Psychothriller
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-16301-3
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Dinge gibt es über Jessica Gold zu wissen: Sie ist neunundzwanzig Jahre alt, sie hat eine Knopfphobie, und sie wurde entführt. Von einem Fremden, der sie zwölf Tage lang in seiner Wohnung gefangen hält, sie mit perfiden Grausamkeiten quält, sie angekettet in einer Hundehütte am Fuß seines Bettes schlafen lässt. Und jeden Tag überreicht er seinem Opfer ein Geschenk - eines grausamer als das nächste -, bis Jessica am zwölften Tag sicher weiß: Der Mann wird sie töten. Doch Jessica hat ein Geheimnis, von dem niemand etwas ahnt ...
Tammy Cohen arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Zeitschriften und Magazine, u.a. für »Cosmopolitan« und »Woman and Home«. Auch wenn sie das Schreiben fiktionaler Texte erst spät für sich entdeckte, hat sie bereits mehrere Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Partner, ihren drei (fast) erwachsenen Kindern und einem sehr ungezogenen Hund im Norden Londons.
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1 Es kann gut sein, dass ich schon tot bin, wenn Sie das hier zu Ende gelesen haben. Drei erwähnenswerte Dinge über mich: Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, ich habe eine Knopfphobie. Und ich sterbe. Dabei ist es jetzt keineswegs so, dass ich noch zwei Jahre zu leben hätte und hier eine Liste von Sachen aufschreibe, die ich in der kurzen mir verbleibenden Zeit noch erleben will. Nein. Ich sterbe hier und jetzt. Sie können mir gewissermaßen dabei zugucken wie in einem Snuff-Film. Wie ich in diese Situation geraten bin? Vielleicht war ich einfach vom Geist der Weihnacht beseelt und dementsprechend milde gestimmt. Außerdem hat er mir gesagt, ich sei schön. Dass er selbst ziemlich gut aussehend war, hat sicher auch nicht geschadet. Er sah diesem Schauspieler aus Silver Linings ähnlich, dem, der immer die durchgeknallten Typen spielt. Vielleicht hätte mich das stutzig machen sollen. Na ja, man lernt nie aus. In meinem Fall stimmt das natürlich nicht ganz. Es könnte für mich mit dem Lernen – und allem anderen – ganz schnell vorbei sein. Ich saß im Café eines Kaufhauses in der Oxford Street. Ich hatte schon vier Stunden Weihnachtsshopping hinter mir. Normalerweise ging ich nicht in solche Cafés – dort herrscht klaustrophobische Enge, und immer steht ein Kinderwagen im Weg rum. Oder der größte Rollstuhl, den man jemals gesehen hat. Aber draußen kam an diesem Tag ein fieser Eisregen runter, und ich war mit all diesen Tüten beladen. Ich fand einen freien Tisch – was für ein Glück, immerhin war Heiligabend –, stellte meinen Cappuccino ab und drapierte meine Tüten um mich herum. Für die mit dem Spielzeug für meinen Neffen war nur noch auf dem Tisch Platz. Als ich sie abstellte, muhte es daraus hervor. Ich war an dem Punkt angekommen, an dem man seine gerade gekauften Weihnachtsgeschenke betrachtet und unweigerlich zu dem Schluss kommt, dass keins das richtige ist. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, besteht darin, noch mehr einzukaufen. Ich fühlte mich also schon belästigt, als er sich meinem Tisch näherte. »Darf ich mich setzen?« Ich zuckte ohne aufzusehen mit den Schultern. »Es tut mir leid, aber hier drin ist es so voll. Wahrscheinlich muss man eine Niere verkaufen, um einen freien Tisch zu ergattern.