E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Cury Wanderer in der Zeit
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0916-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8437-0916-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Es sind die Kranken und Schwachen, die Unbekannten in unserer modernen Gesellschaft, die nur zu häufig keine Beachtung finden, aber in denen dennoch bemerkenswerte Träume schlummern. Werden diese wahr, wird plötzlich Kreativität freigesetzt, die für Sinn und Lebensfreude sorgt. In dieser Geschichte begegnet ein buntes Grüppchen Namenloser einem geheimnisvollen Mann, der durch die Straßen der großen Stadt zieht und mit Träumen handelt. Er ist derjenige, der ihren Alltag auf den Kopf stellt und ihnen neue Perspektiven aufzeigt. Er bringt ihnen Wertschätzung entgegen und lehrt sie, dass es nicht viel braucht, um die Welt zu einem menschlichen Ort zu machen. Es braucht nur ein wenig Mut. Bei diesem Buch handelt es sich um ein Lehrstück, das uns in seiner erzählten Form emotional erreicht, nachdenklich macht und gleichzeitig dazu motiviert, bei sich selbst anzufangen. Die Romanform ist ein Schachzug. Denn so gelingt es Cury, Lebenshilfe anschaulich zu vermitteln.
Augusto Jorge Cury, geboren 1958, ist ein brasilianischer Arzt, Psychiater, Psychotherapeut und Autor. Er entwickelte die (sinngemäß: Mehrstärken-Theorie) über die Funktionalität der Psyche und der Gedanken. Allein in Brasilien verkauften sich seine Bücher bisher mehr als 15 Millionen Mal.Im Mittelpunkt seiner Forschungen stehen dabei die Entwicklung einer höheren Lebensqualität sowie die Ausprägung der menschlichen Intelligenz in Bezug auf die Natur, den Aufbau und die Dynamik von Emotionen und Gedanken.Er leitet Forschungsgruppen, auch in Europa (Spanien und Frankreich) und veröffentlicht in mehr als 40 Ländern.
Weitere Infos & Material
Ein umstrittener wie
überraschender Zeitgenosse
Wir lebten in einer Zeit, in welcher die Menschen viel zu vorhersehbar waren – ihnen fehlte es an Kreativität und emotionaler Würze, sie saßen fest im Netz des ewig Gleichen. Schauspieler und andere Künstler des Showbusiness, Politiker, Wissenschaftler, Kirchenleute, leitende Angestellte großer Unternehmen – sie alle waren im Grunde farblos, langweilig und nicht selten unausstehlich. Nicht einmal sie selbst konnten sich ertragen. Ihre Worte und ihr Verhalten wiederholten sich, und ihre Gedanken waren abgedroschen. Weder verzauberten sie das Gefühl noch regten sie den Intellekt an. Sie brauchten die Verpackung durch Marketingstrategien und Medienschminke, um interessant zu scheinen. Aber sogar den Jugendlichen fehlte es an Begeisterung für ihre Ikonen.
Und plötzlich, als wir auf dem Ozean der Langeweile trieben, erschien ein Wellenreiter auf dem Kamm ungeahnt hoher Wellen. Er durchbrach die Gefängnisgitter der Routine und stellte unser Denken auf den Kopf, zumindest das meine und das derjenigen, die ihm zuhörten. Ohne jegliche Marketingstrategie wurde er zum größten soziologischen Phänomen unserer Zeit. Zwar mied er das Scheinwerferlicht und den Furor der Medien, konnte jedoch nicht unbemerkt bleiben oder Gleichgültigkeit gegenüber seinen Gedanken erwarten.
