E-Book, Deutsch, Band 3, 448 Seiten
Reihe: Gezeiten der Macht
Corvus Ruinen der Macht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99479-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 3, 448 Seiten
Reihe: Gezeiten der Macht
ISBN: 978-3-492-99479-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Zwei: Verbündete
»Soll ich dich töten?« Mit angehaltenem Atem sah Kyrin den Weinenden Mann an, zu dem der große Magier Abuliar geworden war. Schmerz pochte durch ihren Kopf, es fühlte sich an, als wäre ihr Verband zu eng.
Die Statue aus beinahe schwarzem Basalt stand gerader, als Kyrin es bei dem Greis jemals beobachtet hatte. Das lag daran, dass sie selbst seinen Oberkörper aus der seitlichen Neigung gedrückt hatte, während er sich zu porösem Stein gewandelt hatte. Aufrecht erhob er sich dennoch nicht, im Alter war die Wirbelsäule zu sehr verwachsen, der Buckel blieb. Der Kopf befand sich weit vorn. Bei anderen Versteinerten liefen die beiden Wasserströme, die aus den Brauen über die ständig geöffneten Augen flossen, über Hals und Brust, um dann die Beine entlang zum Rost im Boden zu finden. Stattdessen sammelte sich bei Abuliar die Flüssigkeit in den Falten, die Nase und Mundwinkel verbanden, bis die Vertiefungen überliefen und ein Rinnsal vom Kinn herabfiel. Ein kurzer Schwall, der rasch wieder versiegte. Danach sammelte sich das Wasser von Neuem. Dadurch wirkte Abuliar noch mehr wie ein Weinender als die Versteinerten, die um ihn herum standen.
Schonungslos offenbarte die Nacktheit den Verfall, den das Alter bewirkt hatte. Die Beine waren krumm, die Gelenke geschwollen, das Haar schütter, der Hodensack hing tiefer als das eingeschrumpelt wirkende Glied. Es schien, als würde der Greis seine letzten Kräfte aufbieten, um mit beiden Händen das Schild aus weißem Holz vor seiner Brust zu halten. Beleidigung der Tiefe lautete die Beschreibung seines Verbrechens, hineingebrannt vom Eisen des Steinmeisters.
»Blicke nach links, wenn du sterben willst.« Um kein Missverständnis darüber entstehen zu lassen, ob die Richtung von ihm oder von Kyrin aus betrachtet anzuzeigen sei, deutete sie mit der linken Hand zur Seite. Ihr Äffchen Kallin verstand das wohl als Hinweis darauf, wo die Nüsse zu finden seien, um die es schon seit Kyrins Erwachen bettelte. Es huschte über das Pflaster, hielt dann jedoch inne und blickte sich misstrauisch um.
Erst jetzt fiel Kyrin auf, dass sie den meisterlichen Magier, der die Würde einer Schwarzschürze erworben hatte, vertraulich anredete. Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, er stand zwei Ränge über ihr. Seine erniedrigende Bestrafung machte es schwer, ihm mit dem Respekt zu begegnen, den sie für ihn empfand. Ihr Mitleid tötete die Achtung, obwohl sich Kyrin dafür schämte.
Wie bei allen Weinenden Männern waren auch bei Abuliar die Augen das Einzige, was verriet, dass er noch lebte. Trotz des ständig über sie fließenden Wassers waren sie gerötet, aber gesünder als vor seiner Versteinerung. Er war nicht länger blind. Das erste Mal hatte er Kyrin gesehen, als der Zauber sein Fleisch in Basalt gewandelt hatte. Danach hatte Agohn den aus Sandstein gemeißelten Zauber abgebrochen, der das linke Ohr nachgebildet hatte. Die Asymmetrie ließ Abuliars Haupt noch elender wirken, zumal es nur noch einzelne Haarsträhnen besaß, sodass nichts das Fehlen der Ohrmuschel verbarg.
