E-Book, Deutsch, 408 Seiten
Clivia Court of Demons. Die Nachtläuferin
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-646-60703-1
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Romantisch-geheimnisvolle Dämonen-Fantasy bei Hofe
E-Book, Deutsch, 408 Seiten
ISBN: 978-3-646-60703-1
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Kind hat Isabel Clivia den Duden gelesen, um so viele Wörter wie möglich zu kennen. Nach zwei Tagen und der Erkenntnis, dass Wörterbücher nicht ganz so spannend sind wie Romane, hat sie es jedoch aufgegeben. Was das Schreiben betrifft, ist ihre Ausdauer glücklicherweise etwas größer. Angeblich lassen sich ihre ersten Schreibversuche auf Fanfiction-Portalen finden, aber die Existenz solcher Geschichten wird sie für immer bestreiten.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Einsätze und Spiele
In den Träumen anderer Menschen herumzuschleichen fühlt sich an, als sähe man sich in einem verbotenen Zimmer um. Wie ein Einbrecher, der nachts in die finsteren Ecken eines fremden Hauses lugt, obwohl sie nicht für seine Augen bestimmt sind. Von diesen Einbrechern gibt es zwei Sorten: Die guten, zu denen ich gehöre, und die schlechten – das sind die Dämonen. Wann immer einer von ihnen in einem Traum sein Unwesen treibt, spüre ich ein eisiges Prickeln unter der Haut, sobald ich die Tür zu diesem Traum geöffnet habe. So wie jetzt.
Ich schließe die Hand fester um meinen Bogen.
Sei wachsam, Kamila, hat Vater mich stets gewarnt. Für Nachtläufer ist die Leere ein gefährlicher Ort. Eine Unachtsamkeit reicht und du wirst ihrer kalten Umarmung nie wieder entkommen.
Vor mir ragen die schlanken Baumstämme eines Waldes in die Höhe, Giganten aus Holz, die sich nach einem feurigen Himmel recken. Ihre mächtigen Kronen sind von einem golden schimmernden Nebelschleier verhangen und das Herbstlaub verwandelt den Boden in ein blutrotes Meer. Unter meiner Leinenbluse bekomme ich eine Gänsehaut. Ich hasse die Leere. An diesem Ort, an den es jeden träumenden Menschen verschlägt, ist die Luft so kalt, dass sie in meinen Lungen brennt, obwohl die Strahlen der Sonne eine angenehme Wärme vorgaukeln. Nur eine Illusion.
»Wierny? Wo bist du hin?«
Die aus dem Wald dringende Mädchenstimme lässt mich aufhorchen. Zögerlich starre ich in die unheilvolle Dunkelheit hinein. Sie klang verzweifelt. Ob ich ihr folgen sollte? Es könnte eine Falle sein.
Das Grübeln hilft mir auch nicht weiter, also nehme ich einen tiefen Atemzug und folge dem schmalen Pfad vor mir, der durch das Laub nur schwer auszumachen ist. Bei jedem Schritt rascheln die Blätter unter meinen Stiefelsohlen. Zwischen den Bäumen fegt eine kühle Brise hindurch und bläst mir eine rote Locke ins Gesicht, die sich aus meinem Zopf gelöst hat. Ich streiche sie mir hinters Ohr. Das Heulen des Windes klingt hier wie eine Violine, auf der jemand ausschließlich schiefe Töne spielt. Ich umklammere meinen Bogen noch fester und nehme einen Pfeil aus dem Köcher auf meinem Rücken.
Der Pfad vor mir wird immer dunkler und verschlungener. Während ich mir meinen Weg durch das dichte Gehölz bahne, bringt mich jedes noch so kleine Geräusch dazu, einen Blick über die Schulter zu werfen, doch es ist immer nur der Wind, der die Blätter aufwirbelt. Ich lasse meinen Daumen unruhig über den Schaft des Pfeils kreisen. Die Atmosphäre in diesem Wald ist schwer und aufgeladen, wie bei einem bevorstehenden Sturm, der jeden Moment mit Blitz und Donner losbrechen könnte. Die Leere selbst fühlt sich immer gleich an – kalt, unheilvoll und beklemmend –, doch jeder Traum hält andere Szenarien und jeder Albtraum neue Gefahren für mich bereit.
