Coben Kein Lebenszeichen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-08437-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-08437-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller wurden bisher in 46 Sprachen übersetzt, erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und wurden zu großen Teilen verfilmt. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde - dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award -, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey.
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1
Drei Tage vor ihrem Tod sagte meine Mutter mir – es waren fast, wenn auch nicht ganz, ihre letzten Worte –, dass mein Bruder noch lebte.
Das war alles. Sie erläuterte es nicht weiter. Sie sagte es auch nur ein einziges Mal. Es ging ihr ziemlich schlecht. Das Morphium hatte sie bereits fest im Griff. Ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen Gelbsucht und verblichener Sommerbräune. Ihre Augen waren tief eingesunken. Meist schlief sie. Danach hatte sie nur noch einen einzigen lichten Moment – falls der, in dem sie mir das erzählt hatte, ein solcher gewesen war, was ich stark bezweifelte – und den nutzte ich dazu, ihr zu sagen, dass sie eine wunderbare Mutter gewesen sei und dass ich sie sehr liebte. Dann verabschiedete ich mich von ihr. Wir sprachen nicht mehr über meinen Bruder. Das hieß nicht, dass wir nicht an ihn dachten, als säße auch er an ihrem Bett.
»Er lebt.«
Das waren ihre Worte. Und wenn sie der Wahrheit entsprachen, wusste ich nicht, ob das gut oder schlecht war.
Vier Tage später trugen wir meine Mutter zu Grabe.
Als wir hinterher zur siebentägigen jüdischen Totenwache ins Haus zurückkehrten, rannte mein Vater zornig über den Teppichboden im Wohnzimmer. Sein Gesicht war rot vor Wut. Ich war natürlich da. Meine Schwester Melissa war mit ihrem Mann Ralph aus Seattle gekommen. Tante Selma und Onkel Murray gingen im Zimmer auf und ab. Sheila, meine Lebensgefährtin, hielt meine Hand.
Das waren dann auch schon alle.
Nur ein einziges Blumengebinde stand da, ein prachtvolles Monstrum. Sheila lächelte und drückte meine Hand, als sie die Karte sah. Darauf waren keine Worte, keine Botschaft, nur eine Zeichnung:
Dad sah immer wieder aus dem Erkerfenster – das in den letzten elf Jahren zweimal mit einer Schrotflinte zerschossen worden war – und murmelte leise: »Schweinehunde.« Hin und wieder drehte er sich um, wenn ihm noch jemand einfiel, der nicht gekommen war. »Herrgott noch mal, die Bergmans hätten ja wenigstens mal kurz reinschauen können.« Dann schloss er die Augen und sah zur Seite. Wieder packte ihn die Wut und vermischte sich mit der Trauer zu einer Überspanntheit, der ich mich nicht gewachsen sah.
Ein neuer Verrat, einer von vielen in den letzten zehn Jahren.
Ich brauchte frische Luft.
Ich stand auf. Sheila sah mich besorgt an. »Ich geh spazieren«, sagte ich leise.
»Soll ich mitkommen?«
»Lieber nicht.«
Sheila nickte. Wir waren seit fast einem Jahr zusammen. Ich hatte noch nie eine Freundin gehabt, die mit meinen manchmal ziemlich unvermittelten Stimmungsschwankungen so gut zurechtkam. Sie drückte meine Hand noch einmal, um mir zu sagen, dass sie mich liebte, und mir wurde etwas wärmer ums Herz.
Die Fußmatte vor unserer Haustür war aus hartem Kunstrasen, mit einem Plastik-Gänseblümchen in der oberen linken Ecke, und sah aus, als hätten wir sie von einem Golfplatz mitgehen lassen. Ich trat darüber und schlenderte den Downing Place hinunter. Die Straße war gesäumt von unsäglich langweiligen Split-Level-Einfamilienhäusern mit Aluminiumfassaden aus den frühen Sechzigern. Ich trug noch immer den dunkelgrauen Anzug. Er juckte bei der Hitze. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel, und in einem Anflug von Nekrophilie dachte ich, dass heute ein perfekter Tag zum Verrotten wäre. Das Lächeln meiner Mutter, das – bevor das alles geschehen war – die ganze Welt hatte erstrahlen lassen, erschien vor meinen Augen. Ich verdrängte es.
