Cosic | Konsul in Belgrad | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 128, 240 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Cosic Konsul in Belgrad


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99037-060-5
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band 128, 240 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-060-5
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Bora ?osi?s schelmisch-nachdenkliches Buch umfasst die Zeit zwischen 1937, als er mit seinen Eltern nach Belgrad zieht, und Anfang der 1990er-Jahre, als der Protagonist die Stadt, angewidert vom Nationalismus seiner Landsleute, wieder verlässt. Ganz im Einklang mit seiner selbst gewählten Rolle als Konsul blickt der Autor mit der Distanz eines Fremden abgeklärt und sprachlich virtuos auf Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben zurück. Er erzählt von der deutschen Besatzung, dem Sozialismus unter Tito, vom Leben als Bohemien inmitten eines faszinierenden intellektuellen Biotops, mit Akteuren wie Ivo Andric, Georges Perec, Danilo Ki?, Bogdan Bogdanovi? und anderen, bis herauf in die Neunzigerjahre, als der 'Konsul' 'demissioniert'.

Bora ?osi?, geboren 1932 in Zagreb, lebt seit 1992 in Rovinj / Istrien und Berlin. Wichtigster Autor der Belgrader Avantgarde. Zahlreiche Preise, u. a. Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2002 und Albatros-Preis 2008 gem. mit Katharina Wolf-Grießhaber. Auf Deutsch u. a.: Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution (1994), Die Zollerklärung (2001), Eine kurze Kindheit in Agram (2011), Die Tutoren (2015). Bei Folio: Irenas Zimmer (Gedichte, 2005), Die Vogelklasse (2008), Im Ministerium für Mamas Angelegenheiten (2010).

