E-Book, Deutsch, 333 Seiten
Clavadetscher Die Schrecken der anderen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-83699-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 333 Seiten
ISBN: 978-3-406-83699-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Junge stößt beim Schlittschuhlaufen auf einen Toten im Eis und den Beginn einer sonderbaren Geschichte. Kern, ein schwerreicher Erbe, kann nicht länger ignorieren, dass seine Augen schwächer werden. Doch will er überhaupt klarsehen? Da ist Kerns hundertjährige Mutter, die den größten Teil des Tages im Dachgeschoss der Villa im Bett liegt, und doch mit brutaler Konsequenz die Fäden in der Hand hält. Da ist Schibig, ein einsamer Archivar, der sich mitreißen lässt von Rosa, der Alten aus dem Wohnwagen, die an den eigentlich unspektakulären Vorfällen ein spektakuläres Interesse hat - weil sie versteht, dass nichts je ins Leere läuft, sondern alles miteinander verbunden ist: Der Tote im Eis, die Zylinderherren im Gasthof Adler, Kerns Frau, die sich weigert, Kreide zu essen, ein geplantes Mahnmal, bedrohliche Bergdrachen und andere hartnäckige Legenden.
Martina Clavadetscher geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert und zu den Autorentheatertagen Berlin 2020 eingeladen. Für ihren Roman "Die Erfindung des Ungehorsams" wurde sie 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Sie lebt in der Schweiz.
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Kern lauert in der Dunkelheit und gibt sich große Mühe. Vor seinen Augen schwebt ein schweres Gehäuse. Der Phoropter entstellt sein Gesicht zu einer brutalen metallischen Maske, die Kern an die Helme von intergalaktischen Kriegern erinnert. Etwas geschieht am optischen Apparat. Ein passgenauer Fächer zieht vorbei, und eine gläserne Schicht schiebt sich zwischen Kern und die Welt. Der Raum vor ihm wölbt sich, rastet ein, wirkt plötzlich näher. Ein Klicken erklingt, das Licht wechselt, worauf an der Wand gegenüber eine schwarz-weiße Projektion wegkippt, um sogleich verändert wieder zu erscheinen.
– Und jetzt, Herr Kern?
– K, R, F, D, etwas klarer, ja.
– Und wenn ich diese Linse vorschiebe? Besser oder schlechter?
– Besser.
– Wunderbar.
Der Optiker notiert, Kern wartet – und Kern schwitzt. Seine wollene Anzughose klebt am Kunstleder des Sessels und klebt noch mehr an seinen Oberschenkeln. Es surrt. Die Hand vor ihm dreht jetzt an der Linsenfassung.
– Und wie geht es der Frau Mutter?
Der Optiker formuliert seine Frage vorsichtig, als wüsste er Bescheid, denkt Kern und weiß gar nicht, was der Optiker denn genau wissen könnte – und vor allem woher.
– Es geht ganz ordentlich,
lügt Kern.
– Das freut mich,
sagt der Optiker mit einer kundenfreundlichen Stimme, die viel zu süß wirkt für diesen Männermund, wie Kern findet. Er fokussiert die spröden Lippen inmitten von Bartstoppeln, die wie schwarze Spinnenklauen ungefragt aus der Haut sprießen oder wie diese Drahtenden von Basteleien, biegsame Skelette, mit denen seine Frau Hanna ihren handgroßen Püppchen die gewünschte Haltung aufzwingt.
– Ihre Frau Mutter ist ja jetzt auch schon –,
sagt der Optikermund nun und wartet, weil der Satzanfang eigentlich eine Frage ist.
– Fast hundert,
vervollständigt Kern und findet keinen Weg, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
– Fast hundert, mein gütiger Gott, das ist ein sehr stolzes Alter, und wenn man bedenkt, wie sie mit ihrem Herrn Vater selig alles aufgebaut hat, das Geschäft, und alles; sehr beeindruckend.
– Von nichts kommt nichts,
sagt Kern wie ein Automat, worauf der Optiker ebenso automatisch antwortet:
– Wie wahr, wie wahr.
Der Optiker notiert weiter und scheint mit seiner Untersuchung fertig zu sein. Ja, es geht ganz ordentlich, denkt Kern nochmals, es geht vorwärts, auch wenn er gar nichts dafür tut – aber auch nichts dagegen.
Minuten später zieht der Optiker unter der Kasse ein eingeschweißtes Brillentuch hervor und legt es als Geschenk auf den Tresen.
– Wir verbessern Ihre Sehstärke auf jeder Seite um eins Komma sieben fünf. Normalerweise stagniert in Ihrem Alter der Prozess, das heißt, normalerweise kommt es so spät eigentlich nicht plötzlich zu einer so sprunghaften Sehschwäche, aber jede Person ist da ganz anders.
Kern nickt und kneift die Augen zusammen. Von den Gespinsten und den zerfransten Gesichtern hat er ihm nichts erzählt. Das Unerklärliche beschämt ihn.
– Wir melden uns, wenn die Gläser da sind,
sagt der Optiker. In diesem Moment klingelt die Türglocke. Ein paar schwere Schuhe betreten den blauen Teppich des Optikergeschäfts. Ein staubiger Geruch erfüllt die Luft. Da ist Moder, Holzkohle und Kälte. Jemand hustet und wechselt danach in ein lautes Sprechen.
