E-Book, Deutsch, 468 Seiten
Clark Rachekind
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-753-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 468 Seiten
ISBN: 978-3-98690-753-2
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Janet Clark arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dozentin und Marketingchefin in Belgien, England und Deutschland, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in München und engagiert sich für AutorInnenrechte. Die Website der Autorin: janet-clark.de/ Die Autorin auf Instagram: instagram.com/janetclarkautorin/ Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller »Ich sehe dich«, »Black Memory« und »Rachekind«.
Autoren/Hrsg.
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3
Der Flur sah noch genauso aus wie vor sechs Tagen. Die Schuhe standen ordentlich aufgereiht an der Garderobe, die Briefe, die sie auf der Kommode abgelegt hatte, um sie am nächsten Tag zur Post zu bringen, waren unverrückt. Steve war nicht hier gewesen.
Hanna verharrte einen Moment auf der Schwelle, als verweigere ihr eine unsichtbare Macht den Zutritt. Die Rückkehr nach dem Krankenhausaufenthalt fiel ihr schwer. Sosehr sie gehofft hatte, die Tür zu öffnen und Steves übliches Chaos vorzufinden, so sehr schmerzte sie jetzt der Anblick des ordentlichen Flurs. Schließlich trat sie ein, streifte ihre Schuhe ab und drehte sich zu Britt um. »Vielen Dank fürs Abholen. Bleibst du noch auf einen Kaffee?«
Sie brachte die schlafende Lilou in die Küche und legte sie dort behutsam auf ihr Lammfell. Wie tief und friedlich sie schlief. Hanna schauderte es. Tief und tückisch. Tief und tödlich. Der Schlaf, aus dem die Babys nicht mehr erwachten. Sie beugte sich über sie und neigte ihr Ohr ganz nah an Lilous Mund. Leise Atemgeräusche drangen zu ihr. Beruhigt ging sie zurück und legte ihre Jacke ab. Britt stand noch immer unschlüssig in der Tür. Energisch winkte Hanna sie herein.
Britt zog ihre Pumps aus, und Hanna bemerkte, wie klein ihre neue Nachbarin war. Grob geschätzt einen Meter sechzig, auch wenn sie mit den hohen Absätzen und den hochtoupierten schwarzen Haaren größer wirkte. Hanna fragte sich, wie Britt es schaffte, den ganzen Tag auf diesen Absätzen zu stehen. Sie nahm Britts Jacke und hängte sie zu ihrer.
»Kaffee oder Tee?«
»Wasser. Kaffee ist tödlich für den Teint.« Britt folgte ihr in die Küche und setzte sich auf die Bank unter dem Fenster. Hanna stellte für sie ein Glas Mineralwasser auf den Tisch und machte sich einen Kaffee. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Britt das Gesicht der schlafenden Lilou studierte, als wollte sie sich jeden Zug genau einprägen.
»Ich habe immer noch nicht verstanden, was ihr nun eigentlich gefehlt hat«, sagte Britt, als Hanna sich mit dem Kaffee an den Tisch gesellte.
»Sie hatte einen Atemstillstand. Einfach so. Es wurden alle möglichen Tests gemacht. Aber die Ärzte haben keine Erklärung gefunden ...« Hannas Stimme brach. Sie betrachtete ihre Tochter, deren Lippen im Schlaf ein Lächeln andeuteten.
Britt sah sie mitfühlend an. »Da hast du ganz schön Glück gehabt. Stell dir mal vor, du hättest nicht nach ihr gesehen! Hat sie ... Bleiben irgendwelche ... Schäden?«
»Weiß ich nicht. Die Ärztin meint, es sei zu früh für einen endgültigen Befund. Es kommt darauf an, wie lange ihr Gehirn ohne Sauerstoff war.«
Anstelle einer Antwort legte Britt ihre Hand auf Hannas Arm. Die Geste sagte mehr, als sie mit Worten hätte ausdrücken können, und Hanna spürte die Wärme, die von ihr ausging. Wie man sich täuschen konnte. Sie hatte Britt als oberflächlich eingestuft. Ihr perfektes Styling, der trendige Look, mit dem sie ein wenig an eines dieser Popstarlets erinnerte. Es musste sie Stunden kosten. Sie bat Britt innerlich um Abbitte, sie in eine Schublade gesteckt zu haben, nur weil ihr selbst es genügte, kurz durch die schulterlang gestuften Locken zu kämmen und etwas Mascara und Lipgloss aufzutragen. Inzwischen begriff sie, dass Britts Aussehen Teil ihres Jobs war. Und dass einer Friseurin das Ausfragen und Zuhören zur zweiten Natur wurde, konnte sie nachvollziehen.
»So eine Hübsche«, sagte Britt schließlich in das Schweigen hinein. »Sieht sie Steve ähnlich?«
»Hast du Steve denn noch gar nicht kennengelernt?«, fragte Hanna erstaunt.
