E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Croft Girl With No Past
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86396-594-5
Verlag: INK
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-86396-594-5
Verlag: INK
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kathryn Croft glaubt seit ihrer Kindheit an die Macht von Geschichten und hat einen Abschluss in Medienwissenschaften und Englischer Literatur. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie im Personalwesen und als Lehrerin. Sie ist immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen und hat sich mit dem Schreiben ihres ersten Romans einen großen Traum erfüllt. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen in Guildford, Surrey.
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KAPITEL 1
2014 Als ich an jenem Abend nach Hause ging, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich konnte es an nichts festmachen, denn alles schien völlig normal. Ich war bloß eine von vielen, die von der Arbeit nach Hause oder zumindest irgendwohin liefen. Es war eisig kalt, und ich hatte am Morgen meinen Schal am Treppengeländer vergessen, aber die Kälte war nicht ungewöhnlich. Sie war im November zu erwarten. Das Gefühl, das ich nicht abschütteln konnte, musste mit morgen zusammenhängen. Ich hatte nicht vergessen, welcher Tag heute war. Vielleicht war diese Vorahnung meine Furcht, die sich nur in anderer Form bemerkbar machte? Doch nicht einmal das ergab einen Sinn, weil ich gelernt hatte, damit umzugehen. Wie jedes Jahr weigerte ich mich daran zu denken, bis der Tag da war und wie ein Wirbelsturm über mich hinwegfegte. Ich hatte inzwischen Übung darin, diese Tür zuzumachen. In der Garratt Lane herrschte wie stets reges Treiben, und ich mischte mich unter die anderen Fußgänger, wurde ein Teil der Londoner Landschaft. So fühlte ich mich auf dem Heimweg immer, als wäre ich nichts als eine Puppe in einer Szene, die von einem anderen bewegt wurde. Vielleicht hatte ich mich nur deshalb unwohl gefühlt, weil ich später als üblich von der Arbeit kam und Änderungen in meinen Gewohnheiten nicht gut verkraftete. Ich brauchte Ordnung und Strukturen, andernfalls brach alles auseinander. Ich war spät dran, weil ich geblieben war, um Maria zu helfen; ich konnte sie nicht mit der Lieferung von bestellten Büchern allein lassen, selbst wenn mein Tag in der Bücherei drei Stunden vor ihrem begonnen hatte. Außerdem: Was zog mich nach Hause? Ich lächelte, als ich mich daran erinnerte, wie Maria – während wir die Bücher auspackten und verschlagworteten – in allen Einzelheiten von einem Mann erzählte, den sie kennengelernt hatte. Maria arbeitete erst seit ein paar Monaten in der Bibliothek, aber in dieser Zeit hatte ich wahrscheinlich bereits jedes Detail ihres Lebens erfahren. Sie stellte meinen Gegenpol dar: offen und gesprächig, während ich reserviert war und möglichst wenig von meinem Leben preisgab. Ich wusste, dass sie Single war und oft Verabredungen hatte, und hörte mir gern ihre Geschichten an. Der Name des neuen Mannes war Dan. Während Maria erzählte und noch von seinen unbedeutendsten Äußerungen schwadronierte, erlaubte ich mir, mich in ihr Leben zu vertiefen. So war das immer mit uns: Sie erzählte und ich hörte zu. Doch hin und wieder ertappte ich sie dabei, wie sie mich mit diesem besonderen Blick anstarrte. Der Blick, der offenbarte, wie sehr sie es sich wünschte, von mir in mein Leben gelassen zu werden. Die Bücherei lag nur einen kurzen Fußweg von meiner Straße entfernt, sodass ich nicht lange nach Hause brauchte. Meine Wohnung war klein – nein, nicht klein: winzig; das Obergeschoss eines umgebauten Hauses, aber es war für Londoner Verhältnisse bezahlbar, und wenigstens hatte ich meine eigene Haustür, auch wenn die meines Nachbarn praktisch direkt daneben lag. Ich hatte auch meine eigene Treppe, weshalb die Wohnung etwas geräumiger wirkte. Doch mein Entschluss, sie zu mieten, hatte nichts mit solchen praktischen Dingen wie Bezahlbarkeit oder Lage zu tun. Es war der Straßenname, der mich überzeugt hatte, dass ich hier wohnen musste. Allfarthing Road. Er ließ mich an eine Zeit denken – lange vor meiner Geburt –, die ich mir nur anhand dessen vorstellen konnte, was ich in Büchern gelesen hatte. Eine Zeit, als die Menschen sich auf der Straße grüßten und all ihre Nachbarn kannten. Ich wusste, dass ich das zu romantisch sah und mich nach nichts dergleichen sehnte – es würde einfach nicht zu meiner Art zu leben passen –, doch es war irgendwie tröstlich sich vorzustellen, dass es eine solche Zeit einmal gegeben hatte. Dass Zeiten, die davor lagen, niemals wirklich verschwanden. Ich erklomm die fünf Stufen, die zu meiner Haustür führten, und kramte in meiner Tasche nach meinem Schlüssel. Es war eine lächerlich kleine Umhängetasche, aber es gab nicht viel, was ich mit mir herumschleppen musste, sodass ich nur wenige Sekunden brauchte, um festzustellen, dass meine Schlüssel nicht darin waren. Mein Portemonnaie, mein Handy, ein Fläschchen Handdesinfektionsmittel, aber kein Schlüsselbund. Verwirrt versuchte ich ruhig zu bleiben und die Möglichkeiten abzuwägen. Ich hatte ihn am Morgen definitiv noch