Crowley Er sieht dich
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-14465-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-14465-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerade erst von London zu ihrem Mann nach Dublin gezogen, wo die gemeinsame Tochter Roisin zur Welt kommt, sehnt sich Yvonne nach dem Austausch mit Gleichgesinnten. Stundenlang surft die junge Mutter im Internet, gibt in dem Mütterforum NETMAMMY mehr und mehr über sich preis. Als eine ihrer Online-Bekanntschaften spurlos von der Oberfläche verschwindet, beginnt Yvonne, sich Fragen zu stellen. Doch erst als eine Frauenleiche auftaucht, die Ähnlichkeiten mit der offline gegangenen Freundin aufweist, begreift sie, dass sie und die anderen Mütter in entsetzlicher Gefahr schweben könnten.
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EINS
Es war das »Mum«, das sie aus dem Konzept brachte. Bis dahin war alles ganz gut gelaufen. Es war nicht viel Verkehr auf der Straße gewesen, sie hatten einen Parkplatz ganz in der Nähe des Krankenhauses bekommen, und als sie endlich das Wartezimmer gefunden hatten, war es nicht allzu voll gewesen. Als Claire bewusst wurde, dass sie viel kürzer warten mussten als erwartet, hatte sie sich fast erfolgreich eingeredet, dass es ihr gefallen würde. Und dann hatte die Krankenschwester auf die lange, niedrige Liege gezeigt und jegliche Chance darauf ruiniert.
»Dann mal da rauf, Mum, Marie ist gleich bei Ihnen.«
»Mum.«
Willkommen in der Schwangerschaft, lassen Sie Ihre Identität und Ihren Namen bitte vor der Tür der Geburtshilfestation.
Claire seufzte schwer und drehte sich zu ihrem Ehemann um, um ein verständnisvolles Publikum für ihre verdrehten Augen zu haben. Aber Matt war verschwunden. Stattdessen stand da ein rehäugiger Fremder, der auf den Ultraschall starrte, wie er früher einmal den Barmann im Flanagan’s angestarrt hatte, der berühmt dafür war, das beste Guinness in der westlichen Welt zu zapfen.
Sie war also allein. Eine kleine, müde aussehende Frau – Marie, nahm sie an – trat eilig durch die verkratzte weiße Tür und machte sich an Computerbildschirmen und Schläuchen zu schaffen.
»Das kann jetzt ein bisschen kalt sein.«
Claire zuckte zusammen, als das Gel auf ihren Unterleib traf. Ein bisschen kalt? Es war verdammt eisig. Man sollte meinen, dass sie dafür irgendeine Lösung gefunden hätten, eine Heizmöglichkeit oder irgendwas. Vielleicht würde sie selbst eine erfinden, das würde sie vor der Langeweile des Mutterschutzes retten. Normalerweise würde sie Matt so etwas erzählen, dann hätten sie wenigstens was zu lachen, aber stattdessen lehnte sich der große Schmalzklops neben ihr vor und griff nach ihrer Hand.
»Kaum zu glauben, oder?«
»Äh.«
Claire fand es gar nicht schwer zu glauben. Sie lebte schon seit zwanzig Wochen mit der kotzenden, Jeans sprengenden Realität dieser Schwangerschaft, sie brauchte keinen Ultraschall, um sie zu bestätigen. Aber Matt schien entschlossen, jeden Tränendrüsenmoment auszukosten, also erwiderte sie seinen Händedruck kurz.
»Ja. Es ist toll.«
Ihre Tasche vibrierte, und Marie warf ihr einen strafenden Blick zu.
»Alle Handys sind auszuschalten. Sie stören die Geräte.«
»Ja, natürlich. Entschuldigung.«
Claire griff in ihre Tasche und nahm das Telefon heraus. Während sie nach dem Ausschalter suchte, las sie unwillkürlich den Text auf dem Bildschirm.
DIE GESCHWORENEN ZIEHEN SICH ZURÜCK
Oh Mann. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte es gewusst, sie hatte es, verdammt noch mal, gewusst. An dem einen Tag, an dem sie nicht da sein konnte … Ihr Finger zuckte in Richtung »Antworten«, aber ein kurzer Blick zu Matt sagte ihr, dass das unmöglich war. Richtig. Vergiss es. Konzentrier dich.
Mit einer dramatischen Geste schaltete sie das Handy aus und steckte es in ihre Tasche, bevor sie wieder auf der Liege die richtige Stellung einnahm.
»Gut. Wo waren wir?«
Aber weder Marie noch ihr Ehemann hörten zu. Die Schwester fuhr mit dem Ultraschallkopf über Claires Bauch – auch wenn es ihr schwerfiel, ihn noch als ihren anzusehen – und murmelte etwas vor sich hin.
Fundusplazenta … Baby in Schädellage … Jetzt noch den BPD messen …
Auf dem kleinen, schwarz-weißen Bildschirm wurden Schatten abwechselnd scharf und wieder unscharf.
Matts Hand drückte Claires fester.
»Das ist aber alles normal, oder?«
Marie behielt ein Pokerface. Wahrscheinlich gehörte das zur Ausbildung. Es war sinnlos, die Eltern wissen zu lassen, dass es ein Problem geben könnte, solange sie selbst nicht sicher war. Aber es gab doch kein Problem, oder doch? Claire erwiderte den Händedruck ihres Mannes und sah den Bildschirm genauer an. Es sah aber nicht gut aus. Na ja, es sah eigentlich nach gar nichts aus, aber das konnte doch nicht gut sein, oder? Sollte das ein Kopf sein? Oder ein Arm …?
»Wie bitte?«
Marie sah auf, blinzelte und lächelte zum ersten Mal.
