Courths-Mahler Hedwig Courths-Mahler - Folge 033
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5436-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Welcher unter euch?
E-Book, Deutsch, Band 33, 80 Seiten
Reihe: Hedwig Courths-Mahler
ISBN: 978-3-8387-5436-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Seit dem frühen Tod ihrer Eltern lebt Rita Jordan in dem Haus ihres Onkels. Hier hat sie auch den Gutserben Wolf Tribenius kennengelernt, dem ihr Herz von der ersten Minute an im Sturm entgegenfliegt. Doch ihrer Kusine Nelly scheint dieser junge Mann ebenfalls zu gefallen. So glaubt Rita, alle Hoffnungen auf Wolf aufgeben zu müssen. Außerdem gibt es ein dunkles Geheimnis in Ritas Vergangenheit: Ihr verstorbener Vater war ein Dieb und hat sich selbst das Leben genommen. Wird Rita diese Schuld mit ihrem Lebensglück zahlen müssen?
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Es schlug zwölf Uhr. Von der Fabrik herüber tönte lautes Pfeifen, das den Arbeitern den Beginn der Mittagspause meldete. Gleich darauf wurde es lebendig auf dem großen Hof, und in dichten Scharen hasteten die Leute ihren Wohnungen zu.
Wilhelm Jordan, der Besitzer der Fabrik, trat als Letzter aus dem breiten Hoftor und ging in Begleitung seines Prokuristen langsam den schmalen Fußweg hinab, der am Ufer des Flusses dahinführte. Die Herren besprachen noch einige geschäftliche Angelegenheiten, bis Jordan am Eingang seiner Villa stehen blieb.
„Adieu, lieber Garnich, grüßen Sie Ihre Frau. Es ist doch alles wohl zu Hause?“
Garnich lüftete seinen Hut und ergriff die Hand seines Chefs. „Danke sehr, Herr Jordan, gottlob ist alles gesund. Bitte, empfehlen Sie mich Ihren Damen! Gesegnete Mahlzeit!“
Garnich ging weiter, und Jordan betrat den schönen Garten, der die Villa umgab.
Von der Veranda grüßten ihn zwei junge Damen, seine Nichte und seine Tochter. Er zog den Hut und sah lächelnd zu ihnen hinauf, ehe er ins Haus trat.
Kurze Zeit darauf stand er vor den jungen Mädchen, die in ihren leichten Sommerkleidern einen bezaubernden Anblick boten.
Die Kleinere, ein reizendes, noch sehr junges Geschöpft, umarmte ihn zärtlich.
„Tag, Papa! Geht es dir gut?“
„Ausgezeichnet, Kleines. Du hast mich heute natürlich sehnlichst erwartet.“
„Wie du das weißt!“
„Ich kenne doch meine Nelly. Gelt, Rita, sie hat mindestens zwanzigmal gesagt: Wenn Papa heute nur pünktlich ist!“
Rita begrüßte ihn lächelnd.
„Gezählt habe ich es nicht, Onkel, aber oft genug ist es geschehen.“
Nelly schmollte ein wenig.
„Ach, mokiert euch doch nicht über mich! Wenn ich erst mal so steinalt bin wie ihr, dann bin ich auch geduldiger.“
Die beiden anderen lachten.
„Du hast sonderbare Begriffe, Nelly. Von mir will ich ja nicht reden, aber Rita mit ihren dreiundzwanzig Jahren kannst du doch unmöglich steinalt nennen.“
Nelly winkte abwehrend mit der Hand.
„Schweig nur von Rita, die hat schon als Urgroßmutter in ihrer eigenen Wiege gelegen! Die lässt es sich nie anmerken, wenn sie ungeduldig ist. Es ist unheimlich, was die an Selbstbeherrschung leistet. Dabei wette ich, dass sie sich genauso wie ich danach sehnt, dass wir endlich aufbrechen.“
Sie sah dabei ihre Cousine mit schelmischem Augenblinzeln an.
„Ich leugne es ja gar nicht, Mausi. Onkel muss aber doch erst einen Imbiss nehmen und sich umkleiden.“
Nelly seufzte.