Ohne seine Identität preiszugeben, nannte er sich einen Traumhändler, fegte wie ein Hurrikan mitten durch die Millionenstadt und lud einige Menschen dazu ein, ihm zu folgen. Er war ein Fremder, dem es auf rätselhafte Weise gelang, eine Gefolgschaft von anderen Fremden an sich zu binden. Und das, obwohl er Forderungen stellte:
»Wer mir folgt, muss zunächst seinen Wahnsinn zugeben und sich der eigenen Idiotie stellen.«
Dann hob er die Stimme und verkündete den Passanten auf seinem Weg:
»Selig sind die Durchsichtigen, denn ihnen gehört das Reich der geistigen Gesundheit und Weisheit. Unselig sind diejenigen, die ihre Schwächen unter Kultur, Geld und gesellschaftlichem Prestige verstecken, denn ihnen gehört das Reich der Psychiatrie.«
Dann strich er sich über den Kopf, sah seinen Zuhörern tief in die Augen und sagte zu unserem Entsetzen:
»Aber seien wir ehrlich! Wir sind alle Spezialisten darin, Verstecke zu finden. Wir kriechen in unvorstellbare Löcher, um uns zu verstecken, und verbergen uns sogar unter der Fahne der Ehrlichkeit.«
Dieser Mann scheuchte die Gesellschaft auf. Seine Zuhörer waren sprachlos. Wo er auch vorbeikam, verursachte er Tumult. Wo war er zu Hause? Er wohnte unter Brücken und Viadukten und manchmal in Obdachlosenunterkünften. In diesen Zeiten war es noch nie geschehen, dass ein so verletzlicher Mensch derart direkt auftrat. Er hatte weder eine Krankenversicherung noch irgendeinen sozialen Schutz – ihm fehlte sogar das Geld für seine Mahlzeiten. Er gehörte zu den Verelendeten, war aber furchtlos genug, um zu sagen:
»Ich möchte nicht, dass ihr Streuner werdet wie ich. Wovon ich träume, ist, dass ihr auf dem Gebiet eures eigenen Selbst herumstreunt. Durchquert Landschaften, in die sich bisher erst wenige Intellektuelle getraut haben. Folgt weder Karte noch Kompass, sondern sucht nach euch selbst und verliert euch auch. Betrachtet jeden Tag als neues Kapitel und macht aus jeder Wendung eine ganz neue Geschichte.«
Er kritisierte die Mechanisierung des modernen Homo sapiens, der wie eine Maschine lebte, arbeitete und schlief, ohne über die Geheimnisse der Existenz nachzudenken und darüber, was es bedeutete, ein Sapiens zu sein. Er bewohnte die Oberfläche der Erde, wandelte an der Oberfläche der Existenz und atmete an der Oberfläche des Geistes. Einige Zuhörer protestierten: »Wer ist er, dass er sich mit solcher Dreistigkeit in die Privatsphäre anderer Leute einmischt? Aus welchem Irrenhaus ist er entwichen?«
Andere wiederum entdeckten, dass sie dem Wesentlichen, insbesondere sich selbst, bisher keine Zeit geschenkt hatten.
Nur eine kleine Gruppe engster Freunde schlief, wo er schlief, und lebte, wie er lebte. Ich, der Schreiber dieser Geschichte, war unter ihnen. Diejenigen, die mit ihm in Kontakt kamen, hatten das Gefühl, in einen surrealen Film geraten zu sein.
Woher dieser Mann kam, war ein Geheimnis, sogar für seine Jünger. Wenn er gefragt wurde, wer er sei, sagte er immer dasselbe:
»Ich bin ein Wanderer in der Zeit, auf der Suche nach mir selbst.«
Er war völlig mittellos, besaß aber mehr als jeder Millionär. Sein riesiges Wohnzimmer war weitläufig, licht und luftig: die Bänke in einem Park, die Freitreppe vor einem Gebäude, der Schatten unter einem großen Baum. Seine Gärten durchzogen die gesamte Stadt. Er betrachtete sie mit leuchtenden Augen wie die Hängenden Gärten von Babylon, so als seien sie nur zu seiner Freude angelegt. Aus jeder Blume machte er ein Gedicht, jedes Blatt führte ihn zum Quell der Empfindsamkeit, und jeder Baumstumpf verlieh seiner Fantasie Flügel.
»Morgen- und Abendröte ziehen nicht einfach vorüber, sondern laden mich dazu ein, mich zu sammeln und über meine Einfalt nachzudenken«, sagte der Traumhändler. Sein Verhalten war genau das Gegenteil dessen, was wir gewöhnt waren. Viele liebten das Eigenlob, er aber zog es vor, über seine Winzigkeit zu sinnieren.
Nach einer unbequemen Nacht im Gestank unter einer Brücke breitete er die Arme aus, atmete mehrmals tief ein und aus und ließ sich von den ersten Sonnenstrahlen durchfluten.
