E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-96054-050-2
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Isabel Fargo Cole nähert sich der DDR-Realität von außen und taucht von dort in die schillernden Tiefen der Legenden und der Geschichte. "Die grüne Grenze" ist ein sehr reales Märchen vom Leben an der Grenze und ihrer Überwindung
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
1973
Am ersten Morgen, dem 8. Mai, mit Muskelkater aufwachen. Nicht wissen, wo man sich befindet. Oder: sich im eigenen Raum befinden, wieder einmal. Anfangs an einem vergessenen Ort, später im Kleiderschrank, unterm Schreibtisch des Ziehvaters, in der Koje im Heim, in der Kaserne, sich schließlich eine Wohnung nehmen, die leersteht. Dort erst beim Einschlafen spüren, wie sich Raum an Raum, Haus an Haus, Straße an Straße schließt, man selbst sich an die Stadt Berlin. Die zu erobern ist, nur anschließen muss man sich den Eroberern, deren Schritte draußen auf der Straße hallen. Anfangs, auch das vergessen, schritten Bomben die Straßen ab. Später Menschenfüße, fremde Marschmusik. Man lief hinaus auf die Straße, um zu sehen. Die Stadt lag in Haufen wie Bauklötze. Sie baute sich auf – man baute mit. Man will Eigenes leisten. Will Belohnung: Eigenes besitzen. Und zwar das, worauf man den geringsten Anspruch hat: einen anderen Menschen etwa. Bei so viel Lust bekommt man fast Angst, Schaden anzurichten. Als könnte man wie eine Bombennacht durch die Straßen ziehen. Lächerliche Einbildung, wo man am Ende selbst den Schaden trägt. Aber all das blieb nun außen vor. Das war das Entscheidende an diesem Raum: Noch wusste Thomas von nichts. Noch war nichts geschehen. Er wusste nur, dass er Geburtstag hatte. Feierliche Töne wehten herüber. Er lag auf einer Matratze zwischen Kisten und fremden Möbelstücken. Vorsichtig richtete er sich auf und ging ans Fenster. Hier also. Im Gebirge. So verloren in der Landschaft die Marschmusik. Es klang nach einer niedlichen Prozession, Figürchen, Fähnchen, winzigen Trompeten, die man in den graugrünen Tiefen des Bildes sucht. Frühlings-, ja Kindheitsgefühle: auf die Straße zu können, wenn Schlimmes vorbei ist. Tag der Befreiung. Kaffeegeruch. In der Küche saß Editha, der blonde Zopf zerfranst vom Schlaf, eine Hand auf dem Bauch, als müsste auch sie sich erst entsinnen, wo sie sei, was das denn alles sei. Aber sie hatte nur auf ihn gewartet; als er sich zu ihr setzte, sprang sie auf, küsste ihn auf den Kopf, schenkte ihm Kaffee ein und machte sich sogleich an die Kartons, zerrte und wühlte. »Als hättest du Geburtstag!«, rief er ihr hinterher. »So fühle ich mich auch!« Sie kam in die Küche, eine Kiste auf dem Bauch abgestützt. »Das geht mir zu schnell«, sagte er, nahm ihr die Kiste ab und stellte sie auf den Tisch. »Lasst uns erst mal in Ruhe frühstücken. Dann kümmerst du dich gefälligst um meinen Geburtstagskuchen, und ich räume hier auf.« Er wollte neckisch klingen, nicht so: gereizt, launisch. Aber fürs Necken war sie zuständig. »Genauso habe ich mir deinen Geburtstag vorgestellt! Du benimmst dich, als wäre deinetwegen Staatsfeiertag.« Aber er konnte sich kaum erinnern, seinen Geburtstag jemals gefeiert zu haben. Ein-, zweimal hatte es sich ergeben. Letztes Jahr war er noch allein gewesen. Jetzt hatte er große Lust auf Kuchen. Er atmete auf, es stach in den Rippen. Der zuverlässige Schmerz, der in den letzten Wochen immer wieder aufgetreten war, als er so viel durch die Stadt hetzen musste. »Ich habe mich gestern wohl verhoben«, sagte er. Sie saß da, er hatte es so gewollt, und betrachtete ihn. »Du hast Phantomschmerzen. Du bist auch schwanger.« Er lachte auf. »Ich muss dir etwas sagen«, doch er wusste nicht, was. Sie sah ihn erschrocken an, warum nur, in seiner Gelöstheit. »Ich bin zum ersten Mal schwanger.« »Ich ja auch!« »Und ich habe keine Ahnung –« »Ja?« »Was eigentlich –« »Ja?« »Wie denn –« »Ach, ich habe auch keine Ahnung. Von Familie und so. Du kennst meine Mutter ja. Ich bin im Grunde auch Vollwaise. Ich habe mich praktisch selbst erzogen!« »Dann weißt du Bescheid, das ist gut.« »Es wird schon alles schiefgehen.« Sie stand auf. Er fühlte sich nun auch zuversichtlich. »Erst der Kuchen!