Crimp Unser wirkliches Leben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-446-27370-2
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-446-27370-2
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gesangsstudentin Anna konkurriert tagsüber beim Vorsingen gegen ihre Kommilitoninnen aus gutem Hause, nachts singt sie Jazz in einer verrauchten Bar, um die Miete bezahlen zu können.
Dort trifft sie den wohlhabenden Max. Einen betörenden Winter lang oszilliert ihr Leben zwischen den schwer erkämpften Momenten auf der Bühne und den Nächten in Max' Apartment, das über die Lichter der Stadt blickt. Doch Annas Karriere fordert einen immer größeren Teil ihres Lebens - ebenso wie Max.
Imogen Crimps Romandebüt ist eine fesselnde Liebesgeschichte und ein tiefgehender psychologischer Roman über eine Beziehung mit ungleichen Machtverhältnissen, über Geld, Sex und Abhängigkeit.
Imogen Crimp, geboren 1989, studierte Englische Sprache und Literatur in Cambridge und zeitgenössische Literatur in London, wo sie sich auf Autorinnen der Moderne spezialisierte. Nach ihrer Zeit an der Universität studierte sie für eine kurze Zeit Operngesang an einem Londoner Konservatorium. Imogen Crimp lebt in London.
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1
Laurie kellnerte an diesem Abend, statt hinter der Bar zu stehen, also blieben die gratis Drinks für mich aus. Aber ich hatte einen guten Tag und überlegte, mir noch einen zu bestellen, als der Mann neben mir sich umdrehte und mich ansprach.
Ich habe dich eben gesehen, sagte er. Beim Singen. Das warst doch du, oder nicht?
Ich nickte.
Ja.
Ich wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Sie wollten immer noch etwas sagen, die Männer, die mich ansprachen. Normalerweise etwas darüber, wie schön mein Gesang, oder ich, sei. Oder wie sexy. Grob geschätzt, entschied sich die eine Hälfte für schön und die andere für sexy. Oder es ging in ihrem Monolog darum, dass eins der Lieder, die ich an dem Abend gesungen hatte, sie in eine Zeit zurückversetzt habe, in der sie dieses oder jenes getan hätten, an diesem oder jenem Ort gewesen seien, oder darum, wie meine Stimme sie an ihre Ex-Freundin oder getrennt lebende erste Ehefrau oder ihre Mutter erinnere, wobei ich meistens den Faden verlor.
Dieser Mann sagte jedoch nichts mehr. Er nickte ebenfalls und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seinem Drink zu, ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen, blickte tief hinein. Das ärgerte mich.
Wie hat es dir denn gefallen?, fragte ich.
Ja, doch, sagte er. Es war gut, schätze ich.
Okay.
Ganz ehrlich? Nicht so mein Fall.
Oh.
Er verstummte wieder.
Warum bist du dann hier?, fragte ich.
Ich saß auf einem dieser drehbaren Barhocker, und er legte eine Hand auf dessen Rückseite und schwang mich herum, sodass ich das Fenster im Blick hatte. Ich wollte ihn fragen, was zur Hölle das wohl werden sollte, doch als ich ihn ansah, war sein Gesicht so ausdruckslos, so gleichgültig meiner Reaktion gegenüber, dass es peinlich gewesen wäre, mich aufzuregen. Es machte mir auch nichts aus, nicht wirklich. Aber ich wusste, dass es mir vermutlich etwas hätte ausmachen sollen.
Er deutete aus dem Fenster.
Siehst du das Gebäude da?
Das graue?
Ja. Zähl hoch bis zum fünften Stock. Hast du es? Siehst du das äußerste Fenster auf der linken Seite? Das ist mein Fenster. Dort arbeite ich.
Oh, okay, sagte ich. Bist du dann öfters hier?
Hast du mich das gerade wirklich gefragt?
Du weißt, was ich meine.
Er lächelte ein schmales Lächeln.
Ich bin ziemlich oft hier, ja. Ich glaube, ich habe dich sogar schon mal singen gehört. Vielleicht war es aber auch jemand anders.
Wir hören uns alle gleich an, was?
Er zuckte mit den Schultern.
Wie gesagt, ich verstehe nicht viel davon.
Was machst du denn dort drüben?, fragte ich.
Kennst du dich im Finanzwesen aus?
Gar nicht, nein.
Na also, und ich schmolle deswegen auch nicht, oder? Das ist jedenfalls, was ich mache, und heute war ein langer Tag. Um also deine ursprüngliche Frage zu beantworten, ich bin nicht wirklich wegen der Musik hier, sagte er, als würde er einem Kind erklären, dass er zu müde fürs Fingerfarbenmalen sei. Versteh mich nicht falsch, ich bin mir sicher, es war bezaubernd. Aber ich bin hier, weil ich einen Drink brauchte.
Alles klar.
Aber es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.
Er lächelte und wandte den Blick ab.