„Na, dann vergeht wohl mindestens noch eine Stunde.“
Jordan streichelte zärtlich über das lockige Haar seiner Tochter.
„Ich beeile mich, in einer halben Stunde bin ich da.“
Nelly küsste ihn stürmisch.
„Bist mein liebes, goldenes Väterchen! Ach Gott, ich freue mich doch so schrecklich auf das Erntefest.“
Jordan ging, um sich fertig zu machen. Nelly tanzte vergnügt umher.
„Ob Heinz Behringer auch bestimmt hinauskommt nach Wustrow? Versprochen hat er es ganz fest.“
„Dann wird er es wohl auch halten. Liegt dir so viel daran?“
„Weißt du, er tanzt famos, sonst ist er mir gleichgültig. Mit Wolfgang Tribenius unterhalte ich mich viel lieber. Er ist furchtbar nett, aber er wird heute für uns nicht viel Zeit übrig haben, und da muss ich mich halt begnügen.“
Sie hatte das anscheinend sehr gleichgültig gesagt, aber in ihren Augen funkelte der Schalk, und sie bemerkte recht gut, dass ein Schatten über Ritas Gesicht fiel.
„Komm, Mausi, wir wollen uns auch fertig machen, sonst muss dein Vater schließlich noch auf uns warten.“
„Das ist heute das erste vernünftige Wort, das ich von dir höre. Dafür bekommst du einen Kuss.“
Und zärtlich zog sie Ritas Kopf zu sich herunter und drückte ihre frischen Lippen auf ihren Mund.
„Meine kleine Mausi, bist doch mein Liebstes auf der Welt“, sagte Rita zärtlich. Dann gingen sie, um sich für die Fahrt nach Wustrow fertig zu machen.
***
Wustrow lag etwa eine Wegstunde von der Stadt entfernt. Es war seit mehr als zwanzig Jahren im Besitz von Justus Tribenius, der es damals in ziemlich verwahrlostem Zustand billig gekauft hatte. Jetzt war es eines der musterhaftesten Güter im weiten Umkreis.
Justus Tribenius und sein Sohn Wolfgang bewirtschafteten es zusammen.
Justus Tribenius war erst Jurist gewesen, hatte aber, als er eine große Erbschaft machte, seinen Beruf aufgegeben und war Landwirt geworden. Warum, wusste niemand. Er vermied es, darüber zu sprechen.
Bei seinen häufigen Besuchen in der Stadt hatte er vor langen Jahren Wilhelm Jordan kennen und schätzen gelernt.
So war Jordan, der auch Witwer war, heute mit seiner Familie zum Erntefest geladen. Diese Familie bestand außer Nelly und Rita noch aus einer verheirateten Tochter mit ihrem Mann.
Magda Jordan hatte sich vor drei Jahren mit Fritz Claudius verheiratet und lebte in derselben Stadt, nur wenige Straßen vom Vater entfernt.
Auf Wustrow herrschte seit dem Morgen frohes Treiben. Die Haushälterin Jettchen hatte sich Trina und Hanna in die Küche zur Hilfe kommandiert, und es wurde gebraten und gebacken nach Herzenslust.
Für die Gäste des Hausherrn hatte Jettchen ein feines Menü zusammengestellt; das ließ sie sich nicht nehmen.
„Lassen Sie mich man machen, Herr Tribenius! Ich weiß schon alles, und Sie werden zufrieden sein. Ich weiß schon.“
Sie wusste immer alles schon. Sie hörte selten hin, wenn sie einen Auftrag bekam, und ehe sie ihn zur Hälfte gehört hatte, kam unfehlbar ihr „Ich weiß schon!“ Da sie sehr tüchtig und umsichtig war, kam es auch tatsächlich selten vor, dass sie einmal etwas nicht gewusst hätte.
Als Jordan mit seinen Damen vorfuhr, traten ihnen die beiden Männer entgegen.
Die beiden alten Herren saßen bald darauf hinter einer Flasche Wein, während Wolfgang auf Nellys Wunsch mit den beiden jungen Mädchen auf die Tenne hinüberging.