Kyrin überlegte, ob er sie überhaupt verstand. Er hatte ihr häufig das steinerne Ohr zugewandt, damit hatte er wohl besser gehört. Sie wollte jedoch auch nicht schreien, hier, auf den Überresten des Platzes der Reue. In dem nassen Nebel, der vom Wasserfall des Almahn aufstieg, waren Hunderte von Kriegern und Dutzende Imagolems unterwegs, um die Grafen zu schützen, die sich in den Trümmern der Arena trafen.
Abuliar blickte nach rechts. Er wollte leben.
Bislang hatte Kyrin flach geatmet, jetzt stieß sie die Luft erleichtert aus. Sie wandte sich an Asmodel, den Imagolem mit dem faustgroßen Loch in der Stirn, wo der Kristall gesteckt hatte, der die Verständigung mit dem Gravioner Buldagohm ermöglicht hatte. »Leg bitte den Hammer weg.«
Mit einem metallisch hellen Klacken stellte er den Eisenkopf des Werkzeugs ab, das Kyrin auch gesund lediglich mit beiden Händen und nur mit Mühe hätte heben können. Jetzt, mit einer gebrochenen Rippe und dem rechten Arm in einer Schlinge, war daran gar nicht zu denken.
Durch die Erschütterung breiteten sich rings um den Hammer kleine Wellen in den Pfützen aus, die sich zwischen den Pflastersteinen bildeten. Der Bodenbelag hatte sich verschoben, als die Gezeiten der Macht sich gewendet hatten, die Magie in den Berg zurückgeströmt war und die Stützzauber, die das Plateau vor der Arena nach Süden hin verlängert hatten, eingebrochen waren. Zudem stob dichter Nebel vom Fall des Almahn auf, der nun aus der Bergflanke fiel und unmittelbar neben dem Platz der Reue in die Tiefe donnerte, anstatt bergaufzuspringen. Die Luft was nass wie in einer Waschküche, aber die Feuchtigkeit war kalt. Kyrin war froh um die Lederschürze, die zumindest ihre Vorderseite von der Brust abwärts trocken hielt, aber zurück im Palast würde sie als Erstes die vollgesogene Wolle ablegen. Auch die Zauber, die früher eine Lungenentzündung kuriert hatten, waren inzwischen wirkungslos.
Die unzähligen Wassertröpfchen in der Luft verschleierten die Sicht. Böen wehten sie zu Schwaden zusammen und lockerten sie auf, wodurch sie Muster schufen. An der Westwand der Ruine, die einmal die wuchtige Arena gewesen war, wallten sie wie die Flammen eines gierigen Feuers.
»Ich kann nicht versprechen, dass ich Erfolg haben werde«, sagte Kyrin. »Aber ich werde versuchen, Eure Versteinerung rückgängig zu machen. Wenn Ihr einverstanden seid, schaut dorthin«, sie zeigte nach rechts, »und ich werde Euch mit mir nehmen.«
Abuliar bewegte die geröteten Augen im erstarrten Gesicht nach rechts.
Kyrin blickte zu Asmodel auf. Der Steinmann überragte sie um mehr als einen Schritt. »Bitte nimm ihn vorsichtig auf und binde ihn fest, damit er nicht umfällt.«
Die Kraft in Asmodels Steinhänden hätte ausgereicht, um einen Schädel wie eine Tomate zu zerdrücken. Vorsichtig legte er die Hände seitlich an die basaltene Brust des Weinenden Mannes und hob ihn an. Wenn ihm die Last Mühe machte, war es ihm nicht anzusehen.
»Komm her!«, befahl Kyrin dem anderen Imagolem, der sie auf dem Platz der Reue begleitete.
Eines seiner hinteren Beine verursachte ein Scharren, weil es über den Boden schleifte. Es konnte kaum noch einen Beitrag dazu leisten, den Unterkörper in der Waagerechten zu halten. Die Verbindung zum senkrecht stehenden Oberkörper war gekerbt wie bei einem Insekt. Zwei von den vier Armen des Imagolems waren wie die Scheren eines Krebses geformt. Der Stachel, der sich aus dem Hinterleib bog, konnte als Halt für die Seile dienen, die Abuliar fixieren sollten.
