Buch, Deutsch, 176 Seiten, Format (B × H): 131 mm x 206 mm, Gewicht: 256 g
Eine Kulturgeschichte des Windes
Buch, Deutsch, 176 Seiten, Format (B × H): 131 mm x 206 mm, Gewicht: 256 g
ISBN: 978-3-7374-1223-0
Verlag: Marix Verlag
Dabei erweist sich der Wind als äußerst ambivalent: Als laue Brise, die leise singt, murmelt und streichelt, wird der Frühlingswind zur Chiffre für erotisches Begehren, wogegen der raue Nordwind heult, peitscht und zerstört, sodass ihn auch die Moderne noch oft metaphysisch interpretiert als ein göttliches Instrument der Strafe.
Zudem versinnbildlicht der Wind den Atemhauch des Universums und die Beziehung zwischen atmosphärischer Luftzirkulation und menschlicher Atmung. So gilt ein beständiger Luftzug als reinigendes Mittel gegen aus der Erde aufsteigende giftige Dünste und soll ein Gleichgewicht zwischen der Nutzung guter und der Bezwingung schlechter Wetterphänomene herstellen, welche als Widersacher des Menschen erscheinen.
Weitere Infos & Material
Vorspiel
Erstes Kapitel Der Wind – ein komplexes wissenschaftliches Problem
Zweites Kapitel Das Alltagswissen über den Wind
Drittes Kapitel Die Äolsharfe. Der Wind als Stimme der Natur
Viertes Kapitel Neue praktische Erfahrungen mit konkreten Winden
Der Ballon, ein »Spielball der Lüfte«
Der Sandsturm in der Wüste
Der Wind im Giant Forest
Fünftes Kapitel Der Einfluss der biblischen Vorstellungen vom Wind
Sechstes Kapitel Die epische Macht des Windes
Siebtes Kapitel Ossian und Thomson: Vorstellungen vom Wind im Jahrhundert der Aufklärung
Achtes Kapitel Sanfte Brisen und zärtlicher Lufthauch
Neuntes Kapitel Das Rätsel des Windes im 19. Jahrhundert
Zehntes Kapitel Kurzer Spaziergang im Wind des 20. Jahrhunderts
Elftes Kapitel Der Wind, das Theater und das Kino
Nachspiel
Vorspiel
Die Gesetzmäßigkeiten des Windes erschließen sich den Gelehrten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Zuvor erfolgte jedwede Erfahrung und Beschreibung dieses geräuschvollen Nichts allein anhand verschiedener Sinneseindrücke. Der Luftstrom – unsichtbar, anhaltend und unvorhersehbar – schien bestimmt durch eben diese substanzlose, unbeständige und vergängliche Beschaffenheit. Die Flüchtigkeit des Windes, der scheinbar die unendliche Weite beförderte, galt als Erklärung dafür, dass man nicht genau wusste, welchen Ursprung und welches Ziel er hatte.
Ein jeder konnte ihn spüren in seiner Präsenz, seiner Stärke und seiner Macht. Bisweilen bläst der Wind nur, manchmal aber schreit er, brüllt oder heult: Er steht vor allem für Lärm und Getöse. Mitunter scheint er zu wimmern und zu klagen wie eine gequälte Seele, die zur ewigen Verdammnis verurteilt ist. Seine Wucht ruft Entsetzen hervor: Der Wind ist ein brutaler Angreifer, er peitscht, stürzt um und entwurzelt und wurde daher mit dem Zorn gleichgesetzt. Zudem reißt er fort, verschleppt und zerstreut alles auf seiner Flucht. Er kann austrocknen und ein Feuer anfachen. Doch gibt es auch Winde, die seufzen, die streicheln und zuweilen wie das Ebenbild eines Liebhabers anmuten.
