Roman
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-492-97634-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1 »Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Die Stimme einer reichlich verärgerten Frau war nur gerade so durch die geschlossene Haustür zu hören. »Ja, weiß ich, aber … Das hier ist doch ein Bed & Breakfast, oder?«, fragte Rose. Sie hatte ihre siebenjährige Tochter Maddie auf dem Arm, die schwer auf ihrer Hüfte wog, sich an ihr festklammerte und fröstelte. Es war Hochsommer, aber kalter Nieselregen tropfte ihnen vom Kopf, und Rose hatte vergessen, Maddies Jacke mitzunehmen. Sie hatte keine Zeit gehabt, an Jacken zu denken. Sie hatte überhaupt keine Zeit gehabt, sie hatte sich nur das vor langer Zeit gepackte und seither versteckte Bündel geschnappt, das vermutlich nur auf diesen Augenblick gewartet hatte. Sie hatte gerade genug Zeit gehabt, um abzuhauen. »Wir schließen um Punkt neun Uhr abends!«, rief die Stimme. »Steht doch überall. Es ist drei Uhr morgens. Ich hätte gute Lust, die Polizei zu rufen.« Rose holte tief Luft. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Sie war den ganzen Weg bis hierher gekommen, ohne zu weinen, und sie würde nicht zulassen, dass nach allem, was sie bereits durchgemacht hatte, jetzt ausgerechnet diese unbekannte Stimme ihre Augen zum Überlaufen brachte. »Ich weiß, aber … Bitte. Wir sind schon so lange unterwegs. Ich habe meine Tochter dabei. Wir möchten einfach nur irgendwo schlafen. Ich hätte ja im Voraus gebucht, aber ich wusste nicht, dass wir herkommen würden.« Sie hörte Gemurmel von der anderen Seite der Tür, eine Männerstimme war hinzugekommen. Rose presste Maddie noch fester an sich und versuchte, das Zittern des Mädchens mit ihrer Umarmung zu mildern. Und auch das andere, weniger kostbare Bündel drückte sie fester an sich: ein nicht sonderlich großer, rechteckiger Gegenstand, den Rose eilig in eine Wolldecke gewickelt hatte. »Sie haben ein Kind dabei?«, erklang die Stimme der Frau wieder. »Ja. Ein Mädchen. Sie ist sieben.« Beklommen hörte Rose, wie Riegel aufgeschoben und Schlösser geöffnet wurden. Dann, endlich, tat sich die schwere Holztür auf, gelbes Licht fiel hinaus in die Regennacht und ließ die Tropfen glitzern und schimmern. Eine Frau undefinierbaren Alters lugte durch den Spalt und betrachtete die durchnässten Gestalten. Dann trat sie einen Schritt zurück und öffnete die Tür ganz. »Ich muss mich schon sehr wundern«, schimpfte sie, als Rose den Flur betrat. »Mitten in der Nacht hier reinzuwollen. Was sollen denn meine anderen Gäste sagen?« »Du hast gar keine anderen Gäste.« Ein gut gebauter, bärtiger Mann Ende fünfzig in Jogginghose und Unterhemd lächelte Rose an, während er sprach. »Also reg dich nicht auf, Schatz. Ist doch alles gar kein Problem. Ich bin Brian, und das ist meine Frau Jenny. Jenny, du bringst die beiden nach oben und gibst ihnen ein paar Handtücher, und ich komme gleich mit etwas Warmem zu trinken hinterher. Wie wäre es mit einem heißen Kakao, junge Dame?« Maddie vergrub ihr Gesicht noch tiefer an Roses Hals und schlang die Arme noch fester um ihre Mutter. Maddie war es noch nie leichtgefallen, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, und dieses Mal war es sicher noch viel schwerer für sie, weil die Umstände, die sie hierhergeführt hatten, so traumatisch waren. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Rose war dankbar. »Ein heißer Kakao wäre jetzt genau das Richtige, stimmt’s nicht, Maddie?« »Wie gesagt, gar kein Problem.« Brian lächelte. »Irgendwelches Gepäck, das ich für Sie hereinholen soll?« »Ich … nein. Kein Gepäck.« Rose lächelte schwach und hob den Ellbogen leicht, um auf das seltsame Bündel unter ihrem Arm hinzuweisen. »Nur wir und das hier.« Jenny hob skeptisch die Augenbraue. Diese neuen und einzigen Gäste würden nichts Gutes mit sich bringen, da war sie sich sicher. »Normalerweise muss man hier im Voraus bezahlen, fünfundzwanzig pro Nacht. Sie haben doch Bargeld mit?« »Ja, ich …« Rose versuchte, sich in die Tasche zu fassen, während sie weiter das Kind und das Bündel festhielt. »Herrjemine, Jenny.« Brian schüttelte den Kopf. »Nun lass die beiden doch erst mal in Ruhe. Das mit dem Geld regeln wir morgen früh. Okay, Mrs …?« Fragend sah er sie an. »Ach so, Pritchard. Rose Pritchard, und das hier ist Maddie.« »Gut. Ich glaube, Mrs. Pritchard muss jetzt erst mal die kleine Maddie ins Bett bringen.« »Woher willst du wissen, dass sie nicht vielleicht eine psychopathische Mörderin ist?«, zischte Jenny ihrem Mann so zu, dass Rose es hören konnte. »Angenommen, sie ist eine, dann vermute ich, dass sie zu müde ist, um uns heute Nacht noch zu erledigen. Und jetzt hör endlich auf mit dem Quatsch und bring sie nach oben.