E-Book, Deutsch, Band 1, 512 Seiten
Reihe: Die drei Königinnen Saga
Courtney Das purpurne Herz
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19726-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 512 Seiten
Reihe: Die drei Königinnen Saga
ISBN: 978-3-641-19726-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joanna Courtney studierte mittelalterliche Literatur und Geschichte an der Cambridge University. Heute lebt sie mit ihrem Mann und vier Kindern in Derbyshire. Ihre mitreißende historische Drei-Königinnen-Trilogie handelt von drei großen Frauen im Mittelalter, die um den englischen Thron kämpften.
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KAPITEL EINS
Westminster, März 1055
Die Dämmerung schlich über die wirbelnden Strudel der Themse hinweg und rief die Männer und Frauen aus König Edwards England in ihre Betten. In der Großen Halle Westminsters jedoch hörte ihr niemand zu, am wenigsten aber Edyth Alfgarsdottir. Das Klappern von Tellern und Klapptischen kündete vom Abbau, denn der formelle Teil des Mittfasten-Mahls war vorüber, und zum ersten Mal durfte sie bleiben, bis die Gesellschaft sich müde getanzt hatte. In ihrem Magen rumorte die Vorfreude, und sie drückte sich an eine Säule, fuhr mit den Fingern nervös den Spuren der komplizierten Schnitzereien im Holz nach, während sie jede wunderbare Einzelheit des Hofes in sich aufnahm, der vollkommen außer Rand und Band war.
Die königliche Halle war alt und beinahe so baufällig wie die Abteikirche dahinter, aber heute Abend ergossen sich die letzten Strahlen der Frühlingssonne in den riesigen Raum und ließen ihn erstrahlen. Das Licht fiel zu beiden Seiten durch die geöffneten Türen, sammelte sich um die kleinen Fensteröffnungen und kroch durch die Ritzen des Strohdachs über ihr. Es fing sich in der Goldverzierung der kunstvoll bemalten Schilde an den Wänden und tanzte auf dem üppigen Schmuck, der Englands reichste Männer und Frauen zierte, so dass es Edyth schien, als funkele der ganze Saal vor nebulösen Versprechungen.
Lebhaftes Geplauder wirbelte so schnell in die Luft empor wie der Rauch aus der Feuerstelle inmitten des Raumes. Die förmlichen Verbeugungen und Begrüßungen waren vorüber. Man hakte einander freundschaftlich unter und lachte miteinander. Ladys zupften sittsam an dicken, maisgelben Zöpfen oder an ihrem Kopfputz, den sie diskret zurückschoben, um ihre hübschen Haarsträhnen zu zeigen. Die Männer verstauten ihre Essmesser in ihren reich verzierten Ledergürteln, strichen sich das Haar zurück und fuhren sich mit schwieligen Ritterhänden über ihre Schnurrbärte. Edyth hielt Ausschau nach einer Gruppe, der sie sich anschließen konnte, aber die Menschen brandeten ruhelos umher, so schnell wie Mäuse in einer Scheune, und sie wagte es nicht, jemanden anzusprechen.
Betreten schaute sie sich um und blickte zur Wand der Großen Halle hinüber, wo die Älteren und Gebrechlichen, deren Glieder zu geschwollen waren, zu verbogen oder von Schwertern versehrt, um sie länger auf den Beinen zu halten, auf harten, hölzernen Bänken kauerten und sehnsüchtig durch die geöffneten Tore der niedrig stehenden Sonne entgegensahen. Diese hing tief über der Themse, die gleich hinter der Halle dahinfloss, und schon bald würde sie im dunklen Wasser versinken. Dann konnten die Versehrten und die Kinder sich in ihre Betten zurückziehen. Doch hier in der Halle würde man die Binsenkerzen an den mit Teppichen verhangenen Wänden entzünden, damit das Fest weitergehen konnte, und sie, Edyth, würde diesmal daran teilnehmen dürfen.
Tief sog sie die Luft ein, die schwer war vom Duft geräucherten Fleischs und gewürzten Apfel-Honig-Weins, und zwang sich, einen Schritt auf die mittige Feuerstelle zuzumachen. Die Überbleibsel des Hirsches, den man über dem Feuer herabgesenkt hatte, damit er knusprig wurde, spuckten Fett, weshalb man darum herum ein gutes Stück freigelassen hatte. Durch den Wirbel aus Rauch und Licht entdeckte Edyth ihre Freunde, die sie eifrig zu sich herüberwinkten. Instinktiv ging sie auf sie zu, duckte sich aber dann und wischte sich eine winzige Ascheflocke aus dem Auge. Sie war heute Abend nicht in der Stimmung für Geplauder. Sie hatte sich so viele Jahre danach gesehnt, Teil des spätabendlichen, höfischen Lebens zu werden – aber nun, da sie hier war, war sie nervös und ruhelos und hatte für den üblichen Klatsch und Tratsch nicht viel übrig. Vielleicht hatte die Stimmung ihres Vaters auf sie abgefärbt – am darauffolgenden Tag sollte der Große Rat tagen, und er war den ganzen Tag über nervös wie ein Falke ohne Haube gewesen –, vielleicht lag diese Ruhelosigkeit aber auch nur an ihr selbst.
»Möchtet Ihr tanzen?«
Edyth zuckte zusammen und starrte den Mann an, der sich tief vor ihr verbeugte. Der juwelenbesetzte Saum seiner eleganten blauen Tunika funkelte im tanzenden Licht. Er richtete sich auf, streckte ihr gebieterisch die Hand entgegen, und das Blitzen seiner bernsteinfarbenen Augen ließ die königliche Halle zu zuckenden Schatten verblassen.
»Mit Euch?«, stammelte Edyth.
Er ließ seinen Blick zum Schein über die zechende Menge schweifen und richtete ihn dann wieder auf sie.
