E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Coetzee Die Kindheit Jesu
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402844-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-10-402844-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für »Leben und Zeit des Michael K.« und 1999 für »Schande«. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien. Literaturpreise: u.a.: Lannan Literary Award 1998, Booker Prize 1983 (für »Leben und Zeit des Michael K«.), Booker Prize 1999 (für »Schande«), Commonwealth Writers Prize 1999 (für »Schande«), ?Königreich von Redonda-Preis? 2001, Literaturnobelpreis 2003
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Eins
Der Mann am Tor zeigt auf ein niedriges, langgestrecktes Gebäude in einiger Entfernung. »Wenn ihr euch beeilt«, sagt er, »könnt ihr euch noch anmelden, bevor sie für heute schließen.«
Sie beeilen sich. steht auf dem Schild. – was bedeutet das? Das Wort hat er nicht gelernt.
Das Büro ist groß und leer. Auch heiß – noch heißer als draußen. Ganz hinten nimmt ein hölzerner Schalter die gesamte Raumbreite ein, unterteilt durch Milchglasscheiben. An der Wand steht eine Reihe niedriger Aktenschränke aus lackiertem Holz.
Über einem der Abteile hängt ein Schild: , die Wörter wurden mittels einer Schablone schwarz auf ein Papprechteck gemalt. Die Beamtin hinter dem Schalter, eine junge Frau, begrüßt ihn mit einem Lächeln.
»Guten Tag«, sagt er. »Wir sind Neuankömmlinge.« Er spricht die Worte langsam aus, in dem Spanisch, das er sich mühevoll angeeignet hat. »Ich suche Arbeit, auch eine Unterkunft.« Er fasst den Jungen unter den Achseln und hebt ihn hoch, damit sie ihn richtig sehen kann. »Ich habe ein Kind dabei.«
Die junge Frau streckt dem Jungen die Hand hin. »Hallo, junger Mann!«, sagt sie. »Ihr Enkel?«
»Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn, aber ich bin für ihn verantwortlich.«
»Eine Unterkunft.« Sie schaut in ihre Unterlagen. »Wir haben hier im Zentrum ein freies Zimmer, das Sie nutzen können, während Sie sich nach etwas Besserem umsehen. Es wird nicht besonders komfortabel sein, aber vielleicht macht Ihnen das nichts aus. Was eine Arbeit angeht, lassen Sie uns das morgen früh erkunden – Sie sehen müde aus, sicher wollen Sie sich ausruhen. Sind Sie weit gereist?«
»Wir sind die ganze Woche unterwegs gewesen. Wir kommen aus Belstar, aus dem Lager. Kennen Sie Belstar?«
»Ja, ich kenne Belstar gut. Ich bin selbst über Belstar hergekommen. Haben Sie dort Spanisch gelernt?«
»Sechs Wochen lang hatten wir jeden Tag Unterricht.«
»Sechs Wochen? Sie haben Glück gehabt. Ich bin drei Monate lang in Belstar gewesen. Ich bin vor Langeweile fast gestorben. Nur der Spanischunterricht hat mich durchhalten lassen. Hatten Sie zufällig Señora Piñera als Lehrerin?«
»Nein, wir hatten einen Lehrer.« Er zögert. »Darf ich auf etwas anderes zu sprechen kommen? Mein Junge« – er sieht das Kind an – »fühlt sich nicht wohl. Das kommt zum Teil daher, dass er verstört ist, verwirrt und verstört, und nicht richtig gegessen hat. Das Essen im Lager war für ihn ungewohnt, er mochte es nicht. Können wir hier irgendwo eine anständige Mahlzeit bekommen?«
»Wie alt ist er denn?«
»Fünf. Sein Alter wurde mit fünf angegeben.«
»Und Sie sagen, er ist nicht Ihr Enkel.«
»Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn. Wir sind nicht verwandt. Hier« – er holt die zwei Ausweise aus seiner Tasche und reicht sie ihr.
