E-Book, Deutsch, 350 Seiten
Coovadia / Wussow Vermessenes Land
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-88423-534-8
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-88423-534-8
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zehn Tagen im Leben Südafrikas, verteilt über vier Jahrzehnte von 1970 bis 2010 in denen aus Südafrika ein anderes Land wurde. Ein Kaleidoskop südafrikanischer Wirklichkeiten, in dem sich fiktive Charaktere mit realen Personen mischen. Ein wichtiges Buch, das tiefe Einblicke darüber gibt, wie das Land am Kap sich von der Apartheid befreite.
Imraan Coovadia ist in Durban, Südafrika geboren, studierte in Yale, lebte abwechselnd in New York und Durban und lehrt heute an der University of Cape Town Literaturwissenschaft und creative writing. Für seinen dritten Roman »High Low In-Between« (2009), dt.: »Gezeitenwechsel« (Wunderhorn, 2011), erhielt er 2010 den University of Johannesburg Prize und den Sunday Times Fiction Prize.
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Imraan Coovadias neuer Roman spannt einen Bogen von einer Internatsschule im Natal der 1970er Jahre, u¨ber sowjetische Spione im London der 1980er, dem Rugby Weltcup 1995 und der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Su¨dafrika bis zu den gegenwärtigen politischen Ränkespielen.
Vermessenes Land erzählt von zehn Tagen im Leben Su¨dafrikas, die u¨ber vier Jahrzehnte von 1970 bis 2010 verteilt sind, in denen aus Su¨dafrika ein anderes Land wurde, wie die große Welt in das Leben von wichtigen und ganz gewöhnlichen Su¨dafrikanern eindringt und es auf den Kopf stellt. Wie Gewalt, Befreiung und Politik bis ins tiefste Innere der Charaktere vordringen und ihre Spuren hinterlassen. Die von Coovadia sorgfältig und mit großer sprachlicher Präzision ineinander verwobenen Geschichten erzählen von unterschiedlichen Zeiten und Herausforderungen. Ein Kaleidoskop su¨dafrikanischer Wirklichkeiten, in dem sich fiktive Charaktere mit realen Personen mischen. Politiker, Philosophen, Schriftsteller, Freiheitskämpfer, Diebe, Bewahrer und Verräter bevölkern dieses so wichtige Buch, das tiefe Einblicke daru¨ber gibt, wie das Land am Kap sich von der Apartheid befreite und durch eine schwierige Umwandlung stolpert, deren Tempo seine Menschen oft nicht standhalten können. 1971 wechselte Su¨dafrika vom englischen Maßsystem zum – wie manche behaupten – genaueren metrischen System. So, wie ab da Straßen vermessen oder Flu¨ssigkeiten gemessen wurden, begann die Apartheid-Regierung nun auch den Wert von Menschen noch genauer an ihrer Hautfarbe zu messen. Coovadias Geschichten vermessen und handeln von einem kontrollierten und bu¨rokratischen Su¨dafrika. Ein bewegendes Buch u¨ber die Zeit des su¨dafrikanischen Übergangs von 1970 bis 2010, von den Gräueln der Apartheid bis zu den unsicheren Zeiten der Gegenwart. Die zehn Geschichten tragen den Geist aller fu¨r Su¨dafrika wichtigen geschichtlichen Momente in sich und stellen dabei die Leben einiger Menschen in den Mittelpunkt, deren Geschichten wiederum kunstvoll-komplex miteinander verwoben sind.