– Tag wohl, Ihnen allen,
sagt der Kunde nicht unfreundlich, worauf das ganze Geschäft in seine Richtung blickt. Der Mann trägt einen auffälligen Bart, auf dem Kopf sitzt eine Wollmütze, und ein abgewetzter Militärmantel hängt fast bis zum Boden. Seine Anwesenheit verschluckt das letzte Licht an diesem grauen Novembertag. Einzig seine hellblauen Augen strahlen. Sie leuchten aus der Finsternis, als hätte sich dort ein warmes Stück Julihimmel verirrt. Diese Frische passt nicht zu seinem restlichen Äußeren, findet Kern, oder umgekehrt, das restliche Äußere passt nicht zu diesen weltoffenen, fast schon fröhlichen Augen.
– Guten Tag, Herr Boll,
sagt die Mitarbeiterin mit hoher Stimme und macht zwei, drei Schritte auf ihn zu. Die freut sich, wundert sich Kern, der mit einer überspielten Ablehnung gerechnet, nein, darauf gehofft hatte.
– Guten Tag, Frau Weber, ich komme wegen meiner Lesebrille,
sagt der Bärtige, blickt zur Kasse und unterbricht, als er Kern dort sieht, sein ursprüngliches Anliegen mit einer schelmischen Anwandlung. Wie ein Magier schnippt er mit den Fingern, und fast flüsternd beginnt er mit einer Beschwörung:
– Der Teufel auch, das ist nicht wahr, da steht ja jener, von einer Frau ganz nackt geboren, aber auf Erden zieht er sich so an, als ob alles seinen Preis hätte, Übermut und Mut und selbst die Feigheit kann er ausstaffieren, der saubere Herr Kern, da steht er, und es ist mir eine Freude, mit dem Augenzwinkern der Metaphorik nachzufragen: Ist er hier, um endlich seine Sicht zu korrigieren?
Die Herren an der Kasse schweigen, worauf der Bärtige weiterfragt:
– Schlachtet er immer noch Schweine?
– Wie bitte?,
antwortet Kern jetzt mit Entrüstung. Seine Irritation ist echt, also versucht er seine Unsicherheit sofort mit einem angedeuteten Aufbruch und einem gespielten Lachen zu vertuschen.
– Ich habe nie Schweine geschlachtet, Sie sind ja lustig.
– Aber der Großvater hat doch Schweine geschlachtet, nicht wahr? Und dann ist es von den toten Tieren schnell aufwärts gegangen, hoch die Treppen, hoch, ein Amt, zwei Ämter, ein Vorsitz – die Politik, aber ob unten oder oben, es stinkt hierzulande überall nach Schweinedreck.
Der Bärtige unterdrückt ein Lachen und ergänzt mit gedämpfter Stimme:
– Oder sehen Sie das anders, Herr Kern?
Alle schweigen. Denn die Unsicherheit kennt nur ein Geräusch: ungewollte Stille. Kern weiß nicht, wie er antworten soll. Er wünscht sich mehr Kaltschnäuzigkeit, wünscht sich, er könnte mit einem treffsicheren Spruch einfach davonlaufen, scheitert aber allein schon im Wunsch daran, also sagt er bloß:
– Entschuldigung, kennen wir uns?
Der Bärtige lächelt. Seine blauen Augen wirken entwaffnend. Mit einer Hand greift er in die Tasche seines Mantels, nicht um dort etwas hervorzuholen, wie Kern anfangs vermutet, sondern weil ihm das bequemer scheint.
– Kennen wohl kaum,
sagt der Bärtige.
– Aber wissen Sie, wo die alte Mühle war? Die Kneipe daneben hieß Zum Bären, dann kamen die zwei alten Handwerkshäuser, der Hof vom alten Obstbauern stand am längsten, und wenn Sie da hoch gehen, dreißig Minuten bergaufwärts, da kommt der letzte Lebensmittelladen, da bin ich aufgewachsen, schönste Südseite, schönste Aussicht, früher zumindest, jetzt stehen da unten überall Ihre eckigen Überbauungen, die sich über alle Felder und bis zum Hochmoor fressen – wussten Sie, dass Moore ihre ganze ökologische Geschichte festhalten und speichern wie ein Einmachglas mit sauren Gurken? Aber ich springe von Thema zu Thema, entschuldigen Sie, Herr Kern, nur dies noch, eine kuriose Sache,
sagt der Bärtige und macht eine Atempause. Kern schleicht unterdessen ungeduldig zur Tür. Doch der Bärtige redet jetzt unbekümmert weiter:
– Es gibt Bewohner in Ihren Überbauungen, die schwören, dass sie in gewissen Nächten die Schweine schreien hören.
– Wie bitte?,
sagt Kern und hofft, sich verhört zu haben.
– Es wimmert und kreischt aus dem Boden heraus, aus der tiefen, grottentiefen Finsternis, von irgendwoher hören sie die sterbenden Tiere schreien, ganz gottserbärmlich ist ihr Wehklagen, diese Schreie, fast wie von sterbenden Menschen. Und dann verknüpfe ich in meinem Kopf das ohnehin Untrennbare miteinander: die Versehrten und die Unversehrten, Schweine klingen wie Sterbende, Feuerwerke knallen wie Gewehrsalven, der saure, sumpfige Boden konserviert die Geschichte des Lebens, und Baumetall schmeckt wie Blut. Trotzdem ist jeder Vergleich ein Hohn, nicht wahr, Herr Kern? Aber entschuldigen Sie, das alles muss für Sie wie ein schreckliches Durcheinander klingen.
Erst jetzt schweigt der Bärtige. Beinahe erstaunt, wie...