Dort ging es schon lustig zu. Rike brachte eben wieder einen Kuchenberg und wurde mit Hallo empfangen.
Als der junge Herr mit den Damen kam, machten die Leute ehrerbietig Platz, und Nelly war die erste, die sich setzte.
Sie biss kräftig in ein Stück Kuchen hinein und unterhielt sich prächtig. Wolf und Rita sahen ihr lächelnd zu.
Wolf Tribenius ließ seinen Blick kaum von der hohen, schlanken Erscheinung Ritas. Das helle Kleid stand ihr vorzüglich, ihre Bewegungen waren voller Anmut, und in dem ernsten jungen Gesicht prägten sich Gedankentiefe und Seelenreinheit aus.
Ihre Züge waren fein geschnitten, aber nicht regelmäßig. Der Teint glich mattweißen Rosen. Er war rein und trotz aller Zartheit von gesunder Frische. Sie besaß klare braune Augen mit einem goldenen Leuchten auf dem Grund.
Sie ahnte nicht, dass Wolf eine tiefe Neigung für sie hegte. Er beherrschte sich ihr gegenüber. Denn er fühlte, dass er sie beunruhigen würde, falls sie seinen Zustand erkannte, ohne seine Gefühle erwidern zu können. Das wollte er nicht. Erst musste er seiner Sache sicher sein. Und aus lauter Vorsicht widmete er sich Nelly viel mehr als der heimlich Geliebten und erreichte damit, dass sich Rita ihm gegenüber zwar freundlich, aber unnahbar zeigte. Sie glaubte, er bewerbe sich um Nelly und fand das ganz natürlich – wenn es ihr auch weh tat.
Rita unterschätzte sich nicht, aber sie kannte zu viel von der Welt, um nicht zu wissen, dass die verwaiste und vermögenslose Nichte Jordans für die Männer nicht so begehrenswert war wie die Töchter des reichen Fabrikbesitzers. Sie fand sich im Allgemeinen auch ruhig damit ab. Nur in diesem Fall schmerzte es. Sie hatte Wolf immer gern gehabt, ihm alles Große und Gute zugetraut. Sie glaubte nicht, dass er Nelly wegen ihres Reichtums bevorzugte. Nelly war ja so liebenswert und reizend; sie hatte sicher seine Liebe gewonnen, und sie selbst musste sich damit abfinden, so schwer es auch war. Eben neckte sich Wolf wieder mit ihr. Was für gutmütige Augen er hatte, wenn sie auch scharf und energisch aufblitzen konnten! Und so stolz und stattlich stand er da und überblickte die Schar seiner Leute! Wie liebte sie diesen Mann – das Herz tat ihr weh davon.
Da trat er wieder zu ihr. „Fräulein Rita, ist es nicht schön hier draußen bei uns?“
Sie sah ihn an, und ihr Blick war nicht so sicher wie sonst.
„Sehr schön. Deshalb kommen wir ja auch alle so oft und gern.“
„Nur deshalb?“, fragte er.
Sie zwang sich zu einem Lächeln.
„Jetzt wollen Sie eine Schmeichelei hören.“
„Nein, ich schwöre es beim Zeus.“
„Lassen Sie den lieber aus dem Spiel!“
„Nun denn, bei meinem Bart.“
„Dann muss ich’s schon glauben, sonst lassen Sie sich tatsächlich noch einen wachsen.“
„Armer Zeus! Du bist von einem Bart geschlagen. Sind Sie verstimmt, Fräulein Rita?“
„Ich? O nein!“
„Sie machen so traurige Augen; die wissen nichts davon, dass der Mund lächelt.“
Sie erschrak. Merkte man ihr schon an, dass sie litt?
Sie lachte, etwas gezwungen freilich, aber es ging.
„Wie sind Sie scharfsinnig, Herr Tribenius!“, sagte sie spöttisch und wandte sich von ihm ab, um sich neben Nelly niederzulassen.
Gleich darauf fuhr ein Wagen vor. Fritz Claudius mit seiner Frau und seinem Freund Heinz Behringer waren angekommen.
Nelly lief den beiden anderen voran. Ihre blauen Augen hefteten...