Nachdem er eine Weile in sich versunken gegrübelt hatte, begab er sich in den Zentralbereich einer nahe gelegenen Hochschule und wandte sich mit lauter Stimme an die anwesenden Studenten:
»Wir genießen Bewegungs-, aber keine Denkfreiheit. Unsere Gedanken und Entscheidungen sind begrenzt auf den schmalen Saum unserer Hirnrinde. Wie können wir frei sein, wenn wir zwar unseren Körper mit Kleidung schützen, aber unsere Psyche nackt ist? Wie können wir frei sein, wenn wir die Gegenwart mit der Zukunft vergiften, wenn wir bereits im Voraus leiden und der Gegenwart das Recht stehlen, sich am Quell von Ruhe und Frieden zu laben?«
Einmal kamen drei Psychiater an ihm vorbei und hörten ihn sprechen. Während einer von ihnen der zerlumpten Gestalt mit offenem Mund zuhörte, flüsterten sich die beiden anderen verärgert zu:
»Dieser Mann ist gemeingefährlich! Er muss dringend eingeliefert werden!«
Er las es auf ihren Lippen und erwiderte:
»Keine Sorge, Freunde, ich bin bereits eingeliefert – seht euch doch diese wunderbare, riesige Irrenanstalt an!« Dabei ließ er seinen Arm über die Dächer schweifen.
In den modernen Gesellschaften war Kinderarbeit zwar verboten, aber der Meister sagte, dass dieselben Gesellschaften sich an den Kindern versündigten, indem sie sie durch Massenkonsum, verfrühte Sorgen und ein Übermaß an Aktivitäten auszehrten und zu schnell zu Erwachsenen machten. Wie außer sich rief er:
»Unsere Kinder erleben zwar nicht die Schrecken des Krieges, sehen keine zerstörten Häuser und verstümmelten Körper, doch stattdessen wird ihre Unschuld ausgelöscht, ihre Fähigkeit zum Spiel unterdrückt und ihre Fantasie geraubt, indem man in ihnen Bedürfnisse nach unnötigen Dingen weckt. Ist das nicht auch eine Form des Schreckens?«
Dann merkte er an, und wir fragten uns, woher er diese Informationen hatte:
»Nicht ohne Grund ist die Zahl der Depressionen und anderer psychischer Störungen unter Kindern und Jugendlichen sprunghaft angestiegen.«
Er hatte jetzt Tränen in den Augen, so als hätte er sie alle adoptiert. Seine eigenen Kinder waren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen – weitere Details seiner geheimnisvollen Vergangenheit waren uns damals nicht bekannt.
Er konnte sich mit der verfehlten Persönlichkeitsbildung der jungen Menschen nicht abfinden, und so drang er einmal am Ende des Tages in eine private Grundschule ein, die von Kindern der Oberschicht und oberen Mittelschicht besucht wurde. Der Boden war mit Granitplatten ausgelegt, das Deckengewölbe ruhte auf Marmorsäulen, die Fensterscheiben waren aus Rauchglas, und alles war klimatisiert. Jeder Schüler hatte seinen eigenen Computer. Alles schien perfekt.
Das einzige Problem bestand darin, dass die unruhigen Kinder keine Freude am Lernen hatten und kein kritisches Denken entwickelten. Für sie waren die Schule und die gesamte Lernumgebung fast unerträglich. Sobald die Klingel ertönte, flüchteten sie eilig aus ihren Klassenräumen, als ob sie darin eingesperrt gewesen wären.
Die Eltern, die ihre Kinder von der Schule abholten, hatten keine Minute zu verlieren. Sie schimpften mit den Kindern, wenn diese nicht pünktlich am Ausgang erschienen. In diesem Klima allgemeiner Nervosität huschte der Traumhändler an den Türstehern vorbei, setzte sich eine Clownsnase auf und begann, auf dem Schulhof umherzuhüpfen, zu tanzen und herumzualbern. Viele Kinder im Alter von neun, zehn und elf Jahren vergaßen, dass sie auf dem Heimweg waren, und machten mit.
Dann spielte er mit ausgebreiteten Armen Flugzeug und »flog« in einen kleinen Garten, wo er einen Frosch, eine Grille und eine Klapperschlange imitierte. Ringsum herrschte Begeisterung. Anschließend führte er Zaubertricks vor. Er zog eine Blume aus...