Ich wusste, wohin ich ging, glaube aber kaum, dass ich es mir eingestanden hätte. Eine unsichtbare Macht zog mich an. Manche würden es eine masochistische Ader nennen, andere womöglich darauf hinweisen, dass ich einen Schlussstrich ziehen wollte, aber ich glaube, es war nichts dergleichen.
Ich wollte einfach den Ort sehen, an dem alles ein Ende genommen hatte.
Der Anblick und die Geräusche der sommerlichen Vorstadt gingen mir auf die Nerven. Kreischende Kinder fuhren auf Fahrrädern hin und her. Mr Cirino, dem das Ford/Mercury-Autohaus gehörte, mähte seinen Rasen. Die Steins – sie hatten eine kleine Kette von Haushaltsgeräteläden aufgebaut und geleitet, bis sie von einer größeren Ladenkette geschluckt worden war – gingen Hand in Hand spazieren. Vor dem Haus der Levines wurde Touch-Football gespielt, allerdings kannte ich keinen der Mitspieler. Aus dem Garten der Kaufmans wehte Grillgeruch herüber.
Ich kam am alten Haus der Glassmans vorbei. Mark »der Depp« Glassman war mit sechs Jahren durch die geschlossene Glasschiebetür gesprungen. Er hatte Superman gespielt. Ich kann mich noch gut an die Schreie und das Blut erinnern. Er musste mit mehr als vierzig Stichen genäht werden. Später ist er einer dieser Internet-Start-up-Zillionäre geworden. Ich glaube nicht, dass man ihn noch »der Depp« nennt, aber man kann nie wissen.
An der Ecke stand das Haus der Marianos. Es hatte immer noch diese scheußliche schleimig-gelbe Farbe, und der Plastikhirsch stand auch noch im Vorgarten. Angela Mariano, unser hiesiges Flittchen, war zwei Jahre älter als wir und uns damals wie ein fast überirdisches, Ehrfurcht einflößendes Wesen vorgekommen. Als ich Angela beim Sonnen in ihrem Garten in einem der Schwerkraft trotzenden Oberteil mit Nackenträger beobachtet hatte, waren die ersten schmerzlichen Schübe tiefen, hormonell bedingten Verlangens aufgetreten. Mir war buchstäblich das Wasser im Mund zusammengelaufen. Angela hatte dauernd mit ihren Eltern gestritten und heimlich im Schuppen hinter dem Haus geraucht. Ihr Freund hatte ein Motorrad. Letztes Jahr bin ich ihr zufällig in Midtown Manhattan begegnet. Ich hatte erwartet, dass sie furchtbar aussehen würde – man hört immer wieder, dass das mit den Mädchen passiert, bei deren Anblick man erste Lustgefühle verspürt hat –, aber Angela sah fantastisch aus und machte einen glücklichen und zufriedenen Eindruck.