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Schließlich verbrachte ich im ersten Winter meines Konsulats ein paar Stunden auf der anderen Seite des Flusses, in einer Siedlung bei Freunden der Familie, umgeben von einem Winterwald, tiefem Schnee, einem Zauber, wie ihn diese dichte, eisige Jahreszeit nur außerhalb der Stadt ausübt. Ich erinnere mich, dass sie uns einen vierspännigen Schlitten bereitmachten, als wären wir in Russland, sie wickelten ihren kleinen Gast und dessen Mutter in dicke Decken, unter die Füße legten sie erhitzte Ziegel, ebenfalls in weiche Handtücher gewickelt, dann begann eine mehrstündige Fahrt durch eine Legende, ich denke, so etwas hat sich in meinem Leben nie mehr wiederholt. Denn allein an diesem Wintertag des Jahres 1938 befand ich mich in einer wirklich natürlichen Umwelt, in einer wahrhaften Winterphase des menschlichen Schicksals, wie in einem klassischen Roman. Wenn ich heute darüber berichte, kommt es mir so vor, als wäre alles ein artifizieller Dekor gewesen, arrangiert für meinen Aufenthalt, eine Bühne, die unversehens verschwand, eine Kulisse, die später abgebaut wurde, weil ich so etwas erstaunlich anderes als mein bisheriges städtisches Dasein nie wieder erlebte. Ein menschliches Wesen zwischen neun und zehn Jahren muss sich wirklich allerhand einfallen lassen, um ein möglichst vollständiges Bild von seiner Umwelt zu erhalten. Manchenorts erntete meine Mutter bewundernde Blicke, sie war eine noch junge und schöne Frau, gut angezogen, besonders viel Aufmerksamkeit widmete sie ihren Strümpfen, ihren Schuhen, ihren Hüten. So schien mir, dass mancher Verkäufer von Damenaccessoires meine Mutter gern am Ellbogen fasste, während er sie beriet, als machte es ihm nichts aus, es vor mir, einem zufälligen Zeugen, zu tun. Weil er meinte, ich sei zur Diskretion verpflichtet, wo ich schon in diesem Dienst, diesem Konsulatsdienst, stand. Mama wehrte seine gepflegte Hand nur sanft ab, denn ich hatte bemerkt, dass Personen, die mit zarten Damenartikeln, meist seidenen, umgingen, ebenfalls etwas Seidiges an den Händen hatten, diese Haut, gepflegt und oft auffällig parfümiert. Überhaupt gab es in der Stadt stark parfümierte Menschen, sogar Männer. So erinnere ich mich an einen, der vor einem Kino, wo wir an der Kasse nach Karten anstanden, um mich herumschlich. Er war ziemlich um meinen kleinen Körper bemüht, ständig stieß und berührte er mich am Rücken und atmete mir leicht in den Nacken. Das störte mich gewaltig, sodass ich aus der Schlange ausscherte und der Film Tropennächte ohne mich als Zuschauer auskommen musste. In dieser Sphäre entsteht bisweilen tragisches Unheil, im Erdgeschoss des Nachbarhauses wurde ein erstochener Mann aufgefunden. Er führte ein Geschäft mit Galanteriewaren, und dort hatte ich schon sehr früh festgestellt, dass der Verkäufer ungewöhnlich wippte, wenn er den Damen seine Handschuhe und Gürtel anbot. Als gehörte auch er ihrem Geschlecht an, nur dass er einen Schnurrbart und sehr breite Ringe trug. Ich dachte, diese ballettartigen Windungen um den Ladentisch mit den Seidenstoffen gehörten zu seinem Metier, dennoch wusste man über den Nachbarn, den später ermordeten, dass er gewisse Gewohnheiten pflegte, jenen „Stil“, der mir schrittweise klar wurde. Jedenfalls war der Mann eines Abends in den Keller gegangen, um eine Flasche Wein zu holen, und nicht mehr zurückgekehrt, am Morgen lag er mit zerschmettertem Schädel auf dem Beton. Das Geheimnis des speziellen Sexes vermischte sich früh mit Unklarheiten, die das Gerüst des Detektivromans bilden. Dann entdeckte ich noch etwas. So wie ich bis dahin keine Ahnung hatte, dass sich ein Mann für einen anderen Mann interessieren kann und ihn aus diesem Grund womöglich belästigt, indem er ihn am Rücken oder Hintern betatscht, verstand ich, dass es Familien gibt, die nicht aus Vater, Mutter und ihren Sprösslingen bestehen, sondern dass es viele verschiedene Varianten gibt: Vater und Stiefmutter, Mutter und Stiefvater, dann Mütter ohne jeden Partner, dazu verurteilt, ihre Kinder allein zu ernähren, darüber hinaus Familien ohne Kinder, nur er und sie, in einem Zimmerchen, einem feuchten und ohne genügend Licht, und schließlich irgendein Er, mutterseelenallein, in einem noch schlimmeren Zimmerchen, oder eine Sie, unverheiratet, manchmal hinkend, mit Eltern irgendwo in der Provinz, die sie, beklagenswert, wie sie war, in die Hauptstadt geschickt hatten, wobei später nichts herauskam. Es ist ein wahres Wunder, dass während meiner gesamten Karriere als Konsul nichts in meinem Innern geschah, was mich zur Homosexualität veranlasst hätte, obwohl ich eine durchaus einschlägige Vorbildung genossen hatte. Meine Mutter hatte nämlich damit gerechnet, ein Mädchen zu gebären und nicht mich, sämtliche Schleifen und anderer