E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Cohen Du stirbst nicht allein
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20563-8
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-20563-8
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor vier Jahren erschütterte der Mord an der siebenjährigen Megan Purvis ganz London. Die Leiche des Mädchens wurde in einem abgelegenen Waldstück gefunden, auf ihrem nackten Schenkel stand das Wort »Sorry«. Zwei Jahre später verschwand Tilly Reid, auch ihre Leiche wurde gezeichnet und im Wald gefunden. Vierzehn Monate danach fand man erneut eine Mädchenleiche. Der Mörder der drei wurde nie gefasst. Und nun ist die kleine Poppy Glover verschwunden ...
Tammy Cohen arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Zeitschriften und Magazine, u.a. für »Cosmopolitan« und »Woman and Home«. Auch wenn sie das Schreiben fiktionaler Texte erst spät für sich entdeckte, hat sie bereits mehrere Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Partner, ihren drei (fast) erwachsenen Kindern und einem sehr ungezogenen Hund im Norden Londons.
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1
Donnerstag wird der Müll geleert, denk dran, die Mülltonne vor das Tor zu stellen, oder sie nehmen ihn nicht mit. Jemima? Hat heute Sport, Turnzeug ist gewaschen und liegt neben ihrer Schultasche (das Oberteil ist langsam viel zu klein, muss ein neues bestellen), die Einkäufe sind ordentlich im Kühlschrank verstaut. Verdammt, Caitlins Geige braucht eine neue Saite. Muss dran denken, bei Maitlands eine mitzunehmen und sie vor dem Unterricht in der Schule abzugeben. Wie spät ist es? Vier? Halb fünf? Zum Glück ist Nancy dran, die Mädchen vom Ballett abzuholen, also habe ich Zeit für ein richtiges Abendessen. Brathähnchen? Oder was war es noch, was Jemima letzte Woche bei ihrer Freundin Violet gegessen hat und so gern mochte? Tagine mit irgendwas? Sollte ich das mal ausprobieren?
Verloren in ihrem Gedankenstrom, nahm Emma den Wecker nur am Rande wahr.
»Kannst du das Scheißding abstellen?«, fragte Guys Rücken. Er betonte das »Scheiß«, wie ein unsicheres Kind, das zum ersten Mal zu fluchen versucht. Schon komisch, dass sein Rücken fast schon eine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte, jetzt, da Emma ihn so oft sah. Er war widerspenstig, kompakt und unnachgiebig – sie stellte ihn sich wie Marlon Brando in Endstation Sehnsucht vor, nur in sich gekehrte Muskeln und angespannter Widerstand. Ganz anders als Guy selbst, dessen Anwesenheit wie feiner Nebel über dem ganzen Haus lag und überall und nirgends gleichzeitig war.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und stemmte sich mutlos hoch. Konnte es wirklich eine Zeit gegeben haben, in der sie die Decke zurückgeworfen und sich kopfüber in den neuen Tag gestürzt hatte? Sie versuchte sich zu erinnern, doch ihr Kopf war leer.
Sie saß auf der Bettkante wie ein Vogel auf seiner Stange und hob ihre Sachen von dem cremefarbenen Schaffellteppich auf. Die Wolle fühlte sich weich und tröstlich an, und sie verspürte den Drang, ihr Gesicht darin zu vergraben.
Stattdessen streifte sie mit möglichst wenigen Bewegungen ihren Schlafanzug ab und schlängelte sich in ihre Kleidung. Sie hatte Guy den Rücken zugewandt – wenn er sich umgedreht hätte, hätte er nur ihr Rückgrat und die scharfen Kanten ihrer Schulterblätter gesehen, bevor der Schleier ihres weiten grauen Baumwolljersey-Oberteils über die weiße Leinenhose mit den weiten Beinen fiel. »Die westliche Variante einer Burka« hatte Guy die Kleider einmal genannt, die sie dieser Tage trug. Er hatte dabei ironisch geklungen, doch sein Gesicht war traurig gewesen.
