Cole Vertraute Dinge, fremde Dinge
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25432-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Essays
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-446-25432-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Er ist Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf und lehrt als Distinguished Writer in Residence am Bard College. Er ist der Fotografie-Kritiker des New York Times Magazine und Autor der dort erscheinenden Kolumne 'On Photography'. Seine fotografische Arbeit wird international ausgestellt, seine Bücher Open City und Jeder Tag gehört dem Dieb gelten als herausragende Werke der neueren amerikanischen Literatur. 2013 wurde er mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm die Essaysammlung Vertraute Dinge, fremde Dinge. Teju Cole lebt in Brooklyn, New York.
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Schwarzer Körper
Dann fuhr der Bus in die Wolken hinein, und zwischen der einen und der nächsten Wolke konnten wir flüchtige Blicke auf die unter uns liegende Ortschaft erhaschen. Es war Abend und der Ort eine Konstellation gelber Lichtpunkte. Wir trafen eine halbe Stunde nach der Abfahrt aus Leuk ein. Der Zug nach Leuk war aus Visp, der aus Visp war aus Bern und der davor war aus Zürich gekommen, dem Ausgangspunkt meiner Reise am Nachmittag. Drei Züge, ein Bus und ein kurzer Spaziergang, allesamt durch herrliche Landschaft, und nun erreichten wir Leukerbad im Dunkeln. Trotz der eigentlich geringen Entfernungen gelangte man also gar nicht so leicht dorthin. Der 2. August 2014, James Baldwins Geburtstag. Lebte er noch, würde er jetzt neunzig. Er gehört zu denen, die im Begriff sind, der Zeitgenossenschaft zu entgleiten und historisch zu werden. John Coltrane wäre im selben Jahr achtundachtzig geworden, Martin Luther King jr. fünfundachtzig – Menschen, die noch unter uns sein könnten, die aber manchmal weit weg scheinen, als hätten sie vor Hunderten von Jahren gelebt.
James Baldwin brach erstmals 1951 aus Paris nach Leukerbad auf. Die Familie seines Lebenspartners Lucien Happersberger besaß in einem Bergdorf ein Chalet. Dorthin fuhr Baldwin, damals konfus und niedergeschlagen; und dort, in diesem Dorf (auch Loèche-les-Bains genannt), fand er Zuflucht. Der erste Besuch fiel in die Sommermonate; er blieb zwei Wochen. Im Winter kehrte er, zu seiner eigenen Überraschung, noch zweimal wieder. Sein erster Roman, Gehe hin und verkünde es vom Berge, fand hier seine endgültige Form. Mit dem Werk hatte er acht Jahre lang gerungen, und ausgerechnet an diesem unwahrscheinlichen Rückzugsort konnte er es zum Abschluss bringen. Er schrieb hier noch einen weiteren Text, nämlich den Essay »Ein Fremder im Dorf«, und es war dieser Essay, mehr als der Roman, der mich nach Leukerbad führte.
»Ein Fremder im Dorf« erschien zunächst 1953 in Harper’s Magazine und wurde dann 1955 in die Sammlung Notes of a native Son aufgenommen. Der Essay behandelt die Erfahrung, in einem ausschließlich von Weißen bewohnten Ort schwarz zu sein. Er beginnt im Stil einer Expedition – wie die Charles Darwins nach Galapagos oder Tété-Michel Kpomassies nach Grönland. Dann aber nimmt er andere Themen auf und einen neuen Ton an, es geht um den amerikanischen Rassismus der fünfziger Jahre. Die Passagen, die sich mit dem Schweizer Bergdorf befassen, wirken so ratlos wie bekümmert. Baldwin weiß genau, wie absurd es ist, dass ein New Yorker Schriftsteller von Schweizer Bergdorfbewohnern, die vielfach über ihr Dorf nie hinausgekommen sind, als irgendwie minderwertig betrachtet wird. Wenn er aber auf die Lage der Schwarzen in Amerika zu sprechen kommt, ist er alles andere als ratlos. Er ist zornig und prophetisch, seine Sprache ist klar und hart und von einem eloquenten Furor.