Sie kontrolliert die Ausweise. »Die sind in Belstar ausgestellt worden?«
»Ja. Dort hat man uns auch unsere Namen gegeben, unsere spanischen Namen.«
Sie beugt sich über den Schalter. »David – das ist ein netter Name«, sagt sie. »Gefällt dir dein Name, junger Mann?«
Der Junge blickt sie ruhig an, antwortet jedoch nicht. Was sieht sie? Ein schmales, blasses Kind in einem bis zum Hals zugeknöpften Wollmantel, kurzen grauen Hosen, die bis über die Knie reichen, mit schwarzen Schnürstiefeln über Wollsocken und einer schräg aufgesetzten Tuchmütze.
»Ist es dir in den Sachen nicht sehr heiß? Möchtest du den Mantel ausziehen?«
Der Junge schüttelt den Kopf.
Er mischt sich ein. »Die Sachen stammen aus Belstar. Er hat sie selbst ausgesucht aus dem, was zur Verfügung stand. Er hat sich sehr an sie gewöhnt.«
»Ich verstehe. Ich habe gefragt, weil er mir für einen Tag wie den heutigen etwas zu warm angezogen schien. Zu Ihrer Information: Wir haben hier im Zentrum eine Kleiderkammer, der die Leute Sachen spenden, die ihren Kindern zu klein geworden sind. Sie ist an Wochentagen jeden Vormittag geöffnet. Dort können Sie sich gern etwas aussuchen. Sie haben dort eine größere Auswahl als in Belstar.«
»Vielen Dank.«
»Und dann können Sie sich auch, wenn Sie alle erforderlichen Formulare ausgefüllt haben, auf Ihren Ausweis Geld auszahlen lassen. Sie bekommen eine Umsiedlungsbeihilfe von vierhundert Reales. Der Junge ebenfalls. Für jeden vierhundert.«
»Vielen Dank.«
»Und nun möchte ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Sie beugt sich hinüber zur Frau am Nachbarschalter, der mit gekennzeichnet ist, und flüstert mit ihr. Die Frau zieht eine Schublade auf, sucht darin, schüttelt den Kopf.
»Es gibt ein kleines Problem«, sagt die junge Frau. »Offenbar haben wir den Schlüssel zu Ihrem Zimmer nicht. Die Gebäudeaufsicht muss ihn haben. Der Name der Beamtin ist Señora Weiss. Gehen Sie zum Haus C. Ich werde Ihnen eine Skizze machen. Wenn Sie Señora Weiss finden, bitten Sie sie, Ihnen den Schlüssel für C-55 zu geben. Sagen Sie ihr, Ana vom Hauptbüro schickt Sie.«
»Wäre es nicht einfacher, uns ein anderes Zimmer zu geben?«
»Leider ist C-55 das einzige freie Zimmer.«
»Und etwas zu essen?«
»Zu essen?«
»Ja. Können wir irgendwo etwas zu essen bekommen?«
»Wenden Sie sich auch in dieser Angelegenheit an Señora Weiss. Sie kann Ihnen bestimmt helfen.«
»Danke. Eine letzte Frage: Gibt es hier Organisationen, die darauf spezialisiert sind, Menschen zusammenzuführen?«
»Menschen zusammenführen?«
»Ja. Bestimmt suchen doch viele nach Angehörigen. Gibt es Organisationen, die bei der Zusammenführung von Familien helfen – von Familien, Freunden, Paaren?«
»Nein, von einer solchen Organisation habe ich nie gehört.«
Weil er müde und orientierungslos ist, aber auch weil die Skizze, die die junge Frau für ihn gemacht hat, nicht eindeutig ist und weil es keine Hinweisschilder gibt, braucht er lange, bis er Haus C und das Büro von Señora Weiss findet. Die Tür ist zu. Er klopft. Keine Reaktion.
