E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Constable Die Melodie der Lagune
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7499-0857-8
Verlag: HarperCollins eBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Frauenroman in Venedig über Vivaldis Rivalin Anna Maria della Pietà, die beste Violinistin der Welt
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-7499-0857-8
Verlag: HarperCollins eBook
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist an der Zeit, die Frau kennenzulernen, über die wir in den letzten 300 Jahren hätten sprechen sollen: Dies ist die Geschichte von Anna Maria della Pietà.
Venedig, 18. Jahrhundert: Die junge Anna Maria wächst in einem Waisenhaus auf, und als sie zum ersten Mal eine Geige in der Hand hält, verändert sich ihr Leben - denn für Anna ist die Musik mit allen Sinnen erlebbar, sie übertrifft alle Mitschülerinnen an Talent, Ehrgeiz und Willensstärke. Antonio Vivaldi nimmt sie schnell als Schülerin an, und gemeinsam spielen sie nicht nur Musik, sondern beginnen, zu komponieren. Schon bald geht es Anna nicht mehr nur um das bloße Wiedergeben von vorgegebenen Noten- sie will selbst etwas Großes erschaffen und im Rampenlicht stehen, endlich Anerkennung bekommen für ihre Leistungen. Doch diese Art von Ehrgeiz steht ihr als Frau nicht zu, und Vivaldi wird alles tun, um den Ruhm für sich zu behalten ...
Harriet Constable ist eine mehrfach preisgekrönte Journalistin und Filmemacherin. Die , der und die berichteten schon über ihre Arbeit, und sie ist Stipendiatin des Pulitzer-Zentrums. Constable wuchs als Flöten- und Klavierspielerin auf und lernte mit ihrer Mutter, einer klassisch ausgebildeten Pianistin und Sängerin, Gesang. Ihr Debütroman wurde bereits vom zu einem der zehn besten Debütromane des Jahres 2024 gewählt. Derzeit lebt Constable in London.
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Venedig 1695
Abenddämmerung, die Domglocke beschallt den Markusplatz. Die Klänge lösen sich vom bronzenen Glockensaum, gleiten über die Domkuppeln, lecken an den Muscheln am Ufer des verschlammten Kanals und kriechen in eine Lücke zwischen den Pflastersteinen und einer Holztür. Eine junge Frau steht in einem schmalen, schwach beleuchteten Hauseingang und schaut auf.
Für manche gibt die Glocke die Zeit an. Für andere markiert sie Feiertage, Ratsversammlungen, öffentliche Hinrichtungen. Für die junge Frau jedoch bedeutet das Läuten, dass sie und ihre Kolleginnen auf die Straße müssen. Ihre Arbeitszeit beginnt.
Sie legt sich einen leichten Wollschal um den Hals – einen gelben, der anzeigt, was ihr Gewerbe ist – und geht hinaus. Sie wohnt in einem Bordell im Bezirk San Polo hinter der Ruga dei Oresi, einer Durchgangsstraße, die von Reisenden wie Einheimischen benutzt wird, wenn sie die Brücke nach San Marco überqueren wollen, morgens und abends. Ein strategischer Standort: Hier gibt es die meiste Kundschaft.
Ihre Absätze klackern auf dem Kopfsteinpflaster, als sie um die Ecken biegt. Links aus der Bordelltür, wieder links an der Ecke, wo ein Metzger Innereien verkauft, dann geradeaus bis zu ihrem gewohnten Platz an der Einmündung der Rialtobrücke. Sie nickt einer anderen jungen Frau zu, die gerade angekommen ist und zu posieren beginnt. Dann legt sie Umhang und Schal zusammen und legt beides auf die Pflastersteine unter der Brücke. Eine stille Übereinkunft besagt: Auch bei der Arbeit legen wir Wert darauf, dass alles seine Ordnung hat.
Sie trägt ein grünes Leinenkleid mit hoch angesetzter Taille. Ein Band ist durch den tiefen, eckigen Rand des Halsausschnitts geflochten. Sie fährt mit den Fingern an dieses Dekolleté und zieht das Kleid herunter, bis ihre nackten Schultern und der Ansatz ihrer Brüste zu sehen sind. Dann setzt sie sich auf ein Mäuerchen unter einer Laterne und wartet auf ihren nächsten Kunden. Der ist meist männlich, unbegleitet und riecht nach Wein.