Ich bezog ein Zimmer im Hotel Mercure Bristol. Ich öffnete die Fenster auf eine dunkle Aussicht, nichts war zu sehen, doch ich wusste, dass sich dort in der Dunkelheit das Daubenhorn erhob. Ich ließ ein Bad einlaufen und legte mich mit meiner alten Taschenbuchausgabe von Notes of a Native Son in der erhobenen Hand bis zum Hals ins warme Wasser. Die blechernen Klänge aus meinem Laptop stammten von Bessie Smith, die »I’m Wild About That Thing« sang, einen dreckigen Blues von meisterlich plausibler Abstreitbarkeit: »Don’t hold it baby when I cry/Give me every bit of it, else I’ll die/I’m wild about that thing.« Was sie besang, konnte ebenso gut ein Blasinstrument sein. Dort in der Wanne erlebte ich zu Baldwins Worten und Bessies Stimme meinen Doppelgängermoment: Da war ich nun, in Leukerbad, während die Empress of the Blues von 1929 herübersang, ich bin schwarz wie er, ich bin schlank und habe auch eine Zahnlücke, ich bin nicht besonders groß (nein, schreib es hin: klein), ich bin auf dem Papier leise und persönlich lebhaft, es sei denn, es ist gerade umgekehrt, und ich war einst als Teenager ein feuriger Prediger. (Baldwin: »Nichts ist mir seither begegnet, was der Macht und der Herrlichkeit gleichkommt, die ich manchmal fühlte, wenn ich mitten in einer Predigt wusste, dass ich irgendwie, durch irgendein Wunder, wie sie sagten, ›voll des Wortes‹ war, wenn die Gemeinde und ich eins waren.«) Auch ich bin aus der Kirche ausgetreten und betrachte New York, selbst wenn ich gerade nicht dort bin, als mein Zuhause; und ich empfinde mich überall, ob in New York oder in den Schweizer Bergen, als Treuhänder eines schwarzen Körpers, der eine Sprache für all das finden muss, was das für mich und die Menschen, die mich ansehen, bedeutet. Der Vorfahr nahm vorübergehend von dem Nachfahren Besitz. Es war ein Moment der Identifikation, und er sollte mich in den folgenden Tagen leiten.
»Allem Anschein nach hat vor mir in dieses winzige Schweizer Dorf kein schwarzer Mann seinen Fuß gesetzt«, schrieb Baldwin. Doch das Dorf ist seit seinen Besuchen vor über sechzig Jahren erheblich gewachsen. Man kennt Schwarze inzwischen; ich war kein staunenswerter Anblick. Es gab beim Einchecken im Hotel ein paar verstohlene Blicke und auch in dem feinen Restaurant ein Stück weiter; verstohlene Blicke gibt es immer. Es gibt sie in Zürich, wo ich den Sommer verbracht hatte, und es gibt sie in New York, wo ich seit vierzehn Jahren lebe. Es gibt sie überall in Europa, und es gibt sie in Indien – es gibt sie, wo immer ich außerhalb Afrikas hinkomme. Zur Nagelprobe wird erst die Frage, wie lange der Blick dauert, ob aus einem flüchtigen Blick ein starrer wird, welche Absicht dahintersteckt, ob in ihm Feindseligkeit liegt oder Spott und in welchem Maß er durch Verbindungen, Geld oder die Art, wie ich mich kleide, gemildert wird. Fremder sein heißt, Blicke auf sich zu ziehen, doch schwarz sein heißt, besondere Blicke auf sich zu ziehen (»[…] die Kinder rufen Neger!, Neger!, wenn ich durch die Straßen gehe«). Leukerbad hat sich verändert, aber in welcher Weise? Tatsächlich waren auf den Straßen kaum Kinder zu sehen. Vermutlich saßen die Kinder von Leukerbad wie ihre Altersgenossen überall auf der Welt wie hypnotisiert vor Computerspielen, Facebook-Timelines oder Musikvideos. Möglicherweise waren einige der älteren Menschen, denen ich unterwegs begegnete, jene Kinder von damals, die über den Anblick Baldwins so gestaunt hatten und denen gegenüber er sich in seinem Essay um einen gelassenen Ton bemühte: »All dies hatte, das muss ich zugeben, den Charme echter Verwunderung und war gewiss ohne eine Spur absichtlicher Unfreundlichkeit; dennoch, nichts ließ darauf schließen, dass man mich für ein menschliches Wesen hielt: Ich war einfach ein lebendes Wunder.« Ihre Kinder oder Enkel sind heute ganz anders mit der Welt verbunden. Vielleicht gehören Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus zu ihrem Leben, aber eben auch Beyoncé, Drake und Meek Mill, deren Musik ich freitagabends aus den Schweizer Clubs wummern höre.
