Coppo | Der Morgen gehört uns | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 121 mm x 189 mm

Coppo Der Morgen gehört uns

Roman. Was bringt einen sensiblen Jungen aus gutem Hause dazu, nach rechts abzudriften?
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-910372-30-6
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman. Was bringt einen sensiblen Jungen aus gutem Hause dazu, nach rechts abzudriften?

E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 121 mm x 189 mm

ISBN: 978-3-910372-30-6
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Bei mir fing es mit Liebe an. Der Hass kam später.' Warum wählt die Jugend rechts? Dieser Roman versucht, eine Antwort zu geben. In diesem Sommer wird Ettore 18. Mit seinen Eltern, die verlernt haben, miteinander zu reden, lebt er in einem kleinen Ort bei Mailand. Der einzige Mensch, dem er sich anvertraut, ist seine Großmutter Elsa. Das ändert sich, als er die Schule wechselt. Dort lernt er den charismatischen Giulio kennen, der ihn in den Kreis der Federazione, einer faschistischen Jugendorganisation, aufnimmt. Gemeinsam gehen sie zum Demonstrieren auf die Straße und wirken an etwas Großem, Gerechten mit, wie Ettore denkt. Als es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Gegenseite kommt, ist er wie elektrisiert. Und verheimlicht Elsa erstmals etwas. Aus Angst, dass der Weg, den andere für falsch halten, für ihn der einzig richtige sein könnte. Atmosphärisch und schmerzhaft gegenwärtig erzählt Davide Coppo von einer gefährlichen Anziehung und seiner eigenen Vergangenheit.

Davide Coppo ist Chefredakteur der Sportzeitschrift Rivista Undici und schreibt daneben u.a. für GQ. Er lebt in Mailand und ist Inhaber einer kleinen Weinbar. 'Der Morgen gehört uns' ist sein erster Roman.
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SCHULJAHR
2000/2001