Er hält eine Frau an, die vorübergeht, eine sehr kleine Frau mit einem Spitzmausgesicht, die die schokoladenfarbene Uniform des Zentrums trägt. »Ich suche Señora Weiss«, sagt er.
»Sie ist weg«, sagt die junge Frau, und als er nicht versteht: »Weg für heute. Kommen Sie morgen früh wieder.«
»Dann können Sie uns vielleicht helfen. Wir suchen den Schlüssel zum Zimmer C-55.«
Die junge Frau schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, für Schlüssel bin ich nicht zuständig.«
Sie gehen zurück zum . Die Tür ist verschlossen. Er pocht ans Glas. Kein Lebenszeichen drinnen. Er pocht erneut.
»Ich habe Durst«, quengelt der Junge.
»Halt noch ein wenig aus«, sagt er. »Ich suche einen Wasserhahn.«
Die junge Frau, Ana, kommt um die Seite des Gebäudes. »Haben Sie geklopft?«, fragt sie. Wieder ist er beeindruckt: von ihrer Jugend, von der Gesundheit und Frische, die sie ausstrahlt.
»Señora Weiss ist offenbar nach Hause gegangen«, sagt er. »Können Sie nicht irgendetwas tun? Haben Sie keinen – wie heißt das? – , um unser Zimmer aufzuschließen?«
». So etwas wie einen gibt es nicht. Wenn wir einen hätten, wären alle unsere Probleme gelöst. Nein, Señora Weiss ist die Einzige, die einen für Haus C hat. Haben Sie vielleicht einen Freund, der Sie für die Nacht aufnehmen kann? Dann können Sie morgen früh wiederkommen und mit Señora Weiss sprechen.«
»Einen Freund, der uns aufnehmen kann? Wir sind vor sechs Wochen in diesem Land angekommen, haben seitdem in einem Zelt in einem Lager draußen in der Wüste gehaust. Wie können Sie erwarten, dass wir hier Freunde haben, die uns aufnehmen werden?«
Ana runzelt die Stirn. »Gehen Sie zum Haupttor«, befiehlt sie. »Warten Sie vor dem Tor auf mich. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Sie gehen durchs Tor, überqueren die Straße und setzen sich in den Schatten eines Baumes. Der Junge lehnt den Kopf an seine Schulter. »Ich habe Durst«, klagt er. »Wann findest du einen Wasserhahn?«
»Pst«, sagt er. »Hör den Vögeln zu.«
Sie lauschen dem fremden Vogelgesang, spüren den fremden Wind auf der Haut.
Ana taucht auf. Er steht auf und winkt. Auch der Junge erhebt sich, die Arme steif herabhängend, die Daumen in den Fäusten vergraben.
»Ich habe hier etwas Wasser für Ihren Sohn«, sagt sie. »Hier, David, trink.«
Das Kind trinkt, gibt ihr die Tasse zurück. Sie steckt sie in ihre Tasche. »War das gut?«, fragt sie.
»Ja.«
»Gut. Folgt mir. Es ist ein ziemlicher Fußmarsch, aber ihr könnt es ja als sportliche Betätigung ansehen.«
Rasch schreitet sie auf dem Pfad durch die Parklandschaft. Eine attraktive junge Frau, ganz gewiss, obwohl die Kleidung, die sie trägt, ihr kaum steht: ein dunkler, formloser Rock, eine weiße Bluse, die den Hals eng umschließt, flache Schuhe.
Allein könnte er vielleicht mit ihr Schritt halten, aber mit dem Kind in den Armen schafft er es nicht. Er ruft ihr zu: »Bitte – nicht so schnell!« Sie hört nicht auf ihn. In immer größer werdendem Abstand folgt er ihr quer durch den Park, über eine Straße, über eine zweite Straße.
Vor einem schmalen, bescheiden wirkenden Haus bleibt sie stehen und wartet. »Hier wohne ich«, sagt sie. Sie schließt die Haustür auf. »Folgt...