Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-552-05746-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die alten Weiber in unserem Dorf haben sich in zwei Lager gespalten. Die einen behaupten, die Pfarrer verlassen unser Dorf immer so schnell, weil die Leute gleichgültig sind, böse und ohne Gottesfurcht. Die anderen meinen, die Pfarrer seien längstens zwei, drei Jahre geblieben, weil sie in der Zeit sich das Geld für ein Auto verdient und einen Bauch zugelegt haben, dann seien sie in andere Dörfer mit noch dümmeren Leuten gezogen, die bereit seien, ihnen mehr Geld zu geben. Und sieh an, wieder geht ein Pfarrer aus unserem Dorf weg. Dieser ist jünger und schöner als die vorher, er hat eine tüchtige Pfarrersfrau und drei Kinder, die er an den Feiertagen zu den Haustoren der Leute schickte, sein Kommen anzukündigen. Er hat auch die Pfarrersfrau zum Geldmachen geschickt. Dann überlegte er sich, in der Schule Religion zu unterrichten und die Kinder im christlichen Geist zu erziehen. Nicht unentgeltlich, gewiss. Ich habe mich sehr gefreut. Ich stellte mir vor, wir würden schöne Dinge zu hören bekommen, die unsere Seele erfreuen. Wir würden keine Prüfungen ablegen oder Tests machen müssen, und das Lernen sollte uns nicht schwerfallen. Großmutter hatte mir so interessant aus der Bibel erzählt und gesagt, der Pfarrer habe ihnen dies alles in der Kirche beigebracht. Ich glaubte, in der Religionsstunde würde unser Pfarrer uns in sanftem Tonfall Geschichten erzählen, und wir würden mit offenen Mündern zuhören. Aber es war nicht so. Anfangs hörte ich ihm gerne zu, denn er erzählte tatsächlich schön, aber es war ein solcher Lärm in der Klasse, dass ich irgendwann überhaupt nichts mehr verstand. Die Kinder hörten nicht auf ihn. Wegen des Lärms ließ er uns Texte abschreiben, die wir dann auswendig lernen mussten, über die göttliche Strafe und die Vergebung der Sünden. Er träumte davon, dass wir brav in den Bänken sitzen, ihm ergeben und liebevoll zuhören, während er uns als ein paar Monster und sündige Dämonen betrachtete. Aber wir sind weder Monster noch Dämonen. Wir sind ein paar von unseren Eltern und der uns umgebenden Welt – und sieh an, jetzt sogar von Gott – wegen unserer schweren Sünden verlassene und bestrafte Kinder. Der Gnade Gottes bedürfen wir sehr viel mehr als Seiner unzähligen Strafen. Die Gnade und der Trost Gottes sind wie Sonnenstrahlen, die einen morgens wecken, und wenn du die Augen aufschlägst, siehst du Mama, die ganz sanft deine Wange berührt und fragt: Ist mein Kindchen aufgewacht? Und das Kindchen schließt getrost die Augen und hofft, es werde sich noch einmal genauso wiederholen. Vor dem Ende des Schuljahres haben die Schüler aus den höheren Klassen beschlossen, die Geduld des Pfarrers auf die Probe zu stellen. Sie haben lauthals herumgeschrien, sich geprügelt und sich in der Religionsstunde schlecht benommen. Die Lehrer aus den Nachbarräumen haben zur Tür hereingeschaut, weil sie glaubten, die Schüler sind allein, ohne die Aufsicht eines Lehrers. Dann haben sich die Schüler einen Augenblick lang beruhigt und sogleich wieder zu lärmen begonnen. Dem Pfarrer hat sich vor Ärger der Bart gekräuselt. Er hat es nicht mehr ertragen können, hat einen der Flegel gepackt und festgehalten, auf