»Wierny?«
Wieder hallt die Kinderstimme durch den Wald, dieses Mal lauter. Ich springe über Wurzeln und Äste hinweg, bleibe aber auf der Hut. In Träumen lauern überall Gefahren. Mir darf kein Fehler passieren.
»Komm zurück, Wierny!«
Ich folge der Stimme und gelange zu einer Weggabelung, an der ein kleines Mädchen einsam und verloren auf dem Waldpfad steht. Ihre spindeldürren Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Immer wieder schaut sie von links nach rechts, wobei ihre blonden Zöpfe durch die Luft schwingen. Sie sieht aus wie Nela. Aber das bedeutet nicht, dass sie es auch ist.
Ihre Eltern haben sich an mich gewandt, weil sie sich seltsam verhält, seit sie vor zwei Wochen im Wald nahe dem Dorf verschwunden und verändert wieder nach Hause gekommen ist. Sie glauben, ihre Tochter könnte von einem Dämon besessen sein. Das hat sich inzwischen bestätigt. Sie ist besessen und der Dämon, der sie jede Nacht mit Albträumen quält, bis er ihren Körper übernehmen kann, versteckt sich hier irgendwo. Vielleicht befindet er sich auch direkt vor meiner Nase.
Ich stecke den Pfeil zurück in meinen Köcher und eile zu Nela. Mit ihren dunklen Augen verfolgt sie jede meiner Bewegungen. Sie wirkt verunsichert. Oder sie tut nur so als ob. Ich lächle sie an und suche gleichzeitig nach einem Hinweis darauf, dass dieses Mädchen kein Dämon ist, der die Gestalt seines Opfers angenommen hat.
»Hast du Wierny gesehen?«, fragt Nela mich.
Ich gehe vor ihr in die Hocke, bleibe jedoch wachsam. »Wer ist Wierny?«
»Mein Hund. Er ist in den Wald gelaufen und jetzt kann ich ihn nicht mehr finden.«
Als ich das Haus ihrer Familie betreten habe, hat ein Hund mit braunem Fell auf dem Teppich vor dem Kamin gelegen und vor sich hin gewinselt. Das kann kein Zufall sein. Dieser Dämon nutzt ihre Angst um den Hund, damit er leichteres Spiel bei ihr hat.
»Vorhin hab ich ihn noch gesehen, aber dann ist er weggerannt«, klagt sie. »Wieso läuft er vor mir weg? Er ist doch mein Hund! Er muss doch bei mir bleiben!«
Ich lasse die Schultern sacken. Das klingt nicht nach etwas, das ein Dämon von sich geben würde. Sie feilschen viel lieber um ihr Leben, versuchen mich mit unmoralischen Angeboten zu verführen, weil das ihrer perfiden Natur entspricht. Wie konnte ich dieses unschuldige Mädchen bloß für einen von denen halten?
»Mach dir keine Sorgen«, sage ich. »Ich finde ihn für dich.«
»Wirklich?« Als ich nicke, hebt sie ihre Brauen. »Aber du hast eine Waffe. Du wirst Wierny doch nicht etwa wehtun?«
»Nein, keine Angst. Ich bringe ihn zu dir zurück.«
Es fühlt sich nicht gut an, sie anzulügen, aber mir bleibt keine Wahl. Das, was sie für ihr kleines, süßes Haustier hält, ist mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ein Dämon.
Sie mustert meinen Bogen. »Bist du eine Jägerin?«
»Könnte man so sagen.«
»Versprichst du es? Versprichst du, dass du Wierny zu mir zurückbringst?«
Ich halte ihr den kleinen Finger hin. »Hoch und heilig. Aber nur, wenn du mir dafür dein Wort gibst, hier auf mich zu warten.«
Sie runzelt die Stirn. Mit dieser skeptischen Miene erinnert sie mich so sehr an meine Schwester Karolina, dass es fast schon unheimlich ist. Karo hat auch diesen argwöhnischen Gesichtsausdruck, der nie verschwindet. Das letzte Mal haben wir uns vor drei Jahren gesehen, aber in diesem Moment habe ich sie so deutlich vor Augen, als wäre seit meiner Flucht aus Szerokien kein einziger Tag vergangen.
