Claus Der Kummer von Belgien
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-608-10065-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 823 Seiten
ISBN: 978-3-608-10065-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hugo Claus (1929-2008) gilt als der bedeutendste belgische Nachkriegsautor niederländischer Sprache. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einem katholischen Internat; danach lebte er mehrere Jahre u.a. in Rom, Amsterdam und in den USA. In Paris schloss er sich der Künstlergruppe »Cobra« an, bevor er 1947 mit seinem Gedichtband debütierte. Claus trat auch als Drehbuchautor, Übersetzer (etwa von Georg Büchner und Dylan Thomas), Dramatiker, Maler, Film- und Fernsehregisseur in Erscheinung. Sein Werk umfasst über 150 Buchveröffentlichungen, wurde vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem Preis der Niederländischen Literatur und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung) und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
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II
Hören und Sehen
Tuckernd fährt der DKW durchs Dorf, vorbei an den Häusern mit gelbglänzenden Klinkerfassaden und violett und beige gestrichenen Balkonen, Schuhgeschäften, einer Schmiede, einem Friedhof, wo eine Frau in Trauer am Daumen lutscht.
Surrend fährt der Wagen über eine verlassene Asphaltstraße, vorbei an den haushohen Halden der Lehmgruben, und was hat der Pate da zu zetern? Man kann es von den Lippen ablesen. Wütend ist er, der Pate, der bei Louis’ Taufe im St.-Markus-Spital dem Pfarrer den Weihwasserwedel aus der Hand genommen und über dem erschrockenen kleinen Würmchen mit dem schrumpligen Gesicht geschwenkt hatte, das noch auf einem Foto im Wohnzimmer des Oudenaardse Steenweg 10 zu sehen ist. Das Foto steckt schräg unten im Rahmen von »Der Gute Hirte«. Der Pate, der jedes Jahr, wenn Louis tapfer sein selbstgemachtes Neujahrsgedicht aufgesagt hatte (zum Schluss eine Verbeugung und ein erleichtert und triumphierend ausgestoßenes »vor allem wünscht dein Patenkind, dass wir noch lang beisammen sind«), Louis’ Handgelenk packte, die geballte Faust aufbog und, während er sich bereits abwandte, fünf Franc hineindrückte, schnöden Mammon. Der Pate, der sich früher »Professor Seynaeve« genannt hatte. »Ich dachte, Sie seien Lehrer. In welchem Fach sind Sie denn Professor?« – »In der Lebenskunst, gnädige Frau!« Dieser Pate schnauzt nun seinen Sohn an, der sich in dem beengten, stickigen Auto bestürzt an die Lehne des Rücksitzes presst. Nach den Lehmgruben kommen die Roggenfelder, das Land wird weniger hügelig und die Straßenschilder nach Kuurne, Lauwe und Verdegem erscheinen.
Nun brüllt der Pate nicht mehr, hat sich aber immer noch nicht beruhigt. »Staf«, sagt er gut hörbar, »ich verstehe sehr gut, dass du bestimmte Überzeugungen hast, einen Mann ohne jede Überzeugung kann man auf den Müll werfen, aber bitte, Staf, il y a la manière.«
»In Flandern wird Flämisch gesprochen«, schreit Papa. Den Mann am Steuer sieht man feixen, aber das merken die beiden anderen nicht. Oder doch, der Pate sieht, wie die Schultern des Mannes zucken.
»Holst, gucken Sie nach vorn«, zischt der Pate.
Ein Leichenzug kommt vorbei. Eine betrunkene Nonne wird von zwei Offizieren mit Trauerkränzen um den Hals gestützt. Eine Blaskapelle. Die Menschen in dem schleppend vorankommenden Trauerzug sehen aus, als seien sie einer wie der andere aus Karton ausgeschnitten, angemalt und würden von einem ungeschickten Jungen an unsichtbaren Fäden fortbewegt. Der Junge wird sie hüpfen, trippeln, tanzen lassen. Dies irae, tschingderassa, dies illa, bummbumm!
»Staf«, sagt der Pate resigniert, »du bist ein guter Kerl, aber kein guter Geschäftsmann.« Das ist die denkbar schlimmste Beleidigung, und Papa lässt sich noch tiefer in die Autopolster sinken.
»Staf, ich komme mir vor, als ob ich gegen eine Mauer sprechen würde.«
Auf dem Friedhof zerstreut sich der schwarze Zug mit den schluchzenden Frauen zwischen den Kreuzen und vereint sich dann wieder am frisch ausgehobenen Grab, wo die trauernde Frau hinter ihrem schwarzen Schleier ihr Leid so laut hinausschreit, dass die Umstehenden rot werden und sich gegenseitig anstoßen.
»Staf, mit deiner REX-Plakette hast du dich gewaltig in die Nesseln gesetzt. Habe ich dich etwa dafür großgezogen?«
»Du hast mich nicht großgezogen, sondern Bomama.« So etwas würde Papa nie zu sagen wagen. Er würde seine Mutter auch nicht Bomama nennen. Und den Paten, seinen Vater, unterbricht er nie.
»… und einzig und allein für dich, meinen Nachfolger, ein Geschäft aufgebaut, mit dem in Westflandern niemand konkurrieren kann?«
»Vater, in ganz Westflandern gibt es keinen anderen Großhandel für Schulbedarf.«
»Sage ich doch. Mit uns kann niemand konkurrieren.«
Auf dem Friedhof lassen sich Krähenschwärme nieder, die Vögel flattern umher und scharren in der aufgeworfenen Erde. Ein Mann in Schwarz verjagt sie mit einem Regenschirm.