Ihr Herz beginnt zu hämmern, aber nicht so stark wie noch vor wenigen Monaten. Sie ist siebzehn und glaubt, mit beinahe allem fertigwerden zu können. Im Schnitt drei Freier pro Tag. Sechs Monate, macht fast sechshundert Freier. Im Takt einer Melodie, die ihr durch den Kopf geht, wippt sie mit dem Fuß. Ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag.
Da kommt ein merkwürdiger Freier. Männlich, ja. Unbegleitet, ja. Aber sie hat ihn nie zuvor gesehen. Er kommt schnell zur Sache, was ihr nur recht ist, aber er muss vierzig Jahre älter sein als sie, und seine Augen sind so schwarz wie die des Teufels.
»Lass uns gehen«, sagt er und schaut über seine Schulter, als fürchte er, erwischt zu werden. Er riecht nach Holzfeuer und Tabak. Seine Stimme ist tief und kehlig.
Sie führt ihn zum Bordell zurück und die Holztreppe hinauf, die unter seinem Gewicht knarrt. Als sie ihr Zimmer betreten, duckt er sich ächzend, um nicht an den Türsturz zu stoßen. Seiner roten Kappe und den Blechknöpfen nach zu urteilen, arbeitet er auf der Werft. Sie hat mal gehört, dass die Arbeiter nur einen Tag brauchen, um ein Kriegsschiff zu bauen.
Ein großes Bett mit dunklen Holzpfosten, ein paar fast schon abgebrannte Kerzen, deren Schatten an den Wänden flackern. Sie holt tief Luft und schließt die Tür hinter sich.
Neun Monate später ist ihr Bauch rund und prall. Noch vor Tagesanbruch wacht sie von einem stechenden, pulsierenden und ganz ungewohnten Schmerz auf. Sie weiß, was zu tun ist, bindet sich den inzwischen verfilzten gelben Schal um und steckt die Tücher, die sie in letzter Zeit bestickt hat, in die Tasche.
Die erste Hürde ist die Treppe. Der Schmerz ist jetzt scharlachrot und heiß. Etwas tief unten in ihrem Leib scheint zu reißen, und ihre Beine drohen einzuknicken, sodass sie sich am rauen Treppengeländer festklammern muss. Sie schafft es bis auf die Straße, doch dann sinkt sie auf die Knie, geht auf alle viere und hält sich den Bauch. Kann sie es noch rechtzeitig schaffen? Es ist nicht weit, aber in diesem Zustand …
Du musst weiter, sagt sie sich. Du schaffst das!
Mühsam richtet sie sich auf und geht die Straße hinunter, muss sich aber an den Hauswänden abstützen. Wenn sie in eine Pfütze tritt, zersplittert ihr Spiegelbild. Sie muss nur zwei Straßen weiter, aber der Weg kommt ihr endlos vor. Der Schmerz raubt ihr den Atem, er ist jetzt viel schlimmer als noch vor einer Viertelstunde.
Dreimal klopfen. Schritte sind zu hören, dann öffnet eine runzlige, grauhaarige Hebamme die Tür, aber nur einen Spaltbreit. Sie schaut auf den dicken Bauch und die daran gepresste Hand der jungen Frau. Ihr zunächst mürrischer Blick ist jetzt besorgt. Sie macht die Tür weit auf.
»Zwischen die Zähne«, sagt sie, entwindet ihrem kleinen schwarz-weißen Hund einen Knochen und reicht ihn der jungen Frau.
Der Hund knurrt. Die junge Frau knurrt zurück. Dann beißt sie auf den Knochen und fühlt sich selbst wie ein Tier. Der Schmerz wird noch stärker, ist jetzt blutrot und droht sie zu zerreißen. Ein spektakulärer Anblick.
Das ist ihr letzter Gedanke, bevor sie ohnmächtig wird: spektakulär!
Zwei Tage sind in dem kleinen dunklen Zimmer der Hebamme vergangen. Die junge Frau hat sich noch nicht annähernd erholt, aber das Bett wird gebraucht. Sie hört eine andere Frau schreien.
»Es ist Zeit«, sagt die Hebamme.
»Wo soll ich denn hin?«, fragt die junge Frau. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie die Geburt überleben würde.