Obwohl es noch früh war, brannte die Sonne schon durch die weißen Vorhänge und beleuchtete die antiken Schränke im französischen Stil und den Sessel mit dem Kattunbezug und den cremefarbenen bestickten Kissen. Im Morgenlicht, das durch die Milchglasscheibe hereindrang, schien Guy, der in dem riesigen Bett seitlich auf einem Nest aus weißen Kissen und Daunendecken lag, wie eine übergroße Putte auf einer Wolke zu schweben. Nur sein Rücken, angespannt und düster, zeigte ihr, dass er wach war.
Sie tastete sich vorsichtig am Geländer entlang, öffnete dann die Tür zu Caitlins Zimmer einen Spaltbreit und verharrte einen Augenblick im Türrahmen. Als Emma zart den Fuß ihrer Tochter berührte, riss diese die Augen auf, die vom selben Goldbraun wie Herbstlaub waren, und blinzelte, obwohl Emma wusste, dass sie sie noch nicht sehen konnte. Sie war noch immer in dem Traumland, das sie im Schlaf besucht hatte, und jagte ihrem Traum durch hallende Korridore nach. Schließlich wurde ihr Blick fokussierter, und Emma wusste, dass sie nun wieder zu ihr kam. Es war dieser Moment, den sie am allermeisten genoss – wenn Caitlin von da zurückkehrte, wo auch immer sie gewesen war, und für einen kurzen Augenblick wieder ganz ihr gehörte.
»Hallo, Süße«, begrüßte sie sie in neutralem Tonfall, während sie sich auf die Bettkante setzte und mit der Rückseite der Finger über Caitlins weiche Wange strich. Was sie eigentlich wollte, war natürlich, sich ihre jüngste Tochter gegen die Brust zu pressen, sich neben sie ins Bett zu legen und sich unter dem Federbett an sie zu kuscheln. Doch erst vor Kurzem hatte sie gespürt, dass sich Caitlin bei diesem morgendlichen Knuddeln nicht mehr wohlfühlte. »Das ist mir zu heiß«, hatte sie sich beschwert und ihren noch immer weichen Körper versteift und sich gegen sie gestemmt. »Ich verdampfe gleich.«
An diesem Morgen nun schien Caitlin schon allein vor der Berührung der Finger ihrer Mutter zurückzuweichen.
»Hast du die Saite für meine Geige gekauft?«, wollte sie wissen und sah Emma dabei direkt, und ohne zu blinzeln, an.
»Tut mir leid, mein Liebling, ich hab’s vergessen. Deine dumme Mama wird dir deine Geige in die Schule bringen müssen.«
Caitlin runzelte die Stirn. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie bei der Scharade mit der gespielten Reue mitgemacht. »Ja, dumme Mama.« Doch jetzt, mit neun Jahren, war sie einfach nur sauer. »Du vergisst dauernd irgendwas.«
Der Vorwurf schmerzte – und zwar umso mehr, weil sie ihn sich verdient hatte. Emma versuchte sich zu erinnern, ob sie schon immer eine Mama gewesen war, die Dinge vergaß. Ja, klar, ihr Alltag war voller Textmarker und farbcodierter Kalender und kleiner Notizblöcke in leuchtenden Farben, auf denen »Nicht vergessen!« oben quer aufgedruckt war. Vielleicht war sie trotz der Post-its und der Kalender immer eine Mama gewesen, die Dinge vergaß – die Sorte Mutter, die an einem Freitag schwitzend und verspätet in ein beinahe leeres Klassenzimmer platzt, um ein angststarres Kind abzuholen; die Sorte Mutter, deren Töchter mit leeren Händen beim Kuchenbasar aufkreuzen.
Auf dem Weg weiter nach oben zögerte sie, dann straffte sie sich und klopfte sanft an Jemimas Tür. Jemima war dieser Tage so gereizt mit ihrer neu erworbenen Attitüde einer Dreizehnjährigen und so entfremdet von ihrem noch immer kindlichen Körper.