2


Die ersten Bilder der Doku zeigten Hunderte junger Körper in choreografierter, aus komplizierten geometrischen Figuren bestehender Bewegung. Dann wurde der Bildausschnitt weiter: Ein volles Stadion, Menschenmassen auf den Tribünen. Soldaten marschierten im Gleichschritt, streckten Banner und Fahnen in die Höhe. Alles in Schwarz-Weiß. Menschenmassen auch auf den Plätzen draußen vorm Stadion. Der Mann auf dem Balkon gestikulierte furios.
Zum ersten Mal sah ich diese Bilder in meinem letzten Jahr an der Mittelschule, im Frühling, nur wenige Monate bevor ich aufs Gymnasium wechselte. Dank der neuen Lehrerin, die in dem Jahr an die Schule gekommen war, fand der Geschichtsunterricht öfter im Videosaal als im Klassenzimmer statt. Sie hieß Di Livio, hatte kurzes Haar, und man konnte wirklich nicht behaupten, sie sei eine attraktive Frau. Groß war sie, bestimmt eins fünfundsiebzig. Sie trug gerade geschnittene Hosen und bequeme Sportschuhe, dazu ein in die Hose gestecktes, olivgrünes Polohemd. Mir kam sie immer eher ernst vor als traurig. Auch ihre Stimme war männlich fest. Wir Jungs witzelten über den schlichten Look, der so anders war als der unserer Mütter, Tanten und Omas und all der anderen Frauen, die wir ringsum erlebten. In der Pause nannten wir sie heimlich Lesbe oder Transe und lachten dann über diese verbotenen Wörter.
Im letzten Jahr der Mittelschule Geschichte zu unterrichten, hielt ich damals für den vielleicht schönsten Job, den man als Lehrer haben konnte, denn da wurden die Kriege durchgenommen, Dinge, die noch nicht allzu lange her waren, von denen die Eltern und Großeltern erzählten, die einen berührten. Allerdings hatte auch dieses Schuljahr so dröge begonnen wie alle anderen: Warum die Revolution von 1848, von der ich davor nie gehört hatte, so wichtig sein sollte, war mir schleierhaft. Die Industrialisierung ödete mich genauso an wie der Chemieunterricht, ich begriff nicht, wer in den Burenkriegen gegen wen gekämpft hatte, und auch der italienische Kolonialkrieg ließ mich kalt, unfähig wie ich war, zu erkennen, was all das mit meiner Gegenwart zu tun haben sollte.
Mein Interesse erwachte mit dem Frühling und den Videos. Unsere letzten Schultage waren angebrochen, der letzte Kindheitssommer, vor uns ein weiter Horizont. Die Bilder der Dokus waren körnig. Die Gestalten bewegten sich schneller als normal, was lustig aussah. Sie grüßten einander mit gestreckten Armen und trugen eine sonderbare Kleidung: Hüte in der Art eines Zylinders oder Fezes, Pluderhosen und kniehohe Stiefel.
Was ich damals daran fand? Das habe ich mich Jahre später oft gefragt. Meine Antwort: ein Gefühl der Ordnung, des Glücks, der Perfektion. Alles schien zu laufen wie geschmiert, alles bewegte sich in dieselbe Richtung. Eine Welt der Klarheit, ganz ohne Zweifel und Ängste. Eine Welt ohne Schuldgefühle.
Thematisch waren die Filme alle gleich. Professoressa Di Livio war wild entschlossen, uns mit wenigen Worten, aber umso mehr Fernsehstunden, die Komplexität eines ganzen Jahrhunderts – des zwanzigsten – einzubläuen. Immer nur Dokus, immer Märsche, Reden und Versammlungen, gestreckte Arme und schrille Stimmen aus dem Off, die über die Größe Italiens und eben jenes Mannes sprachen, um den sich die Filme letztendlich drehten: Benito Mussolini.
Wir, die Schüler, saßen eher ungeordnet im Videosaal. Der Fernseher, so ein großer, schwerer Kasten, stand auf einem Rollwagen, im Fach darunter der Videorekorder, genauso schwarz wie der Apparat. An manchen Tagen setzte ich mich möglichst dicht neben eine ganz bestimmte Klassenkameradin, von der Dunkelheit verführt, ihre Finger zu berühren, ihre Hände, ihren Unterarm – eine blinde, knisternde Verlockung. Manchmal ist es tatsächlich passiert: Mit den Fingerspitzen malten wir einander auf die Haut. Ein zahmer Körperkontakt, und doch der erste meines Lebens, der mich erregte. Dann wurde es hell, Alessia und ich sahen einander an, und alles war vorbei. Unsere Beziehung existierte nur in Form dieser unsichtbaren Berührungen.
Am Ende fesselten mich die Märsche und Choreografien aber stärker als Alessias Finger, sodass ich sie bald nicht mehr suchte. Gesprochen haben wir darüber nie. In den folgenden Jahren fragte ich mich manchmal, wohin Alessia mich hätte führen können, wenn ich sie gelassen hätte. Und wieso eigentlich hat sie mich nie etwas gefragt?
Bei der Abschlussprüfung bekam ich die Bestnote. Zum ersten Mal war ich die Nummer eins. Ich hatte ein Referat über Japan vorbereitet; die explosive, ständig gefährdete Geografie dieses Archipels fand ich faszinierend. Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki beeindruckten mich nicht so sehr wie der Feuergürtel unterirdischer Vulkane, diese künftige Zündschnur des Weltuntergangs, und dazu die Erdbeben und Tsunamis, die gesamte unausweichliche Zerbrechlichkeit dieses Landes, seine geologische Verdammtheit. Damals stellte ich mir zum ersten Mal eine Frage, die mich in den folgenden Jahren auf verschiedene Weise immer wieder beschäftigen sollte: Wie konnte man an einem Ort leben, der in ein paar hundert oder tausend Jahren von der Bildfläche verschwinden würde, ohne jede Aussicht auf eine Rettung? Manchmal gab ich mir die Antwort selbst: Na, weil das eben erst in ein paar tausend Jahren passieren würde! Das aber konterte ich sofort mit der nächsten Frage: Wie konnte man irgendwas aufbauen, im Wissen, dass jeder Samen, jeder Ziegelstein und jedes Wort dazu verurteilt wären, früher oder später für immer zu verschwinden, vom Meer oder den Flammen verschlungen zu werden?
Am Tag, als die Ergebnisse ausgehängt wurden, fand für die künftigen Gymnasiasten eine Abschiedsfeier mit den Lehrerinnen der vergangenen Jahre statt. Ich war immer noch voller Freude über meine Noten, aber vor allem war ich nervös: Die Rolle des Klassenbesten hatte ich noch nie gespielt, und ich fühlte mich nicht wohl in meiner neuen Haut. Im Klassenzimmer traf ich meine Mathelehrerin Bertoldo. Sie stand am Fenster und sah aus wie ein kleiner Hund mit dunkler, platt gedrückter Schnauze.
»Und, Ettore, wohin soll’s jetzt gehen?«, fragte sie.
»Aufs humanistische Gymnasium.«
Das hatte ich mir in den Kopf gesetzt, bloß aus einer Laune heraus; zumindest würde ich mich später so daran erinnern.
Professoressa Bertoldo sah mich zerknirscht an. »Ich würde dir eher zur Fachoberschule raten.«
Manche Erinnerungen überdauern entgegen aller Logik die Zeit. Sogar Jahre später sah ich noch das Hundegesicht der Bertoldo vor mir, praktisch jede Faser ihres malvenfarbenen Seidenhemds, den Lippenstift und die Ohrringe mit den goldgefassten Malachiten. Letztere erkannte ich schon damals, weil auch meine Mutter häufig welche trug, in Form von Ketten oder Ohrringen, und weil ich deren Grün immer so anziehend und mysteriös fand. Einen Moment lang sahen wir einander schweigend an, dann drehte ich mich um und ging. Damals hielt ich das für einen Sieg. Ich bin ihr nie wieder begegnet.
Auch die Freude meiner Eltern war unerwartet und groß. Beim Abendessen zu Hause erzählte ich ihnen von dem kurzen Gespräch mit Professoressa Bertoldo. »Blöde Ziege«, sagte meine Mutter nur.
Ich beschloss, nicht mehr daran zu denken.
Der Sommer stand schon vor der Tür.