Normalerweise läuft es ungefähr so ab. Jemand versucht, dich aufzureißen, und entweder ist er so dumm, dass du deine Intelligenz verstecken musst und immerzu sagst ach wirklich! oder wie witzig! und wie eine hohle Nuss lachst, damit du ihn nicht abschreckst, obwohl du dir eigentlich nichts sehnlicher wünschst, als ihm deinen Drink ins Gesicht zu schütten. Oder aber er ist schlau, er ist schlau und möchte sich über dich lustig machen. Er will dir ein Bein stellen und dich auslachen, wenn du ausgestreckt auf dem Boden liegst.
Dieser Mann war weder das eine noch das andere. Nicht so ganz. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Zum einen schien er nicht daran interessiert, mir näher zu kommen. Er hatte eine Hand auf seinem Bein, die andere an seinem Drink. Er hatte nicht noch mal versucht, die Lücke zwischen uns zu schließen. Wenn überhaupt, war er weiter weggerückt, und ich lehnte mich auf einmal vor, um zu hören, was er sagte. Und seine Worte schienen keine bestimmte Absicht zu verfolgen. Es schien ihn nicht zu kümmern, wie ich reagierte. Er warf sie achtlos hin, wie jemand Essensreste in einen Hundenapf schmeißt, nur um sie loszuwerden und ohne darauf zu warten, dass sie aufgegessen werden.
Mir war nicht klar, dass du überschwängliches Lob erwartet hattest, sagte er. Verzeih mir.
Ist schon gut. Wir Künstlerinnen sind einfach sensibel, weißt du?
Ach?
Ja, sagte ich. Wenn meine Zuhörer mir also nicht gleich sagen, dass es ihnen gefallen hat, gehe ich davon aus, dass sie es schrecklich fanden.
Und das ist ein Problem für dich?
Nun, ja, sagte ich. Weil ich dann denke, dass es vermutlich schrecklich war, und dann, na ja, eskalieren die Dinge ziemlich schnell im Kopf einer Künstlerin. Bevor wir wissen, wie uns geschieht, ersticken wir in Selbsthass, sagen uns, dass es jetzt reicht, dass es Zeit ist, aufzugeben, unsere Niederlage zu akzeptieren, wir sind nicht gut und werden es niemals sein, und jeder andere hier weiß das, wir versinken in dem Gefühl, jemand hätte uns kopfüber in eine Grube geschubst, aus der wir herauszukriechen versuchen, während von oben jemand Erde hineinschaufelt. Und das alles nur, weil es jemand gewagt hat, das Gespräch mit einer Bemerkung über das Wetter oder die Zahl der Gäste auf der After-Show-Party zu beginnen, anstatt gleich zum wichtigen Punkt zu kommen — wie fabelhaft wir waren, was ehrlich gesagt alles ist, worüber wir reden wollen.
Ich gab ein kleines Lachen von mir, um zu zeigen, dass ich es ironisch meinte, aber er schien es nicht zu bemerken.
Das klingt sehr anstrengend, sagte er.
Glaub mir, das ist es.
Dann lass mich dir einen Drink ausgeben, und wir beginnen diese ganze Sache noch mal von vorne.
Er deutete auf mein leeres Glas.
Was trinkst du?
Was auch immer du trinkst, sagte ich.
Er wandte sich an den Barkeeper, und ich musterte ihn, während er sprach. Er war älter als ich — Ende dreißig, Anfang vierzig vielleicht — und attraktiv. Beinahe schön, denn irgendwie hatte er etwas Feminines an sich, obwohl seine Schultern breit waren und sein Haarschnitt der eines typischen City-Bankers. Seine Wimpern vielleicht. Er hatte hübsche lange Wimpern, geschwungen und hell wie die einer Frau. Doch seine Art der Schönheit strahlte eine Kälte aus. Schwer zu erahnen, was sich dahinter verbarg.
Der Barkeeper stellte uns zwei Drinks hin.
Was ist das?, fragte ich. Meiner unterschied sich von seinem.
Probier mal, sagte er. Du wirst es mögen.
Und er hatte recht. Das Getränk war cremig und süß. Es wärmte mir die Kehle.
Also, wo waren wir stehen geblieben?
Wir wollten von vorne anfangen.
Stimmt. Genau. Also …
Er drehte sich auf seinem Hocker, bis er mir zugewandt war.
Also, sagte er. Ich habe dich eben gesehen. Beim Singen. Das warst doch du, oder nicht?
Ich nickte.
Ja.
Ich hoffe, du hältst mich nicht für aufdringlich, sagte er. Ich meine, weil ich dich einfach so anspreche, während du hier alleine sitzt. Wenn du möchtest, dass ich aufhöre, sag es. Dann höre ich auf.
Ich sagte nichts.
Er fuhr fort.
Ich wollte dir nur sagen, wie sehr es mir gefallen hat. Deine Stimme, meine ich. Wie bezaubernd sie war. Wirklich, ich meine es ernst.
Ich lachte.
Ach, danke, sagte ich. Das ist lieb.
Nein wirklich. Ehrlich. Ich meine es ernst. Lach nicht. Wie heißt du?
Anna.
Anna, wiederholte er. Ich meine es ernst, Anna. Das ist kein Witz. Willst du die Wahrheit ...