einen anderen hat er mit einem Stück Kreide geworfen und ihn anschließend an den Haaren gezogen, dabei hat er ihn wüst beschimpft. Währenddessen filmten zwei Schlaumeier dies mit ihren Mobiltelefonen. Dann hat der Bruder eines der beiden Jungs, Student im Polytechnikum, zwei Filmchen über den »barmherzigen Pfarrer beim Religionsunterricht« ins Internet gestellt. Ich glaube, der Pfarrer verlässt ihretwegen das Dorf, nicht wegen des Geldes. Heute fürchten sich die Lehrer vor den Kindern, nicht die Kinder vor den Lehrern. Es heißt, sie dürfen uns nicht mehr schlagen, sie werden sonst aus dem Unterricht entfernt. Wir haben hier im Dorf auch einen Sozialarbeiter, der uns fragt, ob wir depressive Zustände haben, und uns Broschüren über den Zaun wirft über die Elternliebe und die Vorbereitung der Kinder auf Migrationsprobleme. Als müssten wir auf einen Krieg vorbereitet werden, als würden unsere Eltern nie wieder zurückkehren, und wir würden stets allein bleiben, allein aufwachsen. Unsere Mama wird zurückkehren, auch Vater wird nach Hause kommen, und alles wird wie früher sein. Ich erinnere mich, wie es war, als Mutter und Vater zu Hause waren. Morgens arbeitete Mama, wenn ich aufwachte, machte sie mir etwas zu essen, Vater sah fern. Es kommt mir so vor, als wäre dies vor langer, langer Zeit gewesen, wie in einem anderen Leben. Leid tut mir nur, dass Dan sich an nichts erinnert, und Marcel hat nie erfahren, was es heißt, in einer Familie zu leben, Vater und Mutter an seiner Seite zu haben. Während der Schulzeit ist es morgens am schwersten. Alle schreien, dass sie etwas zu essen haben wollen. Die Schweine, die Hunde, die Hühner. Und die Brüder wollen nicht aufwachen, wollen sich nicht waschen und nicht anziehen. Dan ist ein großer Junge und hilft mir manchmal, wenn er wach ist, mit Marcel. Die Brüder aßen im Kindergarten, und ich schaffte es gewöhnlich nicht, mir irgendetwas in den Mund zu stecken. Ich fütterte alles Viehzeug, aber für mich blieb keine Zeit. Und wenn ich in der Schule war, dachte ich nur noch ans Essen, hätte ich doch wenigstens eine Scheibe Brot gegessen. Und wenn es ein anstrengender Tag mit Prüfungen war, hielt ich es in den letzten Stunden nicht mehr aus. Ich wurde schier ohnmächtig vor Hunger. In der sechsten Stunde hatten wir gewöhnlich Chemie. Ich mochte unsere Chemielehrerin, in diesem Fach verstand ich alles, und die Lehrerin erklärte uns den Stoff klar und deutlich, ohne uns anzuschreien, wir seien Dummköpfe oder Idioten. Manchmal bat ich darum, nach Hause gehen zu dürfen, weil ich Hunger hatte. Ich sagte ihr, dass ich mich nicht wohlfühlte oder dass ich Kopfschmerzen hätte, lassen Sie mich bitte nach Hause gehen. Einmal rief sie mich ins Chemielabor: Ist dir übel, oder hast du Hunger? Und sie gab mir einige Leckerbissen zu essen, dann habe ich mich mit ihrer Tochter befreundet, und wir aßen beide im Laboratorium. Sie sagte zu mir: Meine Tochter hat keinen Appetit, aber mit dir isst sie wie ein Wolf. Sie erklärte mir, wozu all die Schächtelchen, Glaskolben und Reagenzgläser gut sind. Sie hatte dort auch ein altes Radio und stellte uns Musik ein. Chemie ist mein Lieblingsfach geworden, und ich habe mich mit der Tochter der Lehrerin angefreundet. Aber für die anderen Fächer hatte ich nicht