«, sagte sie, schickte ihn nach den Lebensmittelkisten und machte sich an die Arbeit. Thomas atmete durch und sah sich um: Der ehemalige Speiseraum mit den Aussichtsfenstern sollte Edithas Bildhaueratelier werden. Hier hatten sie gestern Abend fast all die Möbel deponiert, dort sollten sie bleiben, während er die anderen Zimmer in Ordnung brachte. Das war eine Aktion gewesen. Editha hatte den Umzugswagen organisiert, eine besondere Firma aus dem Sperrgebiet. Der Fahrer, ein mickriger Typ mit Raucherhusten, hatte kaum Kraft zum Lenken. Editha, in die Mitte gequetscht, plauderte beim Navigieren mit diesem Zwerg und rauchte sogar zur Feier des Tages eine mit. Thomas wunderte sich über ihre Seelenruhe; in der betäubenden Rauchwolke schlief er schließlich ein. Als sie Stunden später für die erste Kontrolle anstanden, wurde er wach. Es war schon dunkel. Grelle Lichter, die Beamten leuchteten in den Wust aus verkeilten Möbeln, die Thomas nun fremd und verdächtig vorkamen. Endlich durften sie weiterfahren. Die Scheinwerfer leuchteten krumme Straßen aus, schiefes Fachwerk, uraltes Stroh, das sich aus Rissen löste, Gras am Straßenrand, Baumstämme, zwei riesige Tannen, ein einsames Haus, holzverschalt. Die Umzugshelfer waren noch nicht da. Dafür tauchte nach einer Viertelstunde ein Militärfahrzeug auf – man schaute nach dem Rechten. Als Editha sich Bauch voran aus der Fahrerkabine stemmte, packten zwei Soldaten ungefragt mit an, halfen Thomas, die Möbel auszuladen. Es waren schlaksige Burschen, mit den sauer verdienten Muskeln der Dienstzeit und den so unpassenden Milchgesichtern, disziplinloser Haut voller Stoppeln und Pickel. Sie taten ihm leid, so linkisch und beflissen. Wie er seinerzeit wohl auch. Er vergaß, nach ihren Namen zu fragen. Was man mit einem unvorhergesehenen Kind alles auslöste. Es blieben nur noch zwei Monate Zeit. In der Nacht hatte er lange wachgelegen, der Körper, verkrampft, schien sich an den Kanten des fremden Zimmers abzuarbeiten. In Träumen, die er später vergaß, vollzog er immer wieder die gleiche Bewegung, drehte sich im Kreis. Der Krampf hatte sich gelöst, als die Musik ihn ans Fenster rief. Nun stand er vor diesen Möbeln, die zur Hälfte seine waren, und erkannte nichts davon wieder. Alles durcheinander wie beim Trödler. Vor einer Woche hatten sie bei ihm in der Berliner Wohnung gestanden, in einer nun auch im Gedächtnis aufgelösten Ordnung. Er ließ sich jetzt auf das schöne Spiel ein, sie sich aufs Neue beim Trödler auszusuchen. Unten im Tal fuhren Wagen vorbei, eine ganze Kolonne. Er zwang sich, nicht hinzusehen. Er stellte die Möbel um und um, bis es aussah, als könnte sich hier Leben abspielen. »Das machst du schön!«, sagte Editha und ließ sich langsam, schwitzend in einen Sessel nieder. »Du hättest dir aber nicht so viel Mühe machen müssen, es ist eh nur provisorisch.« »Aber es passt doch.« »Uns gehört das ganze Haus!« Editha hatte ihm alles erzählt: von der alten Ausflugsgaststätte der Familie, die ihre Mutter Margarethe endlich zurückbekommen hatte. Aber er sah das Haus zum ersten Mal. Einmal nur waren sie in den Harz gefahren, im März nach Elend zur Schwiegermutter (furchtbar, die Schwiegermutterwitze …). An jenem Wochenende war irgendetwas gesperrt – scheinbar eine Alltäglichkeit, schließlich gehörte Elend auch zum Sperrgebiet – und es war nicht möglich gewesen, die paar Kilometer nach Sorge zu fahren, um das Haus zu besichtigen. Ein paar uralte Werbepostkarten wurden hervorgekramt, Vogts Waldschänke an der Lindewarte, ein graues Puppenhaus, von Schnörkeln umrahmt. Thomas hatte das Haus bewundern sollen, er war dazu bereit gewesen. Da es niemanden weiter zu irritieren schien, hatte auch er mit den Schultern gezuckt und war auch nicht irritiert und musste doch nichts bewundern, sondern nur höflich sein. »Ich kann mein Glück wohl noch nicht fassen.« Wieder diese Marschmusik, wieder zog sie ihn ans Fenster. Aber die Müdigkeit war doch noch da. Editha stellte sich neben ihn. »Siehst du was?« Er schüttelte den Kopf. »Wir könnten auch hingehen, gucken.« »Ja, wahrscheinlich sollte man sich blicken lassen.« »Ach wo – wir sind doch beide verhindert. Außerdem hast du Geburtstag. Aber wenn du willst … der Kuchen muss eh abkühlen.« »Dann gehen wir mal schauen.« Sie nahmen die Abkürzung am Waldrand steil hinunter. Der eigentliche Feldweg Auf der Lindewarte führte erst im Zickzack zum Nachbardorf Tanne. Und auch der Waldweg war Editha zu lang. Sie...