Kallin war diese Erscheinung unheimlich. Das Äffchen wich dem vierbeinigen Steinkrieger aus.
Asmodel zögerte, den Weinenden Mann auf dem Rücken des anderen Imagolems abzusetzen. »Hat er einen Namen?«
Kyrin runzelte die Stirn. Darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht. »Ich habe ihn nicht gemeißelt …«, sagte sie zögernd.
»Aber er ist doch beseelt?«
Kerben in der Brust des Vierbeinigen zeugten von den Kämpfen, in denen er für das Tiefe Haus Schneegrund gestanden hatte. Kyrin hatte ihn zuletzt beim Angriff auf das Kastell der Schwertgrats gelenkt. Sie erinnerte sich an den Schwarm von Armbrustbolzen, der ihn getroffen hatte. Jetzt stand er starr, er wartete auf den nächsten Befehl. Wenn dieser nicht käme, würde er als reglose Statue auf dem Platz der Reue ausharren. Wochen-, monde-, jahrelang.
»Der Magier, der ihn geschaffen hat, wird ihm einen Namen gegeben haben«, vermutete Kyrin. »Aber ich kenne ihn nicht.«
»Kannst du ihn nicht nach seinem Namen fragen?«
»Er kann nicht sprechen.«
»Wieso kann ich sprechen?«
»Ich habe dich so modelliert.«
Noch immer hielt Asmodel den Weinenden Mann. Abuliars Tränen troffen auf den nassen Boden. »Aber er versteht uns?«
»Er kann Befehle befolgen. Zu viel mehr reicht sein Verstand nicht.«
»Ich … erinnere mich«, sagte Asmodel. »Da waren viele verschüttete Wege, die meine Gedanken nicht betreten konnten, bis …«
Der Anblick des Steinmanns schmerzte Kyrin. Seine Miene blieb unbewegt und seine Körperhaltung war der Tatsache geschuldet, dass er Abuliar einen Schritt über dem Boden in der Luft hielt. Dennoch bildete sie sich ein, ihm den Kampf um die Erkenntnis seiner Selbst anzusehen, den er in seinem Inneren ausfocht.
»Ich habe deinen Verstand verborgen, aber tief in dir bewahrt«, erklärte sie. »Unverletzt. Und nun ist er geweckt.«
»Kannst du für ihn dasselbe tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Seine Seele wurde verkrüppelt, als sie in den Stein gewandert ist.«
Mit Abuliar in den Händen wandte sich Asmodel um und sah zur Arena hinüber. Im Westen, von wo der Nebel des Wasserfalls heranwehte, war die ovale Umfassungsmauer nahezu unbeschädigt, aber nach Süden hin, an der Seite, die zu ihnen zeigte, war sie ein Trümmerhaufen. Hier hatten fünf der sieben steinernen Giganten gestanden, die sie gestützt hatten. Jetzt waren die zwanzig Schritt hohen Statuen spurlos verschwunden. Da niemand inmitten der Kämpfe die Muße gefunden haben konnte, so gewichtige Kunstwerke wegzuschaffen, stand zu vermuten, dass sie ebenso belebt waren wie die Imagolems. Die Frage war lediglich, ob sie aus eigenem Entschluss gegangen waren oder einem Meister dienten.
»War er ein Gladiator wie ich?«, fragte Asmodel.
Kyrin sah den kleinen Kopf des geduldig wartenden Imagolems an. Die kantigen Flächen schufen nur im weitesten Sinne eine menschliche Anmutung. »Das ist wahrscheinlich.«
»Ich würde gern seinen Namen kennen«, sagte Asmodel.
»Ich werde versuchen, ihn herauszufinden.«
»Vielleicht gibt es Aufzeichnungen zu den Ruhmestaten, die er in der Arena vollbracht...