Jemima war bereits wach. Emma konnte sie hinter ihrer Tür wild murren hören. Sie war sicher schon dabei, Klumpen von Kleidern aus Schubladen zu zerren und sie nach dem einen unauffindbaren Ding zu durchforsten, das ihre Freundin India vor Neid schäumen lassen oder die Blicke Finns aus der Parallelklasse auf sie ziehen würde. Später würde Emma in ihr Zimmer gehen, die verstreuten Klamotten aufheben und sie ordentlich zusammengefaltet wieder in die Schubladen legen. Guy hasste es, wenn sie das tat. »Wie sollen sie es jemals selbst lernen, wenn du ihnen immer alles abnimmst?«, würde er sie anblaffen, weil er nicht verstand, dass sie es tun wollte. Um sich ihnen näher zu fühlen.
Als sie nach unten kam, saß Caitlin schon am Küchentisch und beugte sich über eine Schale mit Müsli, während ihre vielen dunklen Haare ihr Gesicht verbargen. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Schachtel mit Loom-Bändern, und Emma wurde schwer ums Herz, wenn sie daran dachte, dass sie später die winzigen elastischen Kunststoffbänder vom Boden aufsammeln würde.
»Ich hasse Donnerstage.« Jemima hatte sich auf einen Stuhl gefläzt und starrte ihre Mutter böse an, als ob allein Emma dafür verantwortlich wäre, dass der Mittwoch nicht nahtlos in Freitag überging. »Doppelstunde Mathe, Doppelstunde Französisch und Ethik.«
Emma schaltete das Radio ein und wünschte sich, dass sie nur ein einziges Mal etwas anderes als diesen nervigen Musiksender hören könnten.
»Bist du dir sicher, dass diese Shorts das Richtige für die Schule sind?« Sie ließ ihre Stimme betont lässig klingen, doch trotzdem war es die absolut falsche Äußerung. Jemimas Kinn zitterte, und sie riss ihre grünen Augen sofort weit und beleidigt auf.
»Na ja, wenn ich irgendwas anderes zum Anziehen hätte, könnte ich vielleicht aussuchen, doch weil du mir ja nie was kaufst, habe ich nicht wirklich die Wahl, oder?«
Wann war ihre Tochter nur so wütend geworden? Wie konnte Emma sich so rasch vom Mittelpunkt ihrer Welt zur Erzfeindin entwickelt haben? Sie wandte sich ab, um nicht zu zeigen, dass es ihr etwas ausmachte. Zeichen von Schwäche brachten Jemima nur noch mehr auf.
Emma versuchte, die Jeansshorts über der schwarzen blickdichten Strumpfhose zu ignorieren, die Jemima als angemessen für einen Schultag erklärt hatte, zog ein dickes Schneidebrett aus einer Nische in der gepflegten Einbauküche hervor und begann, die Pausenbrote vorzubereiten. Wie immer musste sie zwei vollkommen unterschiedliche Varianten machen – Caitlin mochte Butter, aber keine Mayonnaise, Schinken, Tomaten, aber keine Gurken (»igitt, schleimig«). Jemima wollte Hummus (Emmas Weigerung, wie sie Vegetarierin zu werden, fasste sie als persönliche Beleidigung auf) mit Salat (aber nicht die knackigen Blätter, die im Inneren weiß waren). Eine mochte grüne Äpfel, die andere kernlose Clementinen. Eine wollte Salt&Vinegar Chips, die andere auf keinen Fall. In den seltenen Fällen, in denen Emma die Brotdosen vertauscht hatte, war die Verurteilung ihrer Töchter unerbittlich gewesen. »Vielen Dank! Ich musste den ganzen Tag hungern!«
An diesem Morgen achtete Emma darauf, die Brote getrennt voneinander zu schmieren, indem sie die verschiedenfarbigen Deckel ihrer Tupperdosen nutzte. Jemima: grün; Caitlin: blau.
Der Radiomoderator machte einen Witz über das Wetter, das nach Monaten grauer träger Morgen endlich wärmer und heller geworden war. Die Sonne schien bereits auf die Terrasse in Emmas Garten. Für einen Moment sah sie hinaus auf die gepflegten Holzbohlen in ihren geraden und geordneten Reihen, die den verwilderten und verwahrlosten Garten ersetzten, der sich hier...