Eine Irrfahrt
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0218-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Coles Expedition führt tief in die Schürf- und Abgründe des amerikanischen Traums, der mit seinen wirkmächtigen Versprechen bis heute Menschenmassen anzieht und wieder ausspuckt: abenteuerliche Glücksritter, Vagabunden und Helden verblasster Zeitungsmeldungen. Was sie dabei zu Tage fördert, ist wertvoller als Gold: ein erzählerisch-essayistisches Schu¨rffeld voller Geschichten und Reflexionen u¨ber ein Grenzland fremder Heimat.
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4. Juli 2018 Unabhängigkeitstag. »Schwere Wanderung« ohne meine Eltern, einen Zickzackpfad von der Park Road den ersten Kamm der Outer Range hinauf. Am Scheitel angelangt wand sich der Weg einen Felsvorsprung empor, wo Menschensilhouetten vor dem Umriss der Alaska Range gestikulierten oder sich auf der Suche nach Weite und Aussichten zerstreuten. Wir zogen in die andere Richtung am breiten Grat querfeldein – im Park ausdrücklich erwünscht, damit die wenigen Wanderer keine Trampelpfade bilden, sondern sich in der Landschaft verlieren. Das karge, wegsame Terrain lenkte den Blick vom Hochgebirge nach Norden hinaus in die Unscheinbarkeit der Outer Range: fließende Formen, Momentaufnahme eines Wellengangs. Der Hang zu unseren Füßen ging ins Ockergelbe, ins Weißliche, ins Ziegelrote über, fiel linkerhand ins Grasgrün eines Talgrunds hinab; der nächste Hang erhob sich karibufarben vor einem höheren dunkelroten Kamm. Noch weiter nördlich: blaue Höhenzüge, fast schneefrei, dem kühlen Juliwind ausgesetzt. Die Geologin erklärte die Berge. Diese Wogen mit ihren Farbschleiern aus Eisenoxid sind Sedimentgestein durchbrochen von gelbem Schotter, das aus derselben Lava besteht wie der Denali. Hier schnell abgekühlt – wie die erstarrende Welle der Legende – wurde sie zu Rhyolith, dicht und feinkörnig. Aber in einer Kammer weit unter der Erdoberfläche staute sich eine Magmamasse und kühlte sehr langsam ab, kristallisierte grobkörnig, wurde zu Granit. Weniger dicht als das sie umgebende Gestein, stieg sie an die Oberfläche mitten in einer Verwerfung, die Denali Fault, die hier nach Süden abknickt. Im Knick staut sich die ungeheure Spannung und drückt das Massiv des Denali – die fossile Magmakammer, der Intrusivkörper, der Pluton – weit empor. Der Pluton steigt immer noch und erodiert nur langsam, durchzogen von allmählich gewachsenen Kristallgittern, während das Gestein, auf dem wir gingen, zerbröselt. Im Schotter wuchsen Blumen und zähe Gräser. Die Geologin und ein pensionierter Professor der environmental literature steckten die Köpfe über dem Pflanzenführer zusammen. Die Wildblumen-App bewies, dass hier durchaus Empfang war. Ich kam mit einem jungen Anthropologen ins Gespräch, der gerade seine Masterarbeit eingereicht hatte. Sein Thema: Wie setzen Großkonzerne die Ich-Form in ihren Social-Media-Postings ein? »Ah«, sagte ich, »corporations are people«. (Der sarkastische Spruch hatte sich seit dem Rechtsfall Citizens United 2010 eingebürgert: Das Recht auf Meinungsfreiheit, so entschied der Oberste Gerichtshof damals, entbinde auch Körperschaften jeglicher Beschränkungen bei Wahlkampfspenden.) Der Anthropologe reagierte zurückhaltend – war ihm die Floskel politisch unliebsam oder nur zu laienhaft ausgedrückt? Wir hielten uns an die Karibu-Pfade. Die Geologin zeigte uns aufgeschürfte Stellen, wo Grizzlys nach Erdhörnchen gegraben hatten. Vom Graben nämlich stammt der muskulöse Schulterbuckel, der den Grizzly auszeichnet – er hat es auf kleine Tiere in ihren Bauen abgesehen, oder auf Baumwurzeln, und im Winter hebt er sich selbst eine Höhle aus. Pause an einem Felsvorsprung, ein kleines Spiel: all die Blumenarten zählen. Aus den Ritzen zwischen Steinen wuchsen Vergissmeinnicht, Steinkraut – so viel erkannte ich –, Anemonen, Silberwurz, Polsternelken, Fingerstrauch, Dutzende von anderen Arten. Dort, wo wenig wächst, wächst es in umso größerer Vielfalt. Der kargste Biotop, die alpine Tundra, ist der älteste, der sich seit 140 000 Jahren kontinuierlich fortentwickelt. Eine Auslese an zarten Pflänzchen, so findig und so hilflos, raffiniert angepasst an die winzigen Nischen, die ihnen nun entgleiten. Ihr Lebensraum verflüchtigt sich immer weiter nach oben, bis er sich wie eine Wolke von den alten Berggraten verziehen wird. Abends das 4th of July Barbecue. Der Speisesaal war mit rot-weiß-blauen Girlanden geschmückt, eine lange Tafel mit Rippchen, Würstchen, Hamburgern, Kartoffelsalat, Maiskolben und Wassermelone war bereitet. Den Unabhängigkeitstag hatte ich zum letzten Mal vor fünf, sechs Jahren beim Picknick der Democrats Abroad Berlin auf dem Tempelhofer Feld gefeiert. Das Picknick ist der