bestimmt Hunger, nachdem er dir den ganzen Nachmittag zugehört hat. Ich wette, er isst etwas.«
»Lass uns noch eine Stunde Zeit«, befahl Scaggs. »Dann kannst du uns bringen, was du willst.«
Sobald sie weg war, fuhr Scaggs mit der Geschichte des Floßes fort.
»Wir waren zu acht, als wir endlich an Land kamen. Von der Besatzung der Gladiator hatten nur ich, Thomas Cochran, der Schiffszimmermann, und Alfred Reed, ein Vollmatrose, überlebt. Dazu die Sträflinge Jess Dorsett, Betsy Fletcher, Marion Adams, George Pryor und John Winkleman. Acht von zweihunderteinunddreißig armen Seelen, die in England losgesegelt sind.«
»Du musst mir vergeben, mein lieber alter Freund«, sagte Carlisle, »wenn ich ungläubig wirke. Männer, die sich mitten auf dem Ozean gegenseitig in Scharen ermorden, Überlebende, die vom Fleisch der Toten zehren und vor einem menschenfressenden Hai gerettet werden, weil die Vorsehung eine Seeschlange schickt, die den Hai verschlingt. Eine wahrhaft wundersame Geschichte.«
»Du hörst hier nicht die Hirngespinste eines Sterbenden«, versicherte Scaggs ihm mit schwacher Stimme. »Der Bericht ist wahr, Wort für Wort.«
Carlisle wollte Scaggs nicht unnötig aufregen. Der wohlhabende Kaufmann tätschelte den Arm des Kapitäns, der einen erklecklichen Teil zum Aufstieg der Großreederei Carlisle & Dunhill beigetragen hatte. »Fahr fort«, ermunterte er ihn. »Ich bin gespannt, wie die Geschichte endet. Was ist geschehen, nachdem ihr das Eiland betreten habt?«
Während der nächsten halben Stunde erzählte Scaggs, wie sie sich an einem Fluss, der von einem der niedrigen Vulkankegel herabströmte, mit köstlichem Süßwasser sattgetrunken hatten. Er schilderte, wie sie in der Lagune große Schildkröten gefangen, auf den Rücken geworfen und mit Dorsetts Messer, ihrem einzigen Werkzeug, geschlachtet hatten. Dann hatten sie mit Hilfe eines harten Steins, den sie am Strand fanden, und ebendieses Messers ein Feuer entfacht und das Schildkrötenfleisch gekocht. Von den Bäumen im Wald pflückten sie fünf verschiedene Sorten tropischer Früchte. Auf der Insel wuchsen eigenartige Pflanzen, ganz anders als die Vegetation, die Scaggs in Australien gesehen hatte. Er berichtete, dass sich die Überlebenden während der nächsten Tage zunächst den Bauch vollgeschlagen hatten, bis sie wieder zu Kräften gekommen waren.
»Als wir uns wieder erholt hatten, schickten wir uns an, das Eiland zu erkunden«, fuhr Scaggs fort. »Es war wie ein Angelhaken geformt. Acht Kilometer lang und knapp anderthalb Kilometer breit. An beiden Spitzen ragten zwei gedrungene Vulkankegel auf, beide etwa dreihundertfünfzig Meter hoch. Die Lagune war etwas über einen Kilometer lang und durch ein breites Riff vor der offenen See geschützt. Ansonsten war die Insel von steilen Klippen gesäumt.«
»War sie verlassen?«, fragte Carlisle.
»Keine Menschenseele haben wir gesehen, auch kein Tier. Nur Vögel. Wir haben Spuren gefunden, die darauf hindeuteten, dass einst Eingeborene die Insel bewohnten, aber offenbar waren sie schon seit langem wieder fort.«
»Überreste von Schiffswracks?«
»Nicht zu der Zeit.«
»Nach den Entbehrungen auf dem Floß muss euch die Insel wie das Paradies vorgekommen sein«, sagte Carlisle.
»Sie war das schönste Eiland, das ich in all meinen Jahren auf See gesehen habe«, bestätigte Scaggs und...