»In Ordnung«, meint Nela und hakt ihren Finger bei meinem unter. »Ich versprech’s.«
Ich schenke ihr ein Lächeln, bevor ich aufstehe und meine Jagd fortsetze. Aus einem Bauchgefühl heraus entscheide ich mich für den Pfad zu meiner Rechten, der mich tiefer in den gespenstischen Wald hineinführt. Inzwischen sinken meine Lederstiefel bei jedem Schritt mit einem Schmatzen im Erdboden ein, doch da ist noch ein anderes Geräusch, das sich von mir fortbewegt. Ein kaum vernehmliches Rascheln, als würde etwas durch das rote Blättermeer huschen. Sofort ziehe ich den Pfeil erneut aus meinem Köcher. Wo versteckt er sich bloß? Er weiß, dass ich hier bin. Sie wissen es immer.
Eine Weile folge ich dem Weg, bis ich eine heruntergekommene Holzhütte entdecke. Die Tür steht weit offen und ich spüre, dass irgendetwas da drin ist. Oder irgendwer. Ich spanne meinen Bogen und richte ihn nach vorn aus. Schwer zu sagen, was mich in dieser Hütte erwartet. Wäre nicht das erste Mal, dass ich meinem Vater oder Karo gegenüberstehe, weil ein Dämon ihre Gestalt angenommen hat.
Mit bedächtigen Schritten nähere ich mich der Tür. Im Inneren ist es finster, nur durch ein verstaubtes Fenster dringen einige Lichtstrahlen. Ich trete über die Schwelle. Auf einem alten Bett in der Ecke kauert ein Mädchen mit blonden Zöpfen, ihre dunklen Augen fixieren einen Punkt auf dem schmutzigen Holzboden.
Aber das kann nicht sein. Ich habe Nela doch da draußen gesehen, sie kann nicht auf diesem Bett sitzen!
Als ich näher komme, hebt sie den Kopf und schaut zu mir.
»Wer bist du?«, fragt sie mich mit brüchiger Stimme.
Das muss der Dämon sein. Es sähe ihm ähnlich, sich in dieser Hütte zu verstecken und mich zu verwirren. Ich richte meinen Bogen auf ihn, aber noch schieße ich nicht, weil es fatal wäre, den Träumer statt des Dämons zu erwischen.
»Hör auf mit den Spielchen«, fordere ich.
Er zieht die Beine enger an sich. »Welche Spielchen?«
»Das weißt du genau.«
»Ich spiele gar nicht. Wierny tut das. Er kommt her, aber er bleibt nie. Er lässt mich immer wieder allein. Ich hab solche Angst.«
Tränen glitzern auf seinen Wangen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, den Bogen weiterhin auf ihn gerichtet, aber die Zweifel in meinem Hinterkopf werden lauter. Was, wenn das hier gar nicht der Dämon ist?
»Wovor fürchtest du dich?«, will ich wissen.
»Davor, dass Wierny nie mehr zurückkommt. Ich verstehe nicht, warum er wegläuft. Er ist doch mein Freund!«
Genau dasselbe wie eben. Das macht mich noch wahnsinnig.
»Ich will mit dir handeln«, lüge ich, um den Dämon aus der Reserve zu locken.
»Handeln? Aber ich habe doch gar nichts.«
»Sicher? Ich wäre bereit zu verschwinden, wenn du mir etwas dafür gibst.«
Der Dämon schnieft. »Seit Wierny weggelaufen ist, fühlt sich alles sinnlos an. Er fehlt mir so. Ich will nicht handeln, ich will Wierny!«
Dämonen wollen immer handeln, hat Vater mir mal gesagt. Es gehört zu ihrem Spiel. Dein Einsatz interessiert sie und wenn er ihnen gefällt, bieten sie dir einen Tausch an. Wäre das hier also der Dämon, hätte er etwas anderes geantwortet.
»Mist«, murmele ich.
Es war tatsächlich eine Falle. Dieser verdammte Dämon hat mich an...