E-Book, Deutsch, Band 4, 288 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
Vollständige, ungekürzte Ausgabe
E-Book, Deutsch, Band 4, 288 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
ISBN: 978-3-7306-9105-2
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
24. Kapitel
Pinocchio kommt auf die »Insel der fleißigen Bienen« und findet die Fee wieder
Angefeuert durch die Hoffnung, seinem Vater rechtzeitig helfen zu können, schwamm Pinocchio die ganze Nacht hindurch. Und was war das für eine schreckliche Nacht! Es goss, hagelte, donnerte und blitzte, als wenn es heller Tag wäre. Als der Morgen anbrach, sah er einen fernen Landstrich. Es war eine Insel, mitten im Meer. Da strengte er sich nun tüchtig an, um den Strand zu erreichen, aber alles vergebens. Die Wogen warfen ihn hin und her, als wenn er ein Holzsplitter oder Strohhalm wäre. Endlich kam zu seinem Glück eine besonders gewaltige Welle, die ihn mit aller Macht an den Strand warf. Der Aufprall war so stark, dass ihm alle Rippen und Gelenke krachten, aber er tröstete sich sofort, indem er sagte: »Auch diesmal bin ich noch gut davongekommen!« Nach und nach klärte sich der Himmel auf, die Sonne erschien in ihrer alten Pracht und das Meer wurde ruhig wie Öl. Da breitete Pinocchio seine Kleidungsstücke zum Trocknen in der Sonne aus und betrachtete die gewaltige Meeresfläche, ob er nicht zufällig eine kleine Barke mit einem Mann entdecken könne. Aber wie er seine Augen auch anstrengte, er sah nichts als Himmel und Meer oder zuweilen ein Segel, das in der Entfernung wie eine Fliege aussah. »Wüsste ich wenigstens, wie diese Insel heißt!«, sagte er, indem er sich auf den Weg machte. »Wüsste ich wenigstens, ob diese Insel von liebenswürdigen Menschen bewohnt wird, ich meine, von Menschen, die nicht die schlechte Angewohnheit haben, Kinder an Baumäste aufzuhängen! Aber wen soll ich fragen? Wen, wenn niemand hier ist?« Bei diesem Gedanken, mitten in jenem großen, unbewohnten Land ganz allein zu sein, wurde er so trübsinnig, dass er eben zu weinen anfangen wollte. Da sah er plötzlich dicht am Ufer einen großen Fisch, der, mit dem Kopf aus dem Wasser, gemütlich seiner Beschäftigung nachging. Da Pinocchio nicht wusste, wie er ihn anreden sollte, sagte er mit lauter Stimme, um sich bemerkbar zu machen: »He! Herr Fisch, dürfte ich Sie um eine Auskunft bitten?« »Auch um zwei«, antwortete der Fisch, der ein äußerst höflicher Delfin war, wie es in allen Meeren der Welt nur wenige gibt. »Würden Sie mir den Gefallen tun, mir zu sagen, ob es auf dieser Insel hier Orte gibt, wo man essen kann, ohne selbst gegessen zu werden?« »Gewiss gibt es welche!«, antwortete der Delfin. »Du wirst sogar ganz in der Nähe einen finden.« »Welchen Weg müsste ich da einschlagen?« »Jenen Seitenweg da, links, dann immer geradeaus der Nase nach. Du kannst gar nicht fehlgehen.« »Ach, sagen Sie mir doch noch etwas. Sie, der Sie Tag und Nacht im Meer spazieren schwimmen, sind Sie nicht vielleicht einer kleinen Barke begegnet, wo mein Vater darin war?« »Wer ist denn dein Vater?« »Das ist der beste Vater der Welt, wie ich der schlechteste Sohn bin, den es geben kann.« »Bei diesem Gewittersturm in der vergangenen Nacht«, antwortete der Delfin, »wird die Barke wohl untergegangen sein.« »Und mein Vater?« »Den wird jetzt jener schreckliche Haifisch verschlungen haben, der seit einigen Tagen hier auftaucht, um diesen Wassern Tod und Verzweiflung zu bringen.« »Ist dieser Haifisch sehr groß?«, fragte Pinocchio, der vor Furcht schon zu zittern begann. »Und ob er groß ist!«, versetzte der Delfin. »Damit du dir einen Begriff machen kannst, will ich dir sagen, dass er größer als ein fünfstöckiges Haus ist und ein so breites und tiefes Maul hat, dass ein Eisenbahnzug mit dampfender Maschine bequem hindurchfahren könnte.« »O je!«, rief der Hampelmann erschrocken, zog schleunigst seine Kleider wieder an, wand sich an den Delfin und sagte: »Auf Wiedersehen, Herr Fisch, verzeihen Sie die Störung und haben Sie heißen Dank für Ihre Freundlichkeit.