Sinn und Zweck des Feiertags, es steht für einen Sommernachmittag in einer Kleinstadt in einer einfacheren, unschuldigeren Zeit. Main Street, anno 1880. Nach einem Umzug mit Blaskapelle und Feuerwehrwagen sitzt man an langen Tafeln unter den Ulmen auf dem Anger zwischen Kirche und Gerichtsgebäude. Bei Anbruch der Dunkelheit inszeniert ein Feuerwerk die Bilder der Nationalhymne: The rockets’ red glare, the bombs bursting in air, gave proof through the night that our flag was still there. An dieser Stelle versagen die Stimmen. Gave proof to the night, habe ich lange Zeit verstanden. Der rote Glanz der Raketen will der Nacht etwas beweisen. Anlass der Hymne war das Bombardement Fort McHenrys durch die Briten im Jahr 1814, eine Schlacht um eine Fahne, glaubte ich als Kind. Mit der Eroberung des feindlichen Feldzeichens ist der Kampf entschieden – solch altbackene Kriegsrituale schrieben wir doch sonst den Briten zu. The redcoats, the lobsterbacks – in hummerroten Uniformröcken marschierten sie die Landstraßen entlang, Zielscheiben für unsere Freischärler. Sie: die zur Symbolik erstarrte Hybris des Imperiums. Wir: die pragmatischen Guerillakämpfer. (Als eine solche Freischar verstand sich der Haufen, der im Januar 2021 das Capitol in Washington überrannte, die erste erfolgreiche Erstürmung seit jenem Kriegsjahr 1814. Große, alptraumgetriebene Kinder brachen mit wehenden Fahnen – Sternenbannern, Klapperschlangenfahnen, Flaggen der Sklavenhalter – in das Innere der Demokratie, an die sie doch nicht glaubten. Staunend, sich in einem realen Raum zu befinden, zückten sie ihre Smartphones, um ihr Vorhandensein in ihm beweisen zu können. Sie irrten durch die Gänge auf der Suche nach der unschuldigeren Zeit, und da sie nichts fanden, schissen sie auf den Fußboden.) Unschuld: Am langen Picknicktisch redet man bloß nicht über Politik, erst recht nicht über Religion. Dass meine Mutter etwa, seit zwanzig Jahren Mitglied eines Nähzirkels in Silver City, über die politischen Sympathien mancher langjährigen Quilting-Bekanntschaft bis heute im Unklaren ist, befremdet mich. Aber in der sozialen Hemmung liegt vielleicht eine kriegsmüde Weisheit. Welche Wohltat, so zu tun, als komme es nicht auf die Politik an. Als Verbindendes genügen die Berufe und Hobbys, die Orte, aus denen die Menschen stammen, die Orte, an die es sie verschlagen hat. Beim Denali-Grillabend befanden wir uns vermutlich unter Gleichgesinnten. Wir hätten reden können. Lieber genossen wir die unverdiente Atempause. Vor der Eröffnung des Büffets trat eine Betreuerin vor uns, einen Zettel in der Hand. Leichtes Unbehagen im Saal – aber die junge Frau verzichtete in ihrer Ansprache auf Heimatsrhetorik und Politik, bemerkte nur, wie passend es sei, den Nationalfeiertag im Nationalpark zu feiern. Die Parks hatte Trump freilich zum Politikum gemacht, oder vielmehr dem Allerletzten klargemacht, dass sie es schon immer gewesen waren. Aber bei der kleinen Festrede blieb all das außen vor. Trumps Günstlinge Ryan Zinke und Scott Pruitt mussten nicht namentlich erwähnt werden. Auch unser Staatsoberhaupt wurde mit keinem Wort gewürdigt. In der großen Auflösung, die er so fleißig vorantrieb, verflüchtigte er sich als Erstes, ein Brandbeschleuniger, von dem künftige Geologen keine Spur entdecken würden. Der schlichte Satz der jungen Frau schien vielmehr andere Präsidenten zu würdigen, Theodore Roosevelt etwa, vor allem aber seinen entfernten Vetter Franklin Delano. Auf ihn berief sich Bernie Sanders schon seit Jahren. Es war dann aber doch Joe Biden, der im euphorischen Moment seines Wahlsieges 2020 zum neuen FDR erklärt wurde. So stark war die Sehnsucht und so naheliegend schien der versäumte linke Weg. Anfang der 1930er-Jahre waren die Gehwege Silver Citys zuletzt umfassend erneuert worden. Auf den Betonplatten stehen abgenutzt, aber noch gut lesbar, die Jahreszahlen und der Aufdruck WPA, Work Projects Administration. Die anheimelnden Hütten, die bequemen Wege der Nationalparks haben vielerorts die Arbeitslosenbrigaden der Civilian Conservation Corps gebaut. Alles so greifbar, wie ein Gedanke, der sich ganz von allein weiterdenkt. Als Tagtraum, wenn ich in Silver City über die inzwischen schiefen Gehwegplatten laufe: In einer alternativen Wirklichkeit sind die USA diesen Weg immer weitergegangen. Als politische Vision, die heute junge Menschen hochhalten: ein Green New Deal, ein Climate Conservation Corps. Er ist nicht totzukriegen, der schwärmerische Pragmatismus von damals, aber auch nicht im selben Geiste wiederzubeleben. Nie wieder hat der Staat mit so großer Geste Nützliches geleistet. Die WPA baute nicht nur Bürgersteige, auch Künstler konnten sich einbringen, schufen monumentale Wandgemälde in Schulen und Postämtern und bauten...