»Staf, warum hast du mich in sämtlichen Klöstern von Westflandern lächerlich gemacht? Du kannst Gift drauf nehmen, dass Schwester Ökonomin jetzt am Telefon hängt. Sogar noch den Maricollen-Schwestern in Deinze wird sie erzählen, wie lächerlich …«
»REX ist nicht lächerlich.«
»REX wird siegen«, sagt der Mann, der mit riesigen, fleischigen roten Händen federleicht das Steuer schwenkt.
»Holst, gucken Sie nach vorn.«
»Belgien wird rexistisch sein oder es wird nicht sein.«
»Holst, ist jetzt Schluss?«
Der Pate zieht einen nach Menthol riechenden Stift aus der Tasche, schraubt daran und steckt ihn sich in die Nase. Ihm tränen die Augen. Er jammert: »Was habe ich nur verbrochen? Herr im Himmel, sag’s mir. Ich wollte immer das Beste für meine Familie und meine Enkel und besonders für Louis.«
Hat Papa letzteres auch gehört? Falls ja, zeigt er es nicht. Holst pfeift »An der schönen blauen Donau«, sein Fuß wippt im Walzertakt auf dem Gaspedal. Lässt das den DKW rütteln und schütteln? Vlieghe danach fragen.
»Staf.«
»Ja, Vater.«
»Dass ich es weit gebracht habe im Leben, dass ich allgemein anerkannt bin als der richtige Mann am richtigen Platz, nicht nur in der Filips van den Elzaslaan, sondern weit über Walle hinaus, bis in die kleinsten Dörfer, wo es eine Schule oder ein Kloster gibt, verdanke ich meinem Riecher. Ich rieche, wo ich ein Geschäft machen kann, und ich greife zu. Und deshalb werde ich respektiert, als Geschäftsmann und als Mensch. Eigentlich noch mehr, in gewissem Sinne bin ich ja wie ein Priester – habe ich nicht eine Sondergenehmigung des Bistums, meine Waren in den katholischen Schulen an den Mann zu bringen? Na? Und jetzt steht meine Zukunft und auch deine und die von Louis auf dem Spiel, weil du, Staf, dich mit deiner politischen Propaganda zum Affen machst. Und dann auch noch für REX. Junge, ich hoffe, Léon Degrelle hat es dir großzügig entgolten. Was hat er dir gezahlt, fünftausend Franc? Mehr? Dreißig Silberlinge zu je tausend Franc, um mich en plein public zu demütigen?«
»Es ist doch fast niemandem aufgefallen.«
»Tiens, tiens. Du nennst dein eigenes Kind also: fast niemand? Das ist ja ein starkes Stück. Das werde ich Louis’ Mutter erzählen. Sie wird staunen, wenn sie hört, dass sie ›fast niemanden‹ gejungt hat.«
»Gejungt?«
»Geboren, ist das verständlicher? Staf, antworte. Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen.«
Jetzt, außerhalb der Mauern des Internats, spricht der Pate derbes Flämisch. Er besitzt ein Lehrerdiplom; jahrelang bestand er darauf, in allen Lebenslagen Hochflämisch zu sprechen, sogar – zu ihrem Unmut – mit Bomama, die längst vergessen hatte, dass sie ihn damals auch seiner gepflegten Sprache wegen geheiratet hatte. Dann, eines Nachmittags, »einer der wichtigsten Momente in meinem Leben«, hatte der Pate mit einigen Freunden Herman Teirlinck, den Fürsten der flämischen Literatur, in dessen Villa in Oostduinkerke besucht. Dort fing er sich das schnarrende R und das langgezogene, hohe AA ein, das auch Louis von ihm übernommen hat und mit dem er bei den Nonnen und Schülern des Sankt-Josephs-Internats Hohn und Spott erntet. Doch nach jenem Nachmittag, an dem in Oostduinkerke über Kultur und Wissenschaft geplaudert worden war, begann der Pate zum allgemeinen Erstaunen im Familienkreis und in seiner Stammkneipe »Groeninghe« Ausdrücke aus Walle im Waller Dialekt zu benutzen. Nicht oft, denn er wollte selbstverständlich nicht als leutselig gelten, sondern unerwartet, beim Kartenspielen oder in Situationen, wo eine schlagfertige Antwort angebracht war. Wie das kam? Er hatte es vor einem Jahr beim Weihnachtsessen erzählt. »Herman Teirlinck ging in den Keller und holte Cidre, und als er einschenkte, kam seine Frau in den Salon, und wisst ihr, was der große Mann, dieser distinguierte, um nicht zu sagen dekadente Geist gemacht hat? Er ging auf sie zu, gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange und sagte: ›Ach, mien Mädl. Kumm bi uns bi! Die Kerrls daa sin Pauker von de kathool’sche Schulen. Aawer eerrst ’n Bützchen.‹ Wir waren platt. Und als wir später darüber diskutiert haben, waren wir uns einig, dass dieser Mann, den man in unseren Kreisen so heftig angreift, den Beweis echter, bescheidener Volksverbundenheit geliefert hatte, und dass er die Sprache unseres Volkes, unserer ursprünglichsten Volksschichten, respektierte.«
Wo...