Vor Eric Frankels Haus am Downing Place 23 schwenkte ein Rasensprenger langsam hin und her. Eric hatte seine Bar-Mizwa im Chanticleer in Short Hills als Raumfahrtparty gefeiert, als wir beide in die siebte Klasse gingen. Die Decke war angestrahlt gewesen wie ein Planetarium – Sternbilder an einem schwarzen Himmel. Auf meiner Einladungskarte stand, dass ich am »Apollo 14«-Tisch saß. In der Mitte des Saals stand ein geschmücktes Raketenmodell auf einer grünen, mit Pflanzen und seltsamen Tieren dekorierten Landeplattform. Die Kellner in realistisch anmutenden Raumanzügen sollten die Mitglieder der Mercury 7 darstellen. Wir wurden von »John Glenn« bedient. Zwischendurch bin ich für eine Stunde mit Cindi Shapiro in der Kapelle verschwunden und habe mit ihr rumgemacht. Es war mein erstes Mal. Ich wusste nicht, was ich tat. Cindi schon. Ich weiß noch, wie herrlich und überraschend es war, als ihre Zunge mich auf unerwartete Weise liebkoste. Aber ich weiß auch noch, wie verwundert ich war, als nach etwa zwanzig Minuten, na ja, Langeweile einsetzte – ein verdutztes »Und jetzt?« in Verbindung mit einem naiven »Ist das alles?«.
Als Cindi und ich verstohlen, etwas verknittert und in bester Post-knutsch-Stimmung, zum »Apollo 14«-Tisch von Cape Kennedy zurückkehrten (die Herbie Zane Band spielte gerade Fly Me to the Moon), nahm mein Bruder Ken mich beiseite und wollte Einzelheiten erfahren. Ich erzählte sie ihm natürlich nur zu gerne. Er belohnte mich mit diesem gewissen Lächeln, und wir klatschten uns ab wie zwei Footballspieler. Als wir dann nachts in unserem Etagenbett lagen, Ken oben, ich unten, und in der Stereoanlage Don’t Fear the Reaper von Blue Öyster Cult lief (Ken’s absoluter Lieblingssong), erläuterte mir mein großer Bruder die Geheimnisse des Lebens aus der Sicht eines Neuntklässlers. Später sollte ich feststellen, dass er in den meisten Punkten danebenlag (so übertrieb er zum Beispiel die Bedeutung der Brüste), trotzdem kann ich mir ein Lächeln nie ganz verkneifen, wenn ich an diese Nacht zurückdenke.
»Er lebt …«
Ich schüttelte den Kopf und bog an dem Haus, in dem die Holders früher gewohnt hatten, nach rechts in die Coddington Terrace ein. Es war derselbe Weg, den Ken und ich zur Grundschule, der Burnet Hill Elementary School, gegangen waren. Von hier hatte damals eine gepflasterte Abkürzung zwischen zwei Häusern hindurch geführt. Ich fragte mich, ob es den Pfad noch gab. Meine Mutter – alle, selbst die Kinder der Nachbarschaft hatten sie Sunny genannt – war uns immer mehr oder weniger heimlich gefolgt. Ken und ich hatten die Augen verdreht, wenn sie sich hinter den Bäumen versteckte. Mir war es peinlich gewesen, aber Ken hatte nur die Achseln gezuckt. Mein Bruder war cool genug gewesen, so etwas durchgehen zu lassen. Ich nicht.
Ich spürte einen Stich im Herzen und ging weiter.
Vielleicht war es nur Einbildung, doch ich meinte, die Leute würden anfangen, mich anzustarren. Die Fahrräder, die dribbelnden Basketbälle, die Rasensprenger und -mäher, die Schreie der Touch-Footballspieler – alles schien leiser zu werden, als ich vorbeiging. Manche blickten mir neugierig hinterher, weil ein vorbeischlendernder Fremder in einem dunkelgrauen Anzug an einem heißen Sommerabend eine Art Kuriosität war. Aber die meisten schienen zu erschrecken, weil sie mich erkannten und nicht glauben konnten, dass ich diesen geheiligten Boden betrat.
Ohne zu zögern ging ich auf das Haus Nummer 47 in der Coddington Terrace zu. Ich hatte die Krawatte gelockert und meine Hände tief in den Hosentaschen vergraben. An der Stelle, wo die Zufahrt auf den Bordstein traf, zögerte ich. Was wollte ich hier? Der Vorhang im Wohnzimmer bewegte sich. Mrs Millers verhärmtes, geisterhaftes Gesicht erschien am Fenster. Sie...