« Das ließ mich hochschauen. Als Erstes sah ich seine unheimlich blauen Augen. Sie standen ein bisschen zu eng beieinander, aber das war fast schon eine Erleichterung. Ohne diesen kleinen Makel hätte er so sehr wie ein Filmstar gewirkt, dass man ihn auf keinen Fall hätte ernst nehmen können. Eine lange, gerade Nase. Braunes, gewelltes Haar, das er sich aus dem Gesicht gestrichen hatte. Ein Grübchen in der Wange, ganz nahe bei seinem Mundwinkel. Ein Grübchen auch am Kinn, das ihm diese verwegene männliche Ausstrahlung verlieh. Solche Männer gibt es in meinem Leben eigentlich nicht. Jedenfalls nicht in dreidimensionaler Form. Ich starrte angestrengt auf meinen Cappuccino, als wollte er mir dringend etwas sagen, und wünschte mir, ich hätte ein Buch dabei. Dass dieser attraktive Mann mir gegenüber an dem kleinen Tisch saß, schnürte mir vor Aufregung den Brustkorb zusammen. »Sie haben Ihre Weihnachtseinkäufe erledigt, wie ich sehe.« Ach was, Sherlock. Das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen sagte ich: »Ja, ich hab es wieder bis zum letzten Moment aufgeschoben.« Da sagte er es. »Wissen Sie eigentlich, wie wunderschön Sie sind?« Und wie oben bereits erwähnt, reichte das aus, um mich dahinschmelzen zu lassen. Es folgte ein peinliches Schweigen. Ich nippte an meinem Cappuccino, hatte dann aber Angst, dass es einen ohrenbetäubenden Lärm verursachen würde, sollte ich tatsächlich schlucken. »Es tut mir leid, dass ich Sie so anstarre«, sagte er, und als ich kurz aufsah, bohrte sich sein Blick in meinen. »Sie erinnern mich an irgendjemanden.« Ich konzentrierte mich ganz auf ihn, zwang mich dazu, seinem Blick standzuhalten, indem ich mir unter dem Tisch die Fingernägel in die Handfläche presste. Das lenkte mich von der Peinlichkeit der Situation ab. Und natürlich davon, dass ich dieses Gespräch nicht hätte befördern, geschweige denn seine Augenfarbe hätte bemerken sollen. Schließlich bin ich in einer Beziehung. »Tatsächlich?«, antwortete ich dennoch. »Normalerweise erinnere ich niemanden an irgendwen. Obwohl, einmal hat mir jemand gesagt, ich sähe aus wie Daisy, die Küchenmagd aus Downton Abbey. Aber ich glaube, das sollte ein Witz sein, weil ich damals gerade eine Schürze trug.« Wenn ich nervös bin, rede ich immer zu viel. Aber er lächelte unbeirrt weiter, und das Grübchen in seiner Wange war eine Höhle, die ich erforschen wollte. »Sie erinnern mich an meine Frau«, sagte er nun und rührte in dem Teeglas, das vor ihm stand. Wolkige Schlieren stiegen auf und färbten das klare Wasser allmählich grün. »Eigentlich habe ich sie seit Monaten nicht mehr gesehen, also sollte ich wahrscheinlich eher ›Exfrau‹ sagen. Sie sieht Ihnen wirklich sehr ähnlich. Als ich Sie vorhin auf der Straße sah, habe ich Sie für einen kurzen verrückten Moment für sie gehalten. Darum bin ich Ihnen gefolgt.« »Sie sind mir gefolgt?« Er strahlte mich an, als hätte ich ihn gerade für seine unglaubliche Gerissenheit gelobt. »Während ich Handschuhe und Schals anprobiert habe? Und in die Spielzeugabteilung? Und …« Ich lief knallrot an, als mir siedend heiß mein ausgedehnter Ausflug in die Dessousabteilung einfiel. »Ja«, bestätigte er meine Befürchtungen. »Das war alles so unwirklich. Und als Sie sich dann hier hingesetzt haben, dachte ich: ›Hey, das ist deine Chance!‹« Ich nickte bedächtig, so als wäre es für mich etwas ganz Gewöhnliches, dass mir irgendwelche Typen in Kaufhäuser nachliefen. »Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht erschreckt. Ich verspreche Ihnen, ich bin kein irrer Axtmörder.