Dabei kann der Wind in ganz unterschiedlicher Weise auf den menschlichen Körper einwirken: Hier lässt er einen frösteln, dort meint man zu ersticken. Seit der Antike glaubte man, dass er eine reinigende, gesundheitsfördernde Kraft hatte, aber auch dass er – im eigentlichen Wortsinn – verpesten und vergiften konnte. Kurzum, der Wind, den Victor Hugo »den Schluchzer der unermesslichen Weite, diesen Hauch des Weltenraums, diesen Odem des Abgrunds« nannte, rief über die Zeiten hinweg Angst, Schrecken und Abscheu hervor.
Die obigen Ausführungen könnten die Vermutung nahelegen, der Wind in seinen immer gleichen Erscheinungsformen könne kein Gegenstand der Geschichtswissenschaft sein. Doch ist dies keineswegs der Fall. Denn die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse seit Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Überzeugung von den weit entfernten Entstehungsorten der Winde sowie die Erfassung ihrer Gesetzmäßigkeiten und ihres Verlaufs sind durchaus historische Fakten – ebenso wie die neuartigen Erfahrungen, die man seitdem mit dem Wind auf Berggipfeln, in der Wüste, mitten in riesigen Waldgebieten oder erst recht im Luftraum gemacht hat.
Darüber hinaus hat sich in derselben Epoche durch das Aufkommen des sogenannten »meteorologischen Ich« die Palette der Wahrnehmungsweisen des Windes sowie der entsprechenden Sinnesempfindungen stark erweitert. Von diesem Zeitpunkt an hat das literarische Thema »Wind« die Schriftsteller als Inspirationsquelle nicht mehr losgelassen. Dabei haben sich sowohl die Vorstellung als auch die Rede und der Traum vom Wind in all ihren Facetten kontinuierlich weiterentwickelt; zudem werden sie durch die Theorie des »Erhabenen« bereichert, durch die Verherrlichung der Natur in der deutschen Dichtung und generell der Romantik, sowie – nicht zu vergessen – durch die neuen Deutungen, die die epische Literatur nach und nach beigetragen hat, welche dem Wind im Laufe der Jahrhunderte gleichfalls eine grundlegende Bedeutung zuwies.
Demnach ist es erforderlich, von Beginn dieser Studie an genauestens den jeweiligen Wissensstand bzw. den Grad an Unwissenheit herauszustellen, will man die verschiedenen Wahrnehmungsweisen des Windes wirklich begreifen. Aus diesem Grunde soll hier mit einer Darstellung des wissenschaftlichen Wendepunktes ganz am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen werden, insbesondere mit der Entdeckung der Zusammensetzung der Luft. Erst im Anschluss daran sollen die Fortschritte im Verständnis der atmosphärischen Luftzirkulation beschrieben werden und auch die zunehmenden Erfolge in der experimentellen Auseinandersetzung mit konkreten Winden. All dies soll freilich unter ausdrücklicher Berücksichtigung jener ästhetischen Theorien erfolgen, die damals die durch die Kraft des Naturelements ausgelösten Gefühle beherrschten.
Nach diesem Ausflug mitten in die reale Erfahrungswelt soll in den folgenden Kapiteln in groben Zügen dargelegt werden, in welchen Deutungen und vor allem Träumen Künstler, Schriftsteller und Reisende seit der Antike dieser unvergleichlichen Macht, diesem unlösbaren Rätsel »Wind« Ausdruck verliehen haben. Denn diese Quellen haben sich im 18. und 19. Jahrhundert mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den jüngsten Naturerfahrungen vermischt und zu einer Erneuerung der Vorstellungswelt geführt.
Mit einem Wort: Vor den Augen des Historikers zeichnet sich ein gewaltiges Forschungsfeld ab, zumal der Wind selbst ebenfalls – oder vielleicht vor allem – ein Symbol der Zeit und des Vergessens ist. Daher sollten wir in uns gehen und über folgende Formulierung Joseph Jouberts nachsinnen: »Notre vie est du vent tissé« (»Unser Leben ist aus Wind gewoben«).