Firlefanz waren in meinem Geburtshaus rosa statt hellblau. Nach einer kurzen Euphorie, besonders meines Großvaters und meiner Großmutter, weil mit mir als dem ersten Enkel ein Erbe ihres Besitzes geboren war, spielte meine Mutter wieder verrückt und stellte mich als etwas anderes hin. Das äußerte sich vor allem in meiner Kleidung, die sie selbst kreierte und anfertigte, und es war beinahe so, als kleidete sie ein Mädchen an. In meiner Kindheit war man ganz versessen auf die idiotischen Spielhöschen, die eine starke Ähnlichkeit mit Röckchen aufwiesen, besonders wenn sie aus Seide oder Plüsch waren. So wurde eine ganze Generation, meist von Jungen, in eine geschlechtlich zweideutige Lage gebracht, ich weiß nicht, wie wir uns da überhaupt herausgewunden haben. Weil ein Junge von wenigen Jahren mit seinem dünnen Stimmchen, seinem Aussehen überhaupt, vor allem, wenn er blond und grazil ist, schon mit einem Bein im anderen Geschlecht steht, da braucht es nur ein kleines Hebelchen, um sein Leben auf ein anderes Gleis zu lenken. Das mir weder verderblich noch regressiv erscheint, nur sollte man sich aufgrund der eigenen Neigungen dorthin begeben und nicht weil die euphorische Mutter einem halbe Mädchenkleider anzieht und einen mit rosa Schleifchen schmückt. Sehr früh fand ich heraus, dass es zweierlei Homosexuelle gibt, ernsthafte Männer, die mit anderen Männern kommunizieren, ohne sich von den übrigen Männern abzuheben, und Leute am Rand der Clownerie; so schminkte sich ein rundliches Jüngelchen auffällig rot, trug hohe Absätze, schlenkerte sein armseliges Damentäschchen, spazierte derart herausgeputzt vor dem Opernhaus auf und ab und versuchte, in der beinahe provinziellen Stadt einen Markt für seinen Körper, wie komödiantisch verunstaltet auch immer, zu etablieren. Allerdings hatte das damalige Belgrad nicht nur seinen Baron Charlus, einen reichen Dekadenten aus einer angesehenen Familie, dem die Mädchen nicht gefielen, es gab dort einen Mann mit ähnlichen Neigungen, der kongenial altgriechische Texte übersetzte, und einen ganz außerordentlichen Pianisten mit den gleichen Bedürfnissen, den man vor einem wichtigen Auftritt einschließen musste, weil er ausgerechnet in dieser Nacht unbedingt auf die Straße wollte, um zu einem Rendezvous mit dem lieblichen Kellner aus einem nahe gelegenen Lokal zu rennen. Und hätte etwa jemand den Osric, den von Shakespeare, besser spielen können als der schüchterne Homosexuelle, der mit seiner hochbetagten Mutter am Ende der Straße wohnte, auf der er jeden Tag zum Theater hinaufging? Deshalb finde ich auch, dass man in dem ganzen homosexuellen Milieu unterscheiden sollte zwischen dem albernen „Mädchen“ Ljubica mit seinem schäbigen Täschchen und dem genialen, aber unglücklichen Pianisten, dem außerordentlich begabten Schauspieler und dem Altphilologen, der Plutarch übersetzte. All diese Leute lebten um mich herum, und ich als Konsul meiner selbst begann, diese Erscheinungen zu berücksichtigen, mich umzusehen und mir all das für einen künftigen Augenblick zu merken und einzuprägen, wo es mir auch noch gelingen würde, einen Bericht über das Behaltene zu schreiben. Die meisten dieser Personen kannte meine Mutter, meine Botschafterin, wer weiß, wie das kam, und ich begleitete sie bei diesem Kennenlernen, ohne aus dem Staunen herauszukommen, was alles um uns herum existierte. So fiel mir auf, dass es neben den Hauptereignissen im Leben auch irgendwelches Beiwerk gab. Ein solches war Mutters Büchlein, in das sie ihre täglichen Ausgaben eintrug, wie viel sie für Brot, wie viel sie für Salat, wie viel sie für meine neuen Strümpfe ausgegeben hatte. Das war eine Erkenntnis über eine Kultur, eine Schriftkultur, die neben jener anderen existierte, in der das Brot und der Salat gegessen wurden und ich die Strümpfe jeden Morgen, bevor ich auf die Straße ging, anzog. Eigentlich finde ich, dass diese Art Schriftlichkeit ein Zeichen von Verzweiflung ist. Weil Leute wie meine Mutter die vielen Zahlen nicht deshalb notieren, um zu wissen, wie viel Geld sie ausgegeben haben und zu welchem Zweck, sondern um eine Spur zu hinterlassen, und sei es auch die erbärmlichste, dass sie gelebt haben. Daher...


Bora Cosic, geboren 1932 in Zagreb, lebt seit 1992 in Rovinj / Istrien und Berlin. Wichtigster Autor der Belgrader Avantgarde.
Zahlreiche Preise, u. a. Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2002 und Albatros-Preis 2008 gem. mit Katharina Wolf-Grießhaber.
Auf Deutsch u. a.: Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution (1994), Die Zollerklärung (2001), Eine kurze Kindheit in Agram (2011), Die Tutoren (2015).
Bei Folio: Irenas Zimmer (Gedichte, 2005), Die Vogelklasse (2008), Im Ministerium für Mamas Angelegenheiten (2010).



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