« Dann schlug er schnell den Seitenweg ein und machte sich eiligst auf den Weg, so eilig, dass es fast aussah, als wenn er rannte. Und bei jedem kleinsten Geräusch drehte er sich sofort um und schaute zurück, aus Furcht, jener schreckliche, fünfstöckige Haifisch mit einem Eisenbahnzug im Maul könne ihn verfolgen. Nach einer halben Stunde erreichte er einen Ort, der »Fleißige-Bienen-Stadt« hieß. Auf den Straßen liefen die Leute geschäftig hin und her, alle arbeiteten, jeder hatte etwas zu tun. Da war kein Müßiggänger, kein Bummler zu finden und wenn man noch so eifrig gesucht hätte. »Ich merke schon«, sagte da jener faule Pinocchio, »dieses Land ist nicht für mich gemacht! Zum Arbeiten bin ich nicht geboren!« Unterdessen plagte ihn der Hunger, denn er hatte seit 24 Stunden nicht mehr gegessen, nicht einmal eine Portion Maiskörner. Was tun? Ihm blieb nur zweierlei übrig, seinen Hunger zu stillen: entweder arbeiten, oder betteln. Zu betteln schämte er sich, denn sein Vater hatte ihm immer gepredigt, dass nur alte und kranke Leute ein Recht hätten, zu betteln. Die wahrhaft Armen in der Welt, die Beistand und Mitleid bedürfen, sind nur die, die wegen Alters oder Krankheit nicht mehr imstande sind, ihr Brot selbst zu verdienen. Alle anderen haben die Pflicht, zu arbeiten, und wenn sie nicht arbeiten wollen und dafür Hunger leiden, so geschieht ihnen das recht. Da kam ein schweißbedeckter, keuchender Mann vorbei, der allein mit großer Mühe zwei kohlenbeladene Handkarren zog. Pinocchio, der ihn nach seinem Gesicht zu urteilen für einen gutmütigen Menschen hielt, trat auf ihn zu, senkte vor Scham die Augen und sagte leise: »Würdet Ihr die Güte haben, mir fünf Pfennige zu geben? Ich komme fast um vor Hunger.« »Nicht nur fünf«, antwortete der Kohlenhändler, »sondern zwanzig Pfennige gebe ich dir, wenn du mir diese beiden Kohlenkarren ziehen hilfst.« »Was glaubt Ihr wohl!«, antwortete der Hampelmann fast beleidigt, »ich bin doch kein Zugesel, ich habe noch nie einen Karren gezogen!« »Dann bist du schön heraus!«, antwortete der Kohlenhändler. »Mein Junge, wenn du wirklich vor Hunger bald umkommst, so iss doch zwei Portionen von deinem Hochmut. Gib aber acht, dass du dir den Magen nicht verdirbst.« Bald darauf kam ein Maurer, der einen Eimer Kalk auf der Schulter trug. »Lieber Herr, würdet Ihr mir den Gefallen tun, einem armen, hungrigen Jungen fünf Pfennige zu geben?« »Gern, komm mit mir Kalk tragen«, antwortete der Mauer, »und statt der fünf Pfennige werde ich dir fünfundzwanzig geben.« »Kalk wiegt aber schwer«, versetzte Pinocchio, »und ich will mich nicht so plagen.« »Wenn du dich nicht plagen willst, mein Junge, so hungere nur, ich wünsche dir guten Appetit dazu.« In weniger als einer halben Stunde kamen zwanzig Leute vorüber und alle bettelte Pinocchio an, aber er bekam immer dieselbe Antwort: »Schämst du dich nicht? Statt hier den Faulenzer zu spielen, such dir lieber Arbeit und lerne, dein Brot selbst zu verdienen!« Endlich kam eine gute Frau, die zwei Kannen Wasser trug. »Erlaubt Ihr mir, gute Frau, dass ich einen Schluck Wasser aus Eurer Kanne trinke?«, fragte Pinocchio, dem die Kehle vor Durst brannte. »Trink nur, mein Junge!«, sagte die Frau, indem sie die beiden Kannen auf die Erde stellte. Nachdem sich Pinocchio wie ein Schwamm vollgetrunken hatte, murmelte er halblaut, indem er sich den Mund abwischte: »Der Durst wäre gestillt! Könnte ich doch auch meinen Hunger stillen!« Als die gute Frau diese Worte hörte, sagte sie sofort: »Wenn du mir diese beiden Wasserkannen nach Hause tragen hilfst, dann gebe ich dir auch ein großes Stück Brot.« Pinocchio sah die Kanne an und sagte weder ja noch nein. »Und zum Brot gebe ich dir einen Teller Blumenkohl in Essig und Öl«, fügte die gute Frau hinzu. Pinocchio schaute abermals nach der Kanne und sagte weder ja noch nein. »Und nach dem Blumenkohl sollst du noch ein Stück Kuchen bekommen.« Dieser letzten Leckerei konnte Pinocchio nicht mehr widerstehen, er stieß einen Seufzer aus und sagte: »Geduld! Ich werde Euch die Kanne nach Hause tragen!« Die Kanne war sehr schwer und Pinocchio, der sie mit den Händen nicht tragen konnte, fügte sich darein, sie auf den Kopf zu nehmen. Als sie zu Hause ankamen, hieß die gute Frau den Pinocchio an einen gedeckten, kleinen Tisch setzen und trug Brot, Blumenkohl und Kuchen auf. Pinocchio aß nicht, sondern verschlang, als wenn er fünf Monate nichts mehr gegessen hätte. Nach und nach verschwand der Hunger und der Hampelmann schaute auf, um sich bei seiner Wohltäterin zu bedanken. Kaum hatte er ihr aber ins Gesicht gesehen, als er ein langes »ohhh!« der Überraschung ausstieß und mit aufgerissenen Augen, der Gabel in der Luft und mit vollen Backen kauend,...