3


Die großen Ferien vor dem Gymnasium waren unsere letzten als Kinder. In wenigen Wochen müssten wir jene unsichtbare Schwelle überschreiten, die ich zwar noch nicht kannte, aber schon Monate im Voraus zu fürchten begonnen hatte.
Anfang Juli brachten meine Eltern mich mit dem Auto nach Crema, zum Ferienhaus von Giacomo, einem Klassenkameraden, der auf dasselbe Gymnasium wechseln würde wie ich. Giacomo verbrachte die erste Hälfte des Sommers immer in dieser flachen, ruhigen Gegend, in einem alten Landhaus, das auf einer Seite von einem Maisfeld gesäumt wurde und auf der anderen von einer Landstraße, auf der nur ein Bus und eine Handvoll ewig rasender Autos unterwegs waren. Seine Großeltern lebten immer schon dort, im Garten wuchsen Obstbäume, vor allem Äpfel und Pfirsiche. Nirgendwo hatte ich je so hohe Decken gesehen; oben in den Ecken schimmerten Spinnennetze. Eine Mauer aus grauem Beton mit einem Kamm aus Flaschenscherben schirmte den Garten vor der Außenwelt ab. Der geflieste Boden blieb das ganze Jahr über kühl.
Ich bekam ein Zimmer ganz für mich allein, ein Einzelbett mit Sprungfedern unter der Matratze, die bei jeder winzigen Bewegung quietschten. Das fiel mir gleich am ersten Abend auf, als ich mich vor dem Einschlafen im Bett herumwälzte und dabei war, mir ein Vergnügen zu verschaffen, das für mich noch neu, berauschend und rätselhaft war.
Giacomo war anders als ich, das wussten wir beide. In mancher Hinsicht bewunderte ich ihn, aber manchmal fand ich ihn auch ein wenig dumm. Allerdings fand ich manchmal alle außer mir dumm, oder zumindest die meisten. Solche Gedanken beschäftigten mich noch nicht lange, und ich verstand sie selbst noch kaum, spürte aber zum ersten Mal eine Kluft zwischen einem unscharf begrenzten »Ich« und den unscharf begrenzten »Anderen«.
Giacomo war auf eine Weise gebaut, die schon eine erwachsenere Figur vorausahnen ließ: Im Gegensatz zu meinen höchstens angedeuteten Muskeln waren seine klar definiert; die Brust wölbte sich über den Rippen, die Waden waren kräftig. Beim Gehen sah man seine Gesäßmuskeln zucken.
In unserem Duo übernahm ich die Rolle des Kleinen, Stillen, Dünnen. Ich bewunderte Giacomo für seine körperliche Reife – und auch für die Leichtigkeit, die er ausstrahlte. Eine Leichtigkeit, die man brauchte, um morgens Punkt sieben aufzustehen, als wäre...


Coppo, Davide
Davide Coppo ist Chefredakteur der Sportzeitschrift Rivista Undici und schreibt daneben u.a. für GQ. Er lebt in Mailand und ist Inhaber einer kleinen Weinbar. »Der Morgen gehört uns« ist sein erster Roman.

Schönherr, Jan
Jan Schönherr lebt in München und hat Autor:innen wie Ian McGuire, Jack Kerouac und NoViolet Bulawayo übersetzt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Bayerischen Übersetzerstipendium.



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