gehabt, denn die Haustür musste zweifach abgeschlossen werden, und das vergaß ich nie. In der Bücherei hatte ich ihn nicht gebraucht, deshalb konnte ich mich nicht daran erinnern, ihn bemerkt zu haben, was nun nur zwei Dinge bedeuten konnte: Entweder hatte ich ihn auf dem Weg zur Arbeit verloren, oder er war mir in der Bücherei aus der Tasche gefallen und setzte in diesem Moment irgendwo in dem Gebäude Staub an. Die erste Möglichkeit erfüllte mich mit Panik, und nach einer hastigen Suche auf der Treppe und dem gepflasterten Vorgarten griff ich nach dem Handy und rief bei der Arbeit an. Das Handy fest ans Ohr gepresst, um das Summen des Verkehrs auszuschließen, konnte ich gerade mal den Verbindungston hören. Er schien eine Ewigkeit in meinem Ohr zu summen, ehe Maria endlich abnahm und sich schwer atmend meldete. »Maria, hier ist Leah.« Sie schien erleichtert zu sein, dass ich kein Kunde mit einer Frage war, und ich gab ihr Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Doch mit jeder verstreichenden Sekunde stieg meine Panik. Ich war bereits verspätet zu Hause angekommen, und jetzt kam ich nicht einmal hinein. Mein ganzer Abend geriet durch etwas durcheinander, worüber ich keine Kontrolle hatte. »Kein Problem«, meinte Maria, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich meinen Schlüsselbund vermisste. »Ich geh mich mal umsehen. Ich rufe gleich zurück.« Dann legte sie auf, begierig vom Telefon wegzukommen und mir zu helfen. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten, während die eisige Novemberluft in meine Haut biss und ich mich danach sehnte, in meiner nur wenig wärmeren Wohnung zu sein und die Tür nach einem weiteren Tag puren Seins zu schließen. Da es zu kalt war, um ruhig stehen zu bleiben, ging ich die Treppe auf und ab und ignorierte die amüsierten Blicke einiger Passanten. Die Minuten verstrichen. Es verging fast eine Stunde, ehe Maria endlich zurückrief. Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, dass sie mir sagte, sie könne die Schlüssel nicht finden. »Ich hab sie«, sagte sie und klimperte zum Beweis damit herum. Erleichterung machte sich in mir breit. »Wo waren sie?« Ich hätte mich erst bei ihr bedanken sollen, aber ich musste wissen, wo sie gewesen waren. »Äh … ein Kunde muss sie abgegeben haben, und Sam hat sie ins Büro gelegt. Ich habe da bloß nachgesehen, für den Fall, dass …« »Okay.« Ich versuchte, es zu begreifen. Ich war immer so vorsichtig und verstand nicht, wie sie aus meiner Tasche gefallen sein konnten. »Egal, ich will gerade gehen, deshalb bringe ich sie dir einfach vorbei. Du wohnst doch in einer Nebenstraße der Garratt Lane, oder? Ich kann in zehn Minuten da sein …« »Nein! Ich meine, mach dir keine Umstände. Ich komme zur Bücherei zurück. Treffen wir uns da?« Ich hatte Maria noch nie in meine Wohnung eingeladen. In letzter Zeit hatte sie Andeutungen gemacht, sie könne ja mal vorbeikommen, aber ich hatte das bisher immer verhindern können. Für einen Augenblick schwieg sie. »Okay. In Ordnung. Aber wir treffen uns im Coffeeshop. Ich muss jetzt hier dichtmachen, und es ist einfach zu kalt, um draußen herumzustehen.« In diesem Moment nahm ich mir stumm vor, es bei ihr gutzumachen. Ich bedankte mich bei ihr, wickelte mich enger in meine dicke Wolljacke und machte mich auf den Rückweg zur Arbeit. Ich ging schnell, obwohl ich wusste, dass Maria einige Zeit für alle Kontrollen brauchen würde, die sie machen musste, ehe sie zusperren konnte. Ich wollte einfach nur meine Schlüssel zurück. Ich erwartete nicht, dass sie oder irgendjemand sonst es verstand, aber jede Störung von meinen Gewohnheiten machte mich verletzlich. Ich brauchte Ordnung. Alles musste genau so sein, wie es zu sein hatte, keine Abweichungen. Und heute Abend hätte so leicht eine werden können. Ich war ohnehin von meiner üblichen Gewohnheit abgewichen; ich hätte inzwischen längst in der Wohnung sein und das Abendessen zubereiten müssen, ehe ich mich auf der Website einloggte und wieder einmal mein Stellvertreterleben führte. Als ich den Coffee Shop erreichte, schaute ich durchs Fenster, um zu sehen, ob Maria da war, entdeckte aber nirgends ein Zeichen von ihr. Die Afterwork-Menge hatte die Sitze in Beschlag genommen und unterhielt sich ohne Eile, nach Hause zu kommen. Anders als ich. Ich verspürte einen Stich von Neid, wusste aber, dass ich nie so sein könnte wie sie. Obwohl ich Durst hatte, entschied ich mich dagegen hineinzugehen. Ich war zwar gern mit ihr zusammen, doch wenn Maria und ich uns irgendwo hinsetzten, wäre der Abend gelaufen. Ich musste online gehen. Deshalb trotzte ich weiterhin der Kälte, die jetzt schneidender war als noch vor wenigen Augenblicken, und wandte mich in Richtung Bibliothek. Ich wollte Maria unbedingt sofort ausmachen, sobald sie in Sichtweite war, damit ich meine Schlüssel nehmen und nach Hause gehen konnte. Es dauerte zwanzig Minuten, ehe ich sah, wie sie herangeschlendert kam, als machte sie einen Strandspaziergang und hätte es nicht gerade eilig, mir meinen Schlüsselbund zurückzugeben. »Oh, du bist hier draußen«, sagte sie, als sie bei mir ankam. »Ich dachte, wir würden uns vielleicht einen Kaffee holen.« »Es tut mir...