»Oh, alles ganz normal! Entschuldigen Sie, ich habe nur Schwierigkeiten, den Kopf des Babys zu messen. Sie haben da ein ziemlich lebhaftes Würmchen.«
Matt strahlte stolz, aber Claire hatte plötzlich das Bedürfnis, weiter beruhigt zu werden.
»Aber es sieht alles gut aus?«
»Alles sieht so aus, wie es in diesem Stadium aussehen sollte. Ich muss noch ein paar Dinge messen, aber sehen Sie …«
Sie zeigte auf ein Bein und einen Arm, eine kleine Hand. Und dann geschah das Magische. Der winzige Mund öffnete sich und begann am Daumen zu lutschen.
»Ahhhh.«
Einen Augenblick lang waren alle drei glücklich vereint, begeistert von dem, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Claire entspannte sich und drückte noch einmal Matts Hand. Alles war in Ordnung. Sicher, das war großartig. Fantastische Neuigkeiten. Fantastisch. Wenn es in dem Tempo weiterginge, könnte sie es ins Gericht schaffen, solange die Geschworenen noch berieten …
»Und das da ist dann wohl die Nabelschnur?«
Matt lehnte sich über ihren Körper, und sie schaute ihn verblüfft an. Da hatte jemand offensichtlich die Bücher gelesen, die er demonstrativ auf den Nachttisch gelegt hatte.
»Stimmt genau!«
Marie nickte ihm zu. Klassenbester.
»Ich dachte, es hätte auch das andere Ding sein können.«
Matt grinste breiter, und Marie schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein … Aber wollen Sie das Geschlecht wissen? Ich kann es Ihnen sagen …«
»Ja!«
»Nein!«
Die Antworten kamen gleichzeitig. Marie sah verwirrt aus.
Claire sah Matt an.
»Ich glaube, ich bin einfach davon ausgegangen …«
Das stimmte nicht. Sie hatte eigentlich überhaupt nicht darüber nachgedacht. Aber jetzt waren sie hier, und die Information war direkt vor ihnen, was war daran verkehrt? Aber ihr Ehemann schüttelte vehement den Kopf.
»Es gibt so wenige Überraschungen in dieser Welt. Wir können das Geheimnis doch noch eine Weile bewahren, okay?«
»Klar.«
Claire wand sich auf der harten Liege, versuchte, eine bequeme Stellung zu finden. Klar. Es war ihr nicht wichtig genug, um darüber zu streiten. Alles war in Ordnung, das war die Hauptsache. Den Rest würden sie noch früh genug herausfinden. Sie rutschte wieder hin und her, und das Handy war in ihrer Tasche vergraben. Die Geschworenen könnten schon wieder zurück sein. Zwölf Jahre. Joseph Clarke hatte zwölf Jahre lang vergewaltigt, misshandelt. Seine Opfer in Angst und Schrecken versetzt. Wenn es auf dieser Welt Gerechtigkeit gab, dann würde er mindestens so lange hinter Gittern sitzen.
»Na dann! Sie können das jetzt abwischen …«
Abwesend nahm sie das Papiertuch entgegen, das Marie ihr hinhielt, und fing an, das klebrige Gel abzuwischen. Matt grinste sie an.
»Gehen wir zusammen Mittag essen?«
»Ja. Super.«
Der Termin war vor Wochen vereinbart worden, und sie hatten sich beide zur Feier des Tages einen halben Tag freigenommen. Es könnte für eine Weile ihre letzte Chance sein. Aber das war, bevor sie die Nachricht erhalten hatte.
Sie warf das Tuch in einen Papierkorb und richtete ihre Kleider.
»Ich muss noch mal zur Toilette.«
Das war nicht gelogen, das war es in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche nie. Aber bevor sie aus der Kabine trat, nahm sie ihr Handy, schaltete es ein und hielt den Atem an. Der Empfang flackerte, dann erschien nur ein Balken. Komm schon, bitte.
Piep, piep!
Ein Wort. Aber mehr musste sie nicht wissen.
SCHULDIG.
Sie kehrte zu ihrem Mann zurück, ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich fragte, ob es dem Baby auffiel. Matt grinste sie an.
»Das ist doch gut gelaufen?«
»Ja.«
Sie versuchte, die Worte herunterzuschlucken, aber das war unmöglich. Matt hatte es die letzten Monate mit ihr durchlebt. Er verdiente auch, Bescheid zu wissen.
»Sie haben ihn schuldig gesprochen, Matt, schuldig! Ich habe gerade eine SMS bekommen …«
Einen Augenblick lang sah ihr Mann verärgert aus. Sie hatte versprochen, dass sie heute nicht über den Fall reden würde. Aber dann lächelte er wieder. Er wusste, wie wichtig das war. Er lehnte sich vor und umarmte sie fest.
»Das finde ich ganz fantastisch für dich. Strafmaß?«
»Kommt erst nächste Woche, nehme ich an.«
Sie schaltete ihr Handy wieder ein und tippte auf die Twitter-App. Auf allen Nachrichtenseiten wurde über die Geschichte berichtet. Es war ein großer Fall, und viele Leute hatten auf das Ergebnis gewartet. Aber niemand mehr als sie.
»Wir verschieben das Mittagessen also?«
»Ich …«
Ein netter Mensch hätte Nein gesagt, sollen andere sich darum kümmern. Schließlich gab es dabei nichts mehr für sie zu tun. Aber Claire wusste, dass sie nicht immer ein netter Mensch war, und Matt hatte das durchaus gewusst, als er sie geheiratet hatte.
»Das wäre toll. Hör mal, ich komme früh nach Hause, in Ordnung?«
Das war eine Lüge, sie wussten es beide, aber warum einen perfekten...