« Erst als Rose Jennys beachtlichem Hinterteil die schmale Treppe hinauf folgte, bemerkte sie, dass die Vermieterin ein ziemlich gewagtes, rosafarbenes Negligé trug. Der zarte Stoff bewegte sich auf der steilen Stiege über Roses Kopf wie eine Qualle und ließ hier und da einen Blick auf die umfangreichen und delligen Oberschenkel seiner Trägerin zu. Kurz ging Rose durch den Kopf, dass vielleicht Jenny und Brian hier die psychopathischen Mörder waren, aber sie war von den vielen Stunden Fahrt und dem vielen Nachdenken über das, was passiert war, körperlich und geistig so erschöpft, dass es ihr schlicht unmöglich wäre, noch in dieser Nacht ein zweites Mal davonzulaufen. Schließlich hatte sie den Großteil ihres Lebens Anlauf nehmen müssen, um den Mut für ihre erste Flucht aufzubringen. Millthwaite war eine Ortschaft im tiefsten Lake District, die sich in keiner Weise je einen Namen gemacht hatte und von der entsprechend wenige Menschen je gehört hatten. Und doch war es genau hier, an diesem Ort im Nirgendwo, wo Rose auf eine zweite Chance hoffte. Jenny öffnete die Tür zu einem Zimmer unterm Dach und schaltete das Licht ein. Das Zimmer war klein und sauber, unter altmodischen, bestickten Überwürfen in Altrosa standen zwei schmale Betten mit etwa dreißig Zentimetern Abstand. Das kleine Rosenmuster der Tapete wiederholte sich in den Vorhängen und den Schabracken, die vor etwa dreißig Jahren mal modern gewesen waren. »Ich gebe Ihnen dieses Zimmer, weil es sein eigenes kleines Badezimmer hat«, erklärte Jenny, als Rose sich auf eines der Betten setzte, ohne Maddie loszulassen. Das Bündel legte sie neben sich ab. »Da sind frische Handtücher. Ich schalte den Durchlauferhitzer an, Sie wollen ja bestimmt duschen.« »Im Moment möchte ich einfach nur schlafen«, sagte Rose und schloss kurz die Augen. »Und Sie haben kein Gepäck außer dem Ding da?«, fragte Jenny sie, in der Tür stehend, während ihr Nachthemd sie seltsam lebendig umspielte. »Wo, sagten Sie, kommen Sie her?« »Aus Broadstairs. In Kent«, sagte Rose, ließ Maddie auf das Bett gleiten und machte sich daran, ihr mit einem der Handtücher die Haare trocken zu rubbeln. Maddie drehte sich auf den Bauch und weigerte sich, der fremden Frau oder auch nur dem fremden Zimmer ihr Gesicht zu zeigen. »Und da haben Sie nicht mal eine kleine Reisetasche mit?« Jenny bemühte sich nicht im Geringsten, ihre Neugierde zu verbergen – ebenso wenig wie ihr beträchtliches Dekolleté. »Nein«, sagte Rose knapp und hoffte damit klarzustellen, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte. »Na ja. Da Sie Brian und mir jetzt ohnehin den Schlaf geraubt haben, suche ich Ihnen mal eben was zum Anziehen.« »Nein, nein, bitte machen Sie sich keine Umstände«, rief Rose ihr hinterher, aber Jenny war bereits weg und sorgte dafür, dass Rose an ihrem Trampeln hören konnte, wie missmutig sie war. Als sie einige Minuten später zurückkehrte, hingen ihr ein paar Kleidungsstücke über dem einen Arm und sie trug einen Becher dampfenden Kakaos in jeder Hand. Sie stellte sie auf dem Nachttisch ab, dann hielt sie ein rosa Nachthemd mit dem Glitzerschriftzug »Sex Bomb« hoch. »Das ist von meiner Jüngsten, Haleigh«, sagte sie. »Nimmt sich gerade eine Auszeit in Thailand und nennt das ›Sabbatical‹, weiß der Teufel, warum. Na, jedenfalls ist an Haleigh nicht viel dran, ihre Sachen müssten Ihnen also einigermaßen passen.« Sie legte das Nachthemd ab und hielt einen Kinderschlafanzug hoch. »Und der hier ist von meinem Enkel, dem Sohn unseres Ältesten. Da ist Spiderman drauf, aber das wird ihr doch wohl nichts ausmachen, oder?« Sie legte auch den Schlafanzug ab und betrachtete Maddie. »Geht’s ihr gut? Sie ist so still.« »Sie ist todmüde«, sagte Rose und streichelte Maddie über das dunkle Haar. »Und durcheinander.« »Gut. Also. Zwischen acht und halb neun gibt es Frühstück. Extras gibt’s bei uns nicht, Sie müssen essen, was auf den Tisch kommt, und wenn Sie Kaffee wollen, müssen Sie selbst welchen kaufen. Ich halte nichts von dem Zeug. Ist unnatürlich. Ach, und das hier ist der Hausschlüssel. Nicht verlieren.« »Danke«, sagte Rose und seufzte erleichtert, als Jenny ihr einen letzten missbilligenden Blick zuwarf und dann die Tür hinter sich zuzog. Rose stand auf und schloss ab, dann versuchte sie, ihrer Tochter das nasse Oberteil auszuziehen. Maddie quietschte ungnädig und kniff die Augen zu, um so die radikalen Veränderungen um sie herum zu ignorieren. Veränderungen waren etwas, womit Maddie nur sehr schlecht umgehen konnte, und doch hatte Rose vor einigen Stunden beschlossen, sie aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen und hierherzubringen. Hatte sie richtig gehandelt? Vorhin hatte sie das Gefühl gehabt, sie hätte keine andere Wahl, aber wie konnte sie sich dessen so sicher sein? »Komm schon, Schatz, wir ziehen...