E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Corvus Das Imago-Projekt
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99077-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-492-99077-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
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2
Gläubige
Mit gespreizten Fingern drückte Berglen die Hand auf die fleischige Wand. Mutter war beinahe so warm wie sein eigener Körper. Kaum merklich zog sich die Wand zurück, verharrte kurz, um dann gegen seine Hand zu drücken. Alles im lebenden Raumschiff veränderte sich, wuchs, schrumpfte, starb ab, trieb erneut Knospen aus. Leuchtkugeln, manche klein wie Erbsen, andere so groß wie eine Faust, kreisten durch das Aderngeflecht, das die organische Substanz der SQUID durchzog. Ihre Bewegung schuf überall an Bord veränderliche Helligkeit.
Erwartungsvoll sah Arquila ihn an. Die Neunzehnjährige war kein Liebling der Mutter, sie war taub für den Gesang des lebenden Schiffs, das in seinem Leib fünfundzwanzigtausend Menschen ein Zuhause mit atembarer Luft, Nahrung und – eine Singularität innerhalb des Schwarms – sogar permanenter Schwerkraft bot. Vielleicht hoffte Arquila, dass sie Mutters Stimme doch noch irgendwann vernähme, obwohl es praktisch niemals vorkam, dass dieser Sinn in ihrem Alter noch erwachte. Berglen erinnerte sich an kein einziges Mal. Aber Arquilas Sehnsucht, zum Kreis der zweihundert Zoëliker an Bord zu gehören, mochte ihren Eifer erklären.
Ihre ohnehin dürre Gestalt verlängerte sich im überaus schlanken Kopf. Er wirkte lang gezogen, vor allem der Bereich zwischen Mund und Augen, den eine schmale Nase teilte. Aus ihren roten Locken schoben sich große Ohrmuscheln, die in mehreren Spitzen ausliefen. Sie trug einen schwarzen Kampfanzug, der eng wie eine ledrige Haut anlag. Auf seiner Oberfläche schimmerten Reflexionen der besonders hellen Lichter. Als Einzige im fünfköpfigen Einsatzteam hatte sie keine Handschuhe angelegt, sie war stolz auf die Zeichnung, die Mutter ihr gegeben hatte. Grüne Ringe wölbten sich aus ihrer Haut, Arquila benutzte sie manchmal als Saugnäpfe.
Die Soldaten hielten Sonicschocker bereit, ihre Gesichter verrieten ruhige Entschlossenheit. Sie würden die Rotraumjünger zur Strecke bringen, aber dazu bedurften sie Berglens Führung.
Die Gruppe stand in einem ellipsoiden Raum mit ungewöhnlich hartem Boden. Ebenso wie die blaugrüne Farbe des Schiffsgewebes deutete das darauf hin, dass sie sich nahe an der Außenhülle befanden. Nichts anderes hatte Berglen erwartet.
Hier hatte die Gütige Mutter ihren Bewohnern gestattet, eine Vielzahl technischer Geräte in ihrem Fleisch zu verankern. Zwischen den Adern verliefen auch Kabelstränge, die zu Sensorplatten, Hangars oder Geschützbuchten führten. Über Gänge, die sich ebenso bewegten wie die Wand unter Berglens Hand, waren sie zu erreichen.
Er schloss die Augen und horchte in sich hinein. Um den richtigen Weg zu finden, musste er auf Mutters Gesang lauschen. Er hörte ihn nicht immer, und auch wenn er sie rief, ignorierte sie ihn oft. Aber jetzt vertraute er auf ihre Hilfe, schließlich war diese Suchaktion in ihrem Interesse. Jedenfalls hatte man ihm das gesagt.
Die Stille in seinem Innern nährte die Zweifel, die Berglen niemals verließen, auch wenn er mit niemandem darüber sprach. Rila hatte ihm befohlen, die Rotraumjünger zu ihr zu bringen. Die SQUID hatte die Frau, die von der MARLIN zu ihnen gekommen war, berührt. Das Ausmaß ihrer Veränderungen ließ keinen anderen Schluss zu, als dass es gerechtfertigt war, sie mit ›Erwählte‹ anzusprechen. Darüber hinaus war sie die Gefährtin von Ugrôn, der diesen Titel schon länger trug und offensichtlich in der Gnade der Gütigen Mutter stand. Rila hatte ihr gemeinsames Kind an Bord gebracht. Wenn die Zoëliker über die drei redeten, nannte man sie ›die Rote Familie‹.
Aber bedeutete das, dass Rila immer Mutters Willen verkündete?
Berglen vermutete, dass Mutter sehr genau über jeden Vorgang Bescheid wusste, der sich in ihrem Leib abspielte. Er hatte ihren fürchterlichen Zorn erlebt. Erst vor Kurzem, im Zuge des Umbruchs durch Ugrôns Erwählung, hatte sie knapp davorgestanden, alles menschliche Leben an Bord zu töten. Im letzten Moment hatte er, Berglen, Ugrôn und letztlich auch Mutter besänftigt. Die Zoëliker hätten das nicht vermocht. Diese Erfahrung der Ohnmacht hallte noch immer als Unsicherheit in ihren Reihen nach.
Wenn Mutter aber die völlige Kontrolle über alles an Bord besaß, und wenn sie der Versuch der Jünger erzürnte, in den Rotraum vorzudringen – jenes merkwürdige, höherdimensionale Kontinuum, durch das sich die SQUID gerade überlichtschnell bewegte –, wieso ging das lebende Schiff dann nicht selbst gegen die Transgressoren vor? War das eine Prüfung des Glaubens? Wollte Mutter den Menschen Gelegenheit geben, ihre Treue zu beweisen, indem sie die Frevler in den eigenen Reihen zur Räson brachten?