Baldwin musste sich in den Fünfzigern seine Schallplatten mitbringen, eine Reiseapotheke gewissermaßen, er musste seinen Plattenspieler nach Leukerbad hochschleppen, damit amerikanischer Blues die Verbindung zum Geist Harlems aufrechterhielt. Manches davon hörte ich auch bei meinem Aufenthalt, um ihm näher zu sein: Bessie Smith’ »I Need A Little Sugar In My Bowl« (»I need a little sugar in my bowl/I need a little hot dog on my roll«), Fats Wallers »Your Feet’s Too Big«. Und ich hörte meine eigene Playlist: Bettye Swann, Billie Holiday, Jean Wells, Coltrane Plays the Blues, Physics, Childish Gambino. Mit der Musik, die dich begleitet, kannst du dir dein eigenes inneres Wetter machen. Aber auch die Welt spielt mit: Als ich mich mittags einmal im Römerhof zum Essen hinsetzte – an diesem Tag waren Gäste und Personal ausschließlich weiß –, lief im Lokal Whitney Houstons »I Wanna Dance With Somebody«. Die Geschichte ist jetzt und das schwarze Amerika.
Abends in einer Pizzeria starrte mich eine Tischrunde britischer Touristen an. Aber die Kellnerin war dunkelhäutig, und im Hotel arbeitete im Spa ein älterer Schwarzer. »Die Menschen sind der Geschichte ausgeliefert, und die Geschichte ist den Menschen ausgeliefert«, schrieb Baldwin. Aber es fliegen eben Bruchstücke der Geschichte herum und bleiben gemäß einer nicht immer klaren Logik irgendwo liegen, nur selten sehr lange. Weniger interessant vielleicht als die Tatsache, dass ich nicht der einzige schwarze Mensch im Dorf bin, ist die, dass viele Menschen, die mir begegnen, auch Fremde sind. Das ist die größte Veränderung von allen. Umgab das Dorf ehemals ein Hauch von Heiligkeit, die Aura eines alpinen Lourdes, so ist es heute ein geschäftiger Ort voller Besucher aus der Schweiz wie aus Deutschland, Frankreich, Italien und ganz Europa, aus Asien, Nord- und Südamerika. Leukerbad ist zum beliebtesten Thermalbad der Alpen geworden. Die Thermen und Bäder sind belebt. Es gibt Hotels in jeder Straße und jeder Preiskategorie, es gibt Restaurants und Luxusgeschäfte. Wer in tausendfünfhundert Metern Höhe eine zum Heulen teure Uhr kaufen will, kann es hier tun.
Die besseren Hotels haben ihre eigenen Thermalbäder. Im Hotel Mercure Bristol fuhr ich im Aufzug hinunter in den Spa-Bereich und hockte mich in die Sauna. Wenig später glitt ich in den Pool und trieb draußen im warmen Wasser. Es waren noch andere da, aber nicht viele. Es nieselte. Wir waren von Bergen umschlossen und schwebten in unsterblichem Blau.
In ihrem großartigen Buch Harlem is Nowhere schreibt Shafira Rhodes-Pitts: »In fast jedem von James Baldwins Essays über Harlem stößt man auf eine literarische Finte von der Art, wie sie ihm als Sportler den Ruf eingebracht hätte, den...