Condie Cassia & Ky -- Die Auswahl
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-400750-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 1
E-Book, Deutsch, Band 1, 272 Seiten
Reihe: Cassia & Ky
ISBN: 978-3-10-400750-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ally Condie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Salt Lake City, USA. Nach dem Studium unterrichtete sie mehrere Jahre lang Englische Literatur in New York, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Die phänomenal fesselnde Serie »Cassia & Ky« wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und war ein überwältigender internationaler Erfolg.
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KAPITEL 1
Ich muss lächeln über die Unsinnigkeit meiner Vorstellung. Menschen können nicht fliegen, obwohl es in den Zeiten vor der Gesellschaft Legenden von welchen gab, die es konnten. Ich habe einmal ein Gemälde von ihnen gesehen. Weiße Flügel, blauer Himmel, goldene Kreise über ihren Köpfen, die Augen mit überraschtem Blick nach oben gerichtet – als ob sie nicht glauben könnten, dass der Künstler sie das machen ließ, als ob sie nicht glauben könnten, dass ihre Füße den Boden nicht berührten.
Diese Geschichten sind nicht wahr, das weiß ich. Aber heute Abend könnte ich es glatt vergessen. Der Airtrain gleitet so ruhig durch die sternenklare Nacht, und mein Herz klopft so schnell, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment hinauf in den Himmel fliegen zu können.
»Worüber lächelst du?«, fragt mich Xander.
»Ach, über alles«, antworte ich ihm, und es stimmt. Schon so lange habe ich darauf gewartet: auf mein Paarungsbankett. Heute werde ich zum ersten Mal den Jungen sehen, der zu meinem perfekten Partner bestimmt worden ist. Zum ersten Mal werde ich seinen Namen hören.
Ich kann es kaum erwarten! Wie schnell der Airtrain auch dahingleitet, mir geht es nicht schnell genug. Er eilt durch die Nacht, sein Fahrgeräusch bildet den Hintergrund für die leisen Gespräche unserer Eltern und mein laut klopfendes Herz. Vielleicht kann Xander es hören, denn er fragt: »Bist du nervös?« Auf dem Platz neben ihm sitzt sein älterer Bruder, der meiner Mutter von seinem Paarungsbankett erzählt. Bald können Xander und ich unsere eigenen Geschichten erzählen.
»Nein«, sage ich. Aber Xander ist mein bester Freund. Er kennt mich zu gut.
»Du lügst«, neckt er mich. »Du nervös.«
»Du etwa nicht?«
»Nein, ich nicht. Ich bin bereit.«
Er sagt das, ohne zu zögern, und ich glaube ihm. Xander ist jemand, der immer genau weiß, was er will.
»Ist doch nicht schlimm, wenn du ein bisschen nervös bist, Cassia«, beruhigt er mich sanft. »Fast dreiundneunzig Prozent der Jugendlichen zeigen vor ihrem Paarungsbankett gewisse Anzeichen von Nervosität.«
Ich muss lachen. »Hast du etwa den Stoff über das Bankett auswendig gelernt?«
»Fast«, gesteht Xander. Er zuckt mit den Schultern, als würde er mich fragen:
Diese Geste bringt mich zum Lachen, und außerdem habe ich auch alles auswendig gelernt. Das fällt einem nicht schwer, wenn man etwas so oft liest, wenn die Entscheidung so wichtig ist.
»Du gehörst jedenfalls zur Minderheit«, erwidere ich. »Einer von den sieben Prozent, die keine Anzeichen von Nervosität zeigen.«
»Stimmt«, gibt er zu.
»Woher weißt du, dass ich nervös bin?«
»Weil du das da andauernd auf- und zuklappst«, sagt Xander und zeigt auf den goldenen Gegenstand in meiner Hand. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Artefakt besitzt.« Einige Schätze aus der Vergangenheit sind bis heute im Umlauf. Es ist jedem Bürger der Gesellschaft erlaubt, ein Artefakt zu besitzen, aber sie sind sehr selten und schwer zu bekommen. Es sei denn, die eigenen Vorfahren sind so umsichtig gewesen, sie von Generation zu Generation weiterzugeben.
»Ich habe es auch erst vorhin bekommen«, erzähle ich ihm. »Großvater hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Es hat seiner Mutter gehört.«
»Wie nennt man das?«, fragt Xander.
»Puderdose«, sage ich. Ich mag diesen Namen und den Klang, wenn man das Wort ausspricht: Das klingt fast genauso geheimnisvoll wie das Artefakt selbst, wenn es zuschnappt.
»Was bedeuten die Initialen und die Zahlen?«
»Ich weiß es nicht genau«, sage ich und fahre mit dem Zeigefinger über die Buchstaben ACM und die Zahlen 1940, die in die goldene Oberfläche der Puderdose eingraviert sind. »Aber sieh mal«, sage ich und lasse die Dose aufschnappen, um ihm die Innenseite des Artefakts zu zeigen. Es hat einen kleinen Spiegel aus echtem Glas und eine flache Einbuchtung, in der die ursprüngliche Besitzerin Puder für ihr Gesicht aufbewahrt hat, wie Großvater behauptet. Ich lege jetzt die drei Notfalltabletten hinein, die jeder von uns immer bei sich trägt – eine rote, eine blaue, eine grüne.