Arquila hätte sofort an diese Erklärung geglaubt. Zu Berglens Leidwesen fiel ihm das schwerer. Nur ungern folgten seine Gedanken dem Pfad seiner Zweifel. Wenn Rila, vielleicht sogar die gesamte Rote Familie nicht dem Willen der Gütigen Mutter gehorsam war – sündigte er dann, wenn er ihre Befehle ausführte? Wenn das der Fall war, würde er sehr bald Mutters Zorn zu spüren bekommen, denn niemand arbeitete enger mit der Roten Familie zusammen als Berglen.
Sanft regte sich Mutters Gesang in seinem Fleisch. Es fühlte sich an wie eine Vibration im Bauch und in den großen Muskeln der Schenkel, auch wenn man es nicht mit Tastsensoren erfassen konnte. Zugleich hatte man den Eindruck, nur ein klein wenig angestrengter lauschen zu müssen, um eine Melodie zu vernehmen. Sie blieb unhörbar, und dennoch war sie da. Mutters Lied vermochte jene, die es vernahmen, zu leiten.
Berglen öffnete die Augen und zeigte auf einen von violetten Lippen gesäumten Durchgang. »Dort entlang.«
Arquila ging gemeinsam mit einem Kameraden voran. Dass sie die Transgressoren zur Strecke bringen wollte, war offensichtlich, aber Berglen fragte sich, ob auch ihr eigener Tod ein für sie wünschenswertes Ergebnis dieses Einsatzes gewesen wäre. Im Dienst an der Mutter zu sterben, noch bevor sich das eigene Leben voll entfaltete …
Neunzehn Jahre, dachte Berglen. Auch ihren Bewegungen sah man die Jugend an. Sie kannte keine Verwundungen und keinen Schmerz. Neunzehn Jahre …
Er ermahnte sich, auf Mutters Gesang zu achten. Immer wieder berührte er ihr Fleisch, die Wände des gewundenen Gangs, an einer niedrigen Stelle auch seine Decke, eine geschwollene Ader, über die sie kletterten. Das half ihm, die Verbindung zu ihrer Stimme in seinem Innern zu halten. Mühelos erkannte er, welchen Abzweigungen sie folgen mussten.
Die technischen Komponenten nahmen zu, die Leitungen wurden zu einem Netz, das wie eine metallische Flechte über die Wände wucherte. Es verband Schaltkästen, Kontrollanzeigen, Energiespeicher und Terminals. Schließlich schraubte sich der Gang um seine eigene Achse, wobei die SQUID ein lokales Schwerefeld erzeugte. Es war ein seltsamer Anblick, Arquila vor sich auf dem Weg zu sehen. Erst schien sie schräg zu stehen, dann sogar beinahe auf dem Kopf, bevor Berglen selbst der Drehung folgte. Sein Gleichgewichtssinn vermittelte ihm stets, dass er aufrecht stand, aber wenn er darauf achtete, bemerkte er, dass sich sein Winkel im Vergleich zur Umgebung änderte. Nach zehn Metern war seine Ausrichtung um einhundertachtzig Grad gekippt. Ohne dass sich sein Empfinden geändert hätte, lief er nun auf der Decke. ›Oben‹, ›unten‹ … diese Begriffe waren austauschbar, nur durch die von Mutter erzeugte Schwerkraft definiert.
»Halt!«, rief Arquila vor ihm. »Ergebt euch!« Ohne die Reaktion auf ihre Forderung abzuwarten, streckte sie den Arm mit dem Sonicschocker und löste den Schuss aus.
Berglen hörte ein dumpfes Brummen, aber er wusste, dass der Effekt innerhalb des Wirkungstrichters ein anderer war. Fokussierter Infraschall desorientierte Menschen und bewirkte Muskelstarre.
Schreie ertönten, der Soldat an Arquilas Seite schoss ebenfalls, die anderen drängten nach.
Berglen folgte ihnen mit ein paar Metern Abstand. Der Gang mündete in ein Atrium, einen runden Raum, dessen Decke von einer durchsichtigen Membran gebildet wurde. Hinter deren Schlieren loderte der Rotraum. Er sah aus wie ein Feuersturm mit Flammenzungen und brennenden Strudeln. Einer davon ähnelte einem blutunterlaufenen Auge. Der Anblick dieser Gewalten des hochdimensionalen Kontinuums ließ ohrenbetäubendes Tosen erwarten, aber der Rotraum war vollkommen lautlos. Auch dem optischen Eindruck musste man misstrauen, die menschlichen Sinne waren nicht für diese Umgebung geschaffen. Viele vermuteten, dass die Wahrnehmung von Feuer lediglich der kümmerliche Versuch eines unzureichenden Gehirns war, die Reize zu interpretieren, die eine Kreatur des Einsteinuniversums nur unvollständig verarbeiten konnte.
Auch die menschliche Technologie war nicht für den Rotraum gemacht. Die fünfzehn Meter lange Anordnung von Funkantennen, die diesen Raum beherrschte, war nutzlos, solange sie sich in diesem Kontinuum bewegten. Funkwellen ließen sich nicht durch den Rotraum übertragen, ihnen fehlte das Trägermedium. Das war wohl auch ein Grund, wieso sich in diesem Bereich keine Besatzung befand. Erst das Eintreffen von Berglens Trupp störte die etwa zehn Rotraumjünger, die hier einen eindeutigen Plan verfolgten: Aus mehreren Leitern und einigen Stangen versuchten sie, entlang der keilförmigen Hauptantenne ein Gerüst zu errichten, das bis zur Membran hinaufreichte. Sie hatten es sogar bereits über die Spitze hinaus verlängert, nur noch zwei Meter trennten sie von der durchsichtigen Haut. Hätten sie diese zerstört, wäre der Rotraum über sie hereingebrochen.
Aber...