»Ich pflege schöne Frauen nicht zu fragen, ob sie mit anderen Männern tanzen wollen.«
Edyth errötete und blickte sich schuldbewusst um. Lord Tostig of Hereford gehörte zur Godwinson-Familie, die im Süden Englands besonders einflussreich war, weshalb ihr Vater, Earl Alfgar, sie mit grimmiger Inbrunst hasste. Der Umgang mit einem von ihnen war in seinen Augen gleichbedeutend mit Hochverrat. Sie zögerte.
»Möchtet Ihr nicht tanzen?« Torr zog seine Hand ein Stück zurück, und instinktiv streckte Edyth die ihre aus, um sie zu ergreifen. »Also doch? Hervorragend. Ich bin kein schlechter Tänzer, ich werde Euch schon nicht auf die Füße treten.«
»Es sind wohl kaum meine Füße, um die ich besorgt bin«, gab sie zurück, und er lachte.
»Glaubt nicht alles, was Ihr bei Hofe hört, Lady Edyth.«
Edyth errötete erneut und sah zu der mit Binsen bestreuten Tanzfläche hinüber. Lord Tostig war allgemein bekannt als Torr oder Tower, ein Spitzname, über den in den Frauengemächern häufig gekichert wurde. Er stand in dem Ruf, die schönsten Frauen bei Hof ebenso wirkungsvoll zu jagen, wie er Wildschweine jagte. Jagte er nun sie – Edyth?
»Wenn ich auch nur die Hälfte davon glauben würde«, brachte sie mühsam hervor, »hätte ich allen Grund, vorsichtig zu sein, nicht wahr?«
Er lachte wieder. »Das könnte sein. Aber Vorsicht, Lady Edyth, wird häufig überbewertet. Sollen wir also?«
Seine üppig beringten Finger packten fest zu, als er sie durch die Menge der Gäste um das Feuer herum und zum hinteren Teil der Halle führte. Die Spielleute saßen auf einem erhöhten Podium und stimmten ihre Instrumente, die Diener räumten die duftenden Binsen vom Boden weg, und überall lockten junge Männer ihre Partnerinnen auf die Tanzfläche.
Edyth spürte das kokette Schwatzen um sich herum wie ein gleichmäßiges Summen mehr, als dass sie es hörte, und sah sich um. Sie entdeckte ihre Freundinnen, die sich anstießen und auf sie deuteten. Sie schluckte und straffte die Schultern. Niemand sollte ihr Recht infrage stellen, mit den anderen zu tanzen. Der enge Schnitt ihres kostbaren, tief rostroten Gewandes brachte ihre üppigen Kurven zur Geltung, die schmeichelnden, weiten Ärmel enthüllten ihre schlanken Arme. Das Kleid war ebenso prachtvoll wie die Roben der anderen Hofdamen, und dennoch war sie sich ihrer Stellung unter ihnen noch unsicher. Lord Torr hingegen schien nichts Seltsames an der Wahl seiner Tanzpartnerin zu finden und führte sie voller Selbstverständlichkeit in die Mitte der Tänzer.
»Vertraut mir«, wisperte er, und seine Lippen streiften ihr Ohr.
Edyth schluckte. Vertrauen war das Letzte, was der junge Lord erweckte, obwohl sie nicht genau wusste, wieso. Sie stellte fest, dass die Mysterien erwachsener Beziehungen ärgerlich schwer zu durchschauen waren. Sie hatte versucht, ihren älteren Bruder Brodie darüber auszufragen, als er Met aus dem Fass ihres Vaters gestohlen hatte. Er war tiefrot angelaufen und hatte verkündet, dass sie das in ihrer Hochzeitsnacht herausfinden würde. Aber sie war erst vierzehn; ihre Hochzeitsnacht würde noch drei oder vier Jahre auf sich warten lassen, und sie wollte es jetzt wissen.
Sie hatte nicht gewagt, ihre Mutter zu fragen. Die schmallippige Lady Meghan hätte nur das geantwortet, was sie so oft sagte: dass diese Frage sich für Edyth nicht schickte, und dass die anderen Mädchen nur erfundene Geschichten und Halbwahrheiten erzählten. Lord Torr, das war ihr instinktiv klar, würde all ihre Fragen beantworten, wenn sie es wünschte, aber plötzlich erschien ihr das Wissen darum gefährlich. Sie versuchte erneut, ihm ihre Hand zu entziehen, aber die Musikanten spielten bereits auf, und der Tanz begann. Die sechzehn Paare sahen zum anführenden Paar herüber – Torrs jüngerem Bruder Lord Garth und seiner Schwester, Königin Aldyth –, um deren Tanzschritte zu imitieren, und eine Zeitlang war Edyth gezwungen, sich zu konzentrieren. Lord Torr jedoch entpuppte sich tatsächlich, wie angekündigt, als guter Tänzer und beherrschte die Schritte alsbald mühelos.
»Also, Lady Edyth«, sagte er, während er sie selbstsicher über die Tanzfläche führte, »seid Ihr bereit für das, was der morgige Tag bringen wird?«
Edyth zuckte zusammen. Morgen sollte im Königlichen Rat ein neuer Earl of Northumbria gewählt werden, und ihr Vater, momentan Earl des bescheidenen East Anglia, war fest entschlossen, selbst dazu ernannt zu werden. Seine Nervosität machte ihn aufbrausend und reizbar und erinnerte sie jetzt an den Verrat, den sie mit der Wahl ihres Tanzpartners begangen hatte. Nervös blickte Edyth sich nach ihm um. Noch bewegte sie sich im Schutz der Menge, aber wie lange noch? Torr zog sie dichter zu sich heran.
»Nur Gott weiß, was der morgige Tag...