1970
SCHULZEIT
Der Jaguar wollte nicht anspringen. Ann saß hinter dem Lederlenkrad und beobachtete, wie das rubinrote Licht im Armaturenbrett schwächer wurde. Neils verstorbene Mutter hatte ihr das Auto vermacht, damals, als sie im Krankenhaus lag und trotz eines Halskatheders mit Füllfederhalter Briefe ans Parlament schrieb. Geschenke ihrer Schwiegermutter abzulehnen war schwierig. Manchmal wirkte das Gesicht der alten Frau geradezu versteinert. Ann erspähte ihren Nachbarn auf seiner Veranda. Sie stieg aus und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Mackenzie war ihre einzige Chance. Er half ihr gern. Als die Stromversorgung einmal ausgefallen war, ließ Mackenzie seinen Diener eine Trittleiter bringen, war zum Schaltkasten hochgestiegen und hatte nacheinander die schwergängigen, grünen Schalter umgelegt, bis er die kaputte Sicherung fand. Im Juli, als die Leute vom Special Branch kamen, Neil war nicht da, hatte Mackenzie sich zur moralischen Unterstützung ins Wohnzimmer gesetzt. Er las auf dem Sofa seine mitgebrachten Zeitschriften, das Scope, ein Männermagazin sowie die Creamer’s Illustrated News, ein Technikjournal, während die Polizisten Neils Schreibtisch unter die Lupe nahmen, die im Adressbuch umkringelten Nummern überprüften und Schränke durchwühlten. Mackenzie brachte seinen Diener mit, einen muskulösen Alten in den Sechzigern, der kerzengerade hinten im Hillman Avenger seines Arbeitgebers saß. Einen Augenblick lang glaubte Ann, Mackenzie würde ihr die Hand auf die Schulter legen. Stattdessen legte er sie auf die Motorhaube des Jaguars. – Es liegt an der salzhaltigen Luft. Ein Motor, der fünf Jahre London übersteht, schafft hier gerade mal achtzehn Monate. Ihr Mann sollte sich mal um seine Wartung kümmern. – Ich richte es ihm aus. – Setzen Sie sich rein und lösen Sie die Handbremse. Der Bursche hier schiebt Sie die Straße rauf und Sie können dann den Motor anlassen. Wenn Sie zurückkommen, müsste alles wieder in Ordnung ein. Auf der Autobahn lädt sich die Batterie von selbst wieder auf. So betagt er auch war, Mackenzies Diener fing an zu schieben. Dick traten auf seinen dunklen Armen die braunen Adern hervor. Sofort überzog ein Schweißfilm seine Haut. Am oberen Ende der Straße hielt er ein. Abwärts sprang der Motor sofort an. Als Ann an der Caltex-Tankstelle vorbeikam, hatte er bereits Fahrt aufgenommen. Beim Blick in den Rückspiegel sah sie Mackenzies Diener erschöpft auf der Straße stehen. Ihr fiel ein, dass sie seinen Namen nicht wusste. Aber sie war sich ja nicht einmal ihres eigenen sicher. In erster Ehe hatte sie noch Ann Rabie geheißen, davor war sie Ann Bowen, deren Vater, ein Kommodore der Royal Navy, ihre Mutter während eines Landurlaubs in Durban auf einem Ball kennengelernt hatte. Aus Gründen, die in der Beziehung zwischen ihr und Neil lagen, hatte sie den Wechsel zu Ann Hunter nie ganz vollzogen. In der Innenstadt parkte sie vor dem Kaufhaus Greenacres. Einige Verkäuferinnen kleideten gerade die Schaufensterpuppen neu ein, mit Nadeln zwischen den Lippen, um die Kleider festzustecken. Irgendetwas an den Drahtgestellen und den klebrigen Pinselstrichen auf den Armattrappen verstörte sie. Die Puppen würden den Wagen mit einem Fluch belegen. Nach ihrem Gespräch mit Edward Lavigne würde sie in dieser Pappmascheegesellschaft warten müssen, bis der Laster von der Automobile Association angefahren kam. Sie beeilte sich. Ihr Sohn Paul war mit Alkohol auf dem Schulgelände erwischt worden. Derartige Vergehen wurden im Curzon College schwer geahndet. Die Strafe konnte zu einem Schulausschluss für das gesamte Michaelmas Trimester führen. Edward Lavigne war der Sprecher des Schulaufsichtsrats. In einem seiner ersten Briefe hatte Paul geschrieben, für Lavigne sei das College ein Ort, an dem Pünktlichkeit gleich nach Gottesfurcht komme. Eine zwanzigminütige Verspätung würde einen äußerst ungünstigen Eindruck machen. Ann ging an Telefonzellen vorbei, die von weißen Männern und Frauen belegt waren. Der Zeitungshändler breitete, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt, seine ausländischen Presseerzeugnisse aus. In den Läden wurden Schilder und Flaggen verkauft, auf denen die Provinz Natal als letzter Außenposten des British Empire gepriesen wurde. Als Schmiede desselben zog das Curzon College die Söhne von Fabrikbesitzern und Farmern aus den Midlands an, Mitglieder der United Party, die