Die Hebamme gibt ihr den gelben Schal, und die junge Frau ist überrascht, ein zappelndes Wesen darin eingewickelt zu sehen. Beinahe hat sie es vergessen. Es ist ganz fleckig und runzlig, seine Adern sind blau. Die Hebamme führt ihm einen letzten Löffel voll Zuckerwasser an den Mund. Die junge Frau kann das zappelnde Bündel kaum halten, weiß nicht, was sie tun oder denken soll. Dann verdreht sie die Augen, und ein furchtbarer Schmerz fährt ihr in die Schenkel. Ihre Tränen benetzen das Gesicht des kleinen Wesens, das wütend aufschreit.
Die junge Frau geht ein Stück durch ein Labyrinth von Seitenstraßen und Brücken, ohne bestimmtes Ziel. Sie ist so müde, blutet noch immer, alles tut ihr weh. Die ganze Nacht musste sie ohrenbetäubendes Geschrei ertragen, aber jetzt ist es still.
Der Morgen dämmert, dichter Nebel wabert über dem Kanal. Sie muss weitergehen, immer weiter, dann ist das kleine Ding in ihren Armen ruhig. Sie erreicht einen Platz mit reich verzierten Gebäuden und gewölbten Fenstern, gleich neben dem jadegrünen Kanal. Vier Stufen führen zum Wasser hinunter, das verlockend über die unterste Stufe schwappt.
Komm herein, ruft es. Komm schon!
Es ist kühl, aber schon in den ersten Stunden dieses Frühlingstags erfrischend. Die junge Frau drückt ihr Bündel an sich und geht hinein, tiefer und tiefer.
Genau! Das ist die Lösung. Alles ist ruhig und friedlich. Die junge Frau beugt sich nach hinten, lässt sich und das kleine Wesen mit der größten Selbstverständlichkeit unter Wasser sinken.
Das kleine Wesen aber, erschrocken von Nässe und Kälte und darüber, keine Luft mehr zu bekommen, wehrt sich. Wütend und entschlossen versucht es, sich aus der Umklammerung der jungen Frau zu befreien.
Hör auf, sei still, fleht die junge Frau. Es dauert nicht mehr lange. Gleich haben wir es geschafft.
Aber das kleine Wesen wütet mit aller Macht, und die junge Frau kann es nicht länger festhalten. Beide Köpfe schnellen an die Wasseroberfläche, und beide schreien um Atem ringend um ihr Leben.
Das kleine Wesen greift nach der jungen Frau. Es schreit nicht mehr, sondern braucht ihre Hilfe. Aus der Ferne durchdringt ein Ton, schön und nicht enden wollend, die Luft. Die junge Frau hebt das kleine Wesen aus dem Wasser, hüllt es in ihren triefenden Umhang und läuft los.
Die großen, mit Schnitzereien verzieren Türen von Santa Maria della Fava stehen offen und erwarten die ersten Besucher der Morgenmesse. Die junge Frau ist tropfnass und klappert mit den Zähnen, während sie in die Kirche stolpert und das kleine Wesen ganz ruhig in ihren Armen liegt. Mit schnellen Schritten kommt ihr der Priester durch den steinernen Mittelgang entgegen – klick-klack, klick-klack.
»Huren sind hier nicht willkommen«, sagt er und schiebt die junge Frau zur Tür zurück. Sein seidenes, reich besticktes Gewand bläht sich in der kühlen Brise.
»Bitte … Bruder«, fleht sie und öffnet ihren Umhang, um das kleine Wesen in ihren Armen zu zeigen.
Der Gesichtsausdruck des Priesters wechselt von Ablehnung zu Ekel. Unsanft schiebt er sie zur Tür hinaus. Die junge Frau spürt den Luftzug, als die Tür vor ihrer Nase zuschlägt. Sie sinkt zu Boden und streckt die Beine aus. Sie atmet ein und aus, ein und aus. Wieder fährt ihr der Schmerz durch die Schenkel.
Die Luft, merkt sie plötzlich, riecht süß. Der Duft von Butter, Zucker und Mehl weht von einer nahen Bäckerei herüber.
Ihr tun die Brüste weh, das kleine Wesen fängt wieder an zu schreien. Die Lösung ist einfach. Ganz animalisch. Die junge Frau weiß, was zu tun ist. Lustlos streift sie den Ausschnitt ihres Kleides herunter und entblößt eine Brust. Das kleine Wesen nimmt sie in den Mund und beginnt zu saugen.
Die Frau, von der sie gefunden wird, war früher selbst eine...