die Zeit, mich vorzubereiten, und ich aß auch nicht jeden Tag im Chemielabor. Ich habe Mama gesagt, dass ich nicht so gute Noten habe, dass ich überhaupt keine Zeit zum Lernen habe. Ich komme von der Schule und esse etwas, denn ich falle fast um vor Hunger, dann gebe ich den Hühnern wieder Wasser, füttere das Schwein, denn das frisst dreimal am Tag, wie die Menschen, es hört, wenn ich komme, spürt es, wenn ich esse, und wenn ich ihm nichts gebe, grunzt es und schreit, dass sämtliche Nachbarn erschrecken, dann koche ich, damit wir abends etwas zu essen haben, und wenn etwas übrig bleibt, ich davon auch am nächsten Tag noch etwas essen kann, wenn ich von der Schule komme, dann räume ich im Haus auf oder wasche ein paar Sachen. Und dann geht es auch schon auf halb sechs zu, ich renne zum Kindergarten, damit meine Brüder nicht als Letzte übrig bleiben, verlassen und vergessen zu weinen beginnen. Der Kindergarten ist nicht sehr weit von uns entfernt, aber die Kindergärtnerinnen lassen die Kinder nicht allein nach Hause gehen, jemand muss sie abholen kommen. Ich hole sie beide und muss dann mit zwei kleinen, weinerlichen und lärmenden Brüdern meine Hausaufgaben machen. Manchmal gelingt es mir und manchmal nicht. Mama hat gesagt, das macht nichts, ich soll bloß nicht sitzenbleiben, denn sie legt ohnehin Geld zurück, und ich werde mit einem Vertrag studieren können, wo auch immer ich will, gegen Bezahlung. Wie sollte ich sitzenbleiben? Wenn ich überhaupt nichts lerne und eine Acht kriege, was, wenn ich da auch noch lernte! Und die Chemielehrerin hat zu mir gesagt, ich sei die beste Schülerin, schade nur, dass ich den ganzen Haushalt im Kreuz habe und mich nicht ausreichend vorbereite. Nun gut, es reicht auch so. Gott sei Dank, dass wir keine Kaninchen mehr haben. Was für eine Plage! Meine Cousins haben welche. Und Kinder wie Eltern müssen unablässig Gras herbeischaffen für diese Hasen. Auch gibt es kaum noch Stellen, wo man welches holen kann, und die Kinder verlieren damit so viel Zeit! Die Häschen sind ganz süß, wie kann man die bloß braten, wenn man ihnen zuvor das Fell gestreichelt hat? Jetzt, in den Ferien, da der Kindergarten ebenso wie die Schule für zwei Monate geschlossen ist, kümmere ich mich den ganzen Tag um die Brüder, und die Tage vergehen langsamer. Abends lese ich ihnen aus Büchern vor. Dan wählt das Buch aus, dann will auch Marcel eines aussuchen. Wir lassen ihn. Er mag es, selber mit einem Buch zu kommen, ich soll es aufschlagen und ihm aus seinem Buch vorlesen. Er sucht es sich aufgrund des Umschlags aus, denn er kann noch nicht lesen, er ist noch zu klein. Dan kennt schon zwei, drei Buchstaben, aber er weiß auch, wovon die meisten Bücher handeln, er hat es sich gemerkt, weil ich ihm schon früher daraus vorgelesen habe. Auch Mama las uns aus Büchern vor … Es sind keine Geschichten für sie, aber sie bestehen darauf, dass ich ihnen vorlese. Dann habe ich den Eindruck, dass sie schlafen, aber sie springen beide wieder hoch: Wir schlafen nicht, lies weiter, geh nicht weg. Ein Glück, dass es sie gibt, denn ich würde die Buchstaben verlernen, ich habe keine Zeit mehr zu lesen. Manchmal schlafen die Brüder ein, und ich lese weiter. Eines der Bücher heißt Der Weinbau. Es ist wahrscheinlich ein Buch von...