mit dem Gedanken spielten, den einen oder anderen gebildeten Bantu, Rechtsanwalt und Bankmanager aus Durban in ihre erlauchten Kreise aufzunehmen. Lavigne stand am Eingang des Royal Hotel. Er hatte breite Schultern, trug einen Blazer, eine graue Hose und schwarze Schuhe, die er wahrscheinlich ebenso energisch bürstete wie seine Zähne. Jedermann in Curzon College putzte seine Schuhe selbst, egal ob Neuling oder Aufsichtsschüler, Lehrer oder Schulleiter. Mit seinen tadellos polierten Schuhen stand Lavigne zwischen den Portiers, den Blick auf die vorbeiratternde Straßenbahn gerichtet. Er bemerkte Ann erst, als sie neben ihm stand. – Mr Lavigne, Edward, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Aber mein Wagen sprang nicht an. An jeder roten Ampel hatte ich Sorge, er bleibt stehen. – Macht nichts, Mrs Rabie. Ich muss Sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass ich um 13 Uhr am anderen Ende der Stadt den nächsten Termin habe. Die wenigen Tage, die ich in der Stadt verbringe, sind völlig ausgefüllt. Ich habe einen Tisch im Teesalon reserviert. Ann ging an den Portiers vorbei, nahm deren lange weiße Lederhandschuhe und hohen, roten Kopfbedeckungen wahr. – Übernachten Sie hier? – Das College hat eine Vereinbarung mit dem Hotel, wir bekommen die Zimmer günstiger. – So meinte ich das nicht. – Der Vorstand der Hotelgruppe ist ein Ehemaliger. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Aufsichtsrats, dass unsere Schule einen gewissen Standard hält. Zum Teesalon müsste es hier langgehen. Ann ging an tapezierten Räumen und einer Reihe Pflanzen in großen Messingkübeln vorbei. Neben dem Fahrstuhl hing ein langer, messinggerahmter Spiegel, in dem sie sich selbst erblickte und einen Kellner mit Weste, der einen Servierwagen in die entgegengesetzte Richtung schob. Die Hotelbelegschaft war in Lauerstellung, auf der Suche nach irgendeinem Grund, sich auf einen Gast stürzen zu können. Seit ihrer Rückkehr aus Paris missfiel ihr diese Omnipräsenz von Bediensteten. Der Teesalon war mit einem durch die Ösen von vier glänzenden Messingständern geführtes Seil abgetrennt. Ann und Edward Lavigne saßen sich an einem Tisch an der Wand gegenüber. Der Kellner, ein Inder mit Windpockennarben, trug außer der vom Hotel vorgeschriebenen steifen, roten Tunika einen Turban. Während er den Tisch für den Tee deckte, alles auf das saubere Leintuch stellte, als positionierte er die Figuren auf seiner Seite eines Schachbretts, murmelte er in seinen langen Schnurrbart hinein und zog sich anschließend wieder auf seinen Wachposten zurück. Neil hatte recht. Hier hatte man als sogenannter Europäer stets ohne Fehl und Tadel zu agieren, eine ewige Zwickmühle. Man stand unter Beobachtung, hauptsächlich der anderen Europäer, aber auch der Einheimischen, einschließlich indischer Kellner mit Turbanen, die etwas zu gewinnen oder verlieren glaubten. Mit Frauen wie Ann gingen die Europäerinnen besonders hart ins Gericht. Sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass Lavigne, seinem untadeligen Geschäftsgebaren zum Trotz, sie im Namen der öffentlichen Meinung bestrafen sollte. – Mrs Rabie? – Nennen Sie mich bitte Ann. – Also gut, Ann. Seit Paul in der siebten Klasse zu uns kam, beobachte ich ihn. Wenn ich mich nicht irre, hat er damals ein Stipendium erhalten, das berechtigte zu gewissen Hoffnungen. Später war ich sowohl sein Hauserzieher als auch sein Geografielehrer. Man hat mich ausgewählt, die besten unserer Schüler unter meine Fittiche zu nehmen, diejenigen, die anschließend möglicherweise nach Cambridge gehen. Nach dem letzten Rugbyspiel habe ich Paul mit drei anderen vielversprechenden jungen Männern zum Abendessen ins Balfour Hotel eingeladen. – Edward, ich weiß, dass Sie ein gutes Verhältnis zu Paul haben. Was auch vorgefallen sein mag, an der Loyalität meines Sohnes zu Curzon hat sich nichts geändert. – Loyalität ist eine Tugend, die unsere Schule zu vermitteln bestrebt ist. Darf ich Ihnen einschenken? Lavigne goss den Tee durch das kleine Sieb und reichte ihr, ohne aufzusehen, die Tasse. In seinen tat er einen Würfel Zucker sowie zwei Milchtropfen, so vorsichtig, als hantierte er mit einer Pipette. Er setzte sich aufrecht hin und trank; der blaue Blazer mit den schweren Goldknöpfen war bis oben geschlossen, seine langen Hände verschwanden fast in den Ärmeln. Sie sah, dass er Manschettenknöpfe trug, und ihr fiel das...