« Falls mein Instinkt in diesem Moment so etwas wie ein sarkastisches Schnauben von sich gab, ignorierte ich das geflissentlich. »Sieht aus, als würden Sie für eine ganze Kompanie einkaufen.« Er zeigte auf die vielen Tüten, die uns umzingelten. »Ach, das ist nur für die Familie«, sagte ich und ließ Travis wohlweislich unerwähnt. Es ist nicht so, dass meine Familie mir besonders tolle Geschenke macht. Letztes Jahr habe ich von meinen Eltern sechs Sitzungen bei einer Psychotherapeutin bekommen. Meine Mutter hatte sich sogar die Mühe gemacht, einen richtigen Geschenkgutschein am Computer zu entwerfen: Dieser Gutschein berechtigt zur Teilnahme an sechs Sitzungen bei Sonia Rubenstein. Er steckte in einer Karte, auf der eine glitzernde Schneekugel abgebildet war, in der Kugel ein paar winzige Kinder, gefangen in einer ewigen Schneeballschlacht. »Nicht, dass wir finden, dass mit dir etwas nicht stimmt«, sagte meine Mutter und blickte mich unsicher an, während ich den Gutschein genauer betrachtete. »Wir wollen einfach nur, dass es dir so gut wie möglich geht.« »Und was ist, wenn es mir nicht besser gehen kann?« Mein Vater lachte, als hätte ich einen guten Witz gemacht. »Dann steh Gott uns bei«, antwortete er. Ich war entschlossen, den Gutschein aus Prinzip nicht einzulösen, aber natürlich hielt ich das nicht durch. Und als die sechs Sitzungen rum waren, ließ ich mir sechs weitere Termine geben. Es wurde zu einer Dauereinrichtung. Hätte ich etwa die Möglichkeit verstreichen lassen sollen, fünfundfünfzig Minuten pro Woche nur von mir zu reden? Ich bin doch nicht verrückt. Der Fremde, der mir gegenübersaß, sagte nun wieder etwas. »Was ist mit Ihnen? Leben Sie allein, oder gibt es da jemanden …?« Ich dachte kurz an Travis, verdrängte ihn aber gleich wieder. »Niemanden von Bedeutung.« »Ach, kommen Sie. Sie wollen mir erzählen, dass eine so hübsche Frau wie Sie keine Verehrer hat? Irgendjemanden muss es da geben. Jemanden, für den Sie Weihnachtsgeschenke kaufen, die nicht von der Last-Minute-Resterampe im Kaufhaus stammen?« Wieder dachte ich an Travis. In unserem ersten Jahr hatte er mir eine Flasche Sauvignon Blanc für fünf Pfund neunundneunzig geschenkt. Er hatte sie am ersten Weihnachtstag auf dem Weg zu mir in irgendeinem Laden gekauft. Sie war in die Plastiktüte eingewickelt, mit der er sie gekauft hatte. Außerdem klebte das Preisschild noch drauf. »Ich weiß ja, dass dir Weihnachten nicht so wichtig ist«, hatte er verkündet, und ich hatte den Kaschmirpullover, den ich für ihn gekauft hatte, hinter dem Sofa verschwinden lassen. »Nein«, log ich den Fremden an, »es gibt wirklich niemanden.« In einer meiner Tüten war unter anderem ein kleines Geschenk, das ich für meine dreizehnjährige Nichte Grace gekauft hatte, eine dieser Figuren, die sich ausdehnen, wenn man sie ins Wasser stellt. Züchte dir deinen eigenen Märchenprinzen stand auf der Verpackung. Nun, die kleine Figur hätte auch ich sein können, nur hätte auf meiner Verpackung Züchte dir dein eigenes Opfer gestanden – handgemacht, speziell für ihn, in Geschenkpapier eingewickelt und mit einer Schleife dekoriert. Der Mann mit den wahnsinnig blauen Augen betrachtete mich über den Tisch hinweg. Dann streckte er die Hand aus. Ich bemerkte den goldenen Ehering an seinem Finger und fragte mich, warum er ihn immer noch trug. »Schon komisch, es gibt einfach Dinge, von denen wir uns schwer trennen können«, sagte er – und ich war peinlich berührt, weil er meinen Blick offenbar bemerkt hatte....