»Wie praktisch«, sagt Xander. Als er die Arme ausstreckt, bemerkte ich, dass er auch ein Artefakt besitzt – schimmernde Platinmanschettenknöpfe. »Mein Vater hat sie mir geliehen, aber leider kann man nichts darin aufbewahren.«
»Die sehen gut aus.« Mein Blick wandert hinauf zu Xanders Gesicht, seinen strahlendblauen Augen und den blonden Haaren, dann über seinen dunklen Anzug und das weiße Hemd. Er hat schon immer gut ausgesehen, schon als wir noch klein waren, aber noch nie habe ich ihn so schick angezogen gesehen. Die Jungen haben bei ihrer Kleidung nicht so viel Auswahl wie die Mädchen. Ihre Anzüge sehen irgendwie alle gleich aus. Aber wenigstens dürfen sie sich die Farbe ihrer Hemden und Krawatten aussuchen, und die Qualität des Stoffs ist viel feiner als die der Zivilkleidung. » siehst gut aus.« Das Mädchen, das ihn als Partner bekommt, wird begeistert sein.
»Gut?«, fragt Xander mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ist das alles?«
»Xander!«, mahnt seine Mutter neben ihm, halb amüsiert, halb vorwurfsvoll.
»Du siehst schön aus!«, flüstert Xander mir zu, und ich erröte ein bisschen, obwohl ich ihn schon mein ganzes Leben lang kenne. Ja, ich fühle mich wirklich schön in diesem Kleid: eisgrün, fließend, mit bauschigem Rock. Durch die ungewohnte Glätte des Satins auf meiner Haut fühle ich mich elegant und anmutig.
Neben mir seufzen meine Eltern beide auf, als die Stadthalle in Sicht kommt, die anlässlich der besonderen Feierlichkeit mit einer weiß-blau glitzernden Festtagsbeleuchtung geschmückt ist. Die Marmortreppe kann ich noch nicht erkennen, aber ich weiß, dass sie glänzend poliert sein wird. Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, diese blitzsauberen Marmorstufen hinaufzusteigen und durch die Türen der Stadthalle zu schreiten. Ein Gebäude, das ich immer von weitem gesehen, aber noch nie betreten habe.
Am liebsten würde ich die Puderdose öffnen und kontrollieren, ob wirklich alles an meinem Aussehen stimmt, aber ich will nicht eitel erscheinen. Stattdessen betrachte ich mein Gesicht im goldglänzenden Deckel der Dose.
Die gewölbte Oberfläche verzerrt meine Züge ein wenig, aber ich kann mich gut erkennen: meine grünen Augen, mein kupferfarben schimmerndes braunes Haar, das in der Spiegelung goldener aussieht, als es in Wirklichkeit ist. Meine gerade kleine Nase, mein Kinn mit der Andeutung eines Grübchens, genau wie bei Großvater. All die äußeren Merkmale, die mich zu Cassia Maria Reyes machen, auf den Tag genau siebzehn Jahre alt.
Ich wende die Puderdose in meiner Hand und bewundere, wie genau die zwei Seiten aufeinanderpassen und ein Ganzes bilden. Mein Partner und ich werden genauso gut zusammenpassen, und das fängt schon mit der Tatsache an, dass ich heute Abend hier bin. Da mein Geburtstag auf den fünfzehnten fällt, und das auch der Tag ist, an dem einmal im Monat das Bankett stattfindet, habe ich immer gehofft, dass ich auch genau an meinem Geburtstag gepaart werde. Aber ich wusste auch, dass es nicht unbedingt so passieren muss. Man kann in jedem Monat des Jahres, in dem man siebzehn ist, zum Bankett aufgerufen werden. Als ich dann vor zwei Wochen die Benachrichtigung bekam, dass ich tatsächlich an meinem Geburtstag gepaart werden würde, konnte ich fast das feine »Schnapp« der Teile hören, die ein perfektes Ganzes bilden – genau wie ich es mir die ganze Zeit erträumt hatte.
Obwohl ich nicht einmal einen einzigen Tag auf meine Paarung warten musste, habe ich in gewisser Weise schon mein ganzes Leben lang darauf gewartet.
»Cassia!«, sagt meine Mutter und lächelt mich an. Ich muss blinzeln und blicke überrascht auf. Meine Eltern erheben sich, bereit zum Aussteigen. Xander steht ebenfalls auf und streicht seine Ärmel glatt. Ich höre, wie er tief einatmet, und lächele still. Vielleicht ist er doch ein klein wenig aufgeregt.
»Jetzt geht’s los!«, sagt er zu mir. Sein Lächeln ist so lieb und nett! Ich bin froh, dass wir im selben Monat Geburtstag haben. Wir haben einen so großen Teil unserer Kindheit gemeinsam verbracht, dass es nur richtig scheint, auch ihr Ende zusammen zu erleben.
Ich erwidere sein Lächeln und gebe ihm den innigsten Wunsch mit auf den Weg, den wir in der Gesellschaft kennen. »Ich wünsche dir optimales Gelingen«, sage ich zu Xander.
»Ich dir auch, Cassia«, erwidert er.
Als wir den Airtrain verlassen und auf die Stadthalle zugehen, haken sich meine Eltern rechts und links bei mir unter. Ich bin von ihrer Liebe umgeben, wie ich es seit jeher kenne.
Heute Abend sind wir nur zu dritt. Mein Bruder Bram kann uns nicht begleiten, weil er noch keine siebzehn und damit noch zu jung ist. Ich dagegen kann später an Brams Bankett teilnehmen, weil ich seine ältere Schwester bin. Lächelnd frage ich mich, wie Brams ideale Partnerin wohl sein wird. In sieben Jahren werde ich es...