»Ich habe ihn nur zwei- oder dreimal kurz im Treppenhaus gesehen.«
Hanna ging zur Pinnwand neben der Küchentür und nahm ihr Lieblingsfoto von Steve herunter. »Hier. Sie hat seinen Mund, findest du nicht?«
Britt vertiefte sich in das Foto. Steve mit zerzausten Haaren an Bord des Segelbootes, das sie vorletzten Sommer an der Nordsee gemietet hatten. Den Mund zu einem breiten Lachen verzogen, die muskulösen Arme spielerisch nach vorne gestreckt, als wolle er den Fotografen davon abhalten, ihn auf den Film zu bannen. Das Bild brachte alles zum Ausdruck, was sie an Steve liebte: die Unbekümmertheit, mit der er sich über Regeln hinwegsetzte, den Humor, die Abenteuerlust. Wie anders die letzte Woche im Krankenhaus mit ihm zusammen verlaufen wäre ... Wäre! Die brennende Ungewissheit meldete sich wieder. Die Bilder, die sie seit Tagen verfolgten. Die sich, genährt von ihrer angstbeflügelten Fantasie, in einer unendlichen Schleife wiederholten. Die sie jeden Abend so lange gequält hatten, bis sie der Schwester Bescheid gesagt und ihre Joggingschuhe angezogen hatte, um mit der gleichen Beharrlichkeit die Straßen nach Steve abzulaufen, mit der sie früher die Unterlagen ihrer Eltern nach Antworten abgesucht hatte. Steves Verschwinden war unerklärlich. Nie hätte er Lilou alleine zurückgelassen. Nie. Das hatte er am Abend vor dem Event erst wieder bestätigt.
Ich vertraue unsere Prinzessin keinem Fremden an.
Es ist doch nur für ein paar Stunden.
Nicht einmal für eine Minute.
Wenn du so weitermachst, wird sie nie aufhören zu fremdeln.
Alle Kinder fremdeln. Das ist ein Schutzmechanismus.
Aber nicht so extrem wie Lilou. Sie fängt schon an zu weinen, wenn sich jemand hinter mir an der Kasse anstellt.
Nächstes Jahr. Wir haben alle Zeit der Welt, um wieder gemeinsam zu solchen Veranstaltungen zu gehen.
Was immer geschehen sein mochte, um Steve aus der Wohnung zu locken, es blieb jenseits ihrer Vorstellungskraft. Sie wandte sich schnell ab und fischte eine Zuckertüte aus einer Schale mit Rosenmuster. Ihre Nachbarin sollte nicht sehen, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Britt legte das Foto zur Seite. »Ich finde, Lilou sieht eher dir ähnlich. Die blauen Augen und die blonden Haare hat sie jedenfalls von dir. Hast du mehr Bilder?«
»Natürlich.« Hanna wischte sich verstohlen die Augen, dann zog sie ein Fotoalbum aus dem Regal neben dem Küchentisch. »Unsere Hochzeitsreise.«
Gierig griff Britt nach dem Album und verschlang Seite um Seite, als hätte Hanna ihr exklusive Skandalbilder eines A-Promis offeriert.
»Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«
»In einer Kneipe.« Hanna lächelte bei dem Gedanken an ihre erste Begegnung mit Steve. »Er hat mir ein Bier über die Hose geschüttet und mich zur Entschädigung zum Essen eingeladen.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Ziemlich genau ein Jahr nachdem ich hierhergezogen bin. Und als ich ihm erzählt habe, dass ich bei einem Schlüsseldienst jobbe, hat er mich sofort abgeworben. Er hat seine Firma kurz zuvor von einem alten Mann übernommen, und es gab ziemlich viel zu tun. Dann bin ich schwanger geworden, und als Lilou kam, habe ich aufgehört zu arbeiten. Abgesehen von dem Bürokram, den ich hier erledige.«
»Hast du ihn inzwischen erreicht?«
»Nein.« Hanna wich Britts Blick aus. Sie setzte sich neben sie und blätterte in dem Album, das noch immer aufgeschlagen vor ihr lag. Jedes Bild bezeugte das unbeschreibliche Glück, das sie damals erfüllt hatte. Abrupt klappte sie es zu.
»Er hat dich verlassen, nicht wahr?« Britts Hand lag auf ihrer, und ihre Stimme war ganz weich.
»Natürlich nicht.« Hanna zog ihre Hand zurück. »Steve ist keiner, der sich heimlich davonschleicht.«
»Er war hier«, fuhr Britt unbeirrt fort. »Vorgestern. Deshalb war ich so verwundert, dass du mit dem Taxi heimkommen wolltest.«
Hanna erstarrte. »Du hast ihn gesehen?«, presste sie hervor.
»Gehört. Er ist von Zimmer zu Zimmer gegangen. Du weißt ja, wie hellhörig das Haus ist ... Ich bin dann hoch ... Ich wollte fragen, wie es Lilou geht.«
»Und dann?«
»Er hat nicht aufgemacht.« Britt tastete erneut nach Hannas Hand, ergriff sie und drückte sie so fest, dass Hannas Ehering sich schmerzhaft gegen Mittelfinger und kleinen Finger drückte »Ich wusste nicht, ob ich dir davon erzählen sollte. So wie du jetzt schaust, hätte ich wohl besser den Mund gehalten.«
Hanna atmete tief durch. Der Schmerz in den Fingern lenkte sie ein wenig von dem Krampf ab, der ihr Herz zerquetschte wie eine Schrottpresse ein ausgemustertes Auto. Britt musste sich getäuscht haben. Das Haus hatte eine seltsame Akustik. Manchmal klang es, als liefe jemand über einem herum, und dabei kam der Lärm aus der Wohnung darunter. Als sie sich verabschiedet hatte, um zu dem Kunden-Event zu gehen, hatte er sie zärtlich geküsst. Erst auf die Stirn, dann auf die Nase, dann auf den Mund, wie er es immer machte. Drei Küsse, symbolisch für ihre kleine Familie. Du hättest Britt die Tür geöffnet und gefragt, wo wir sind.
»Vielleicht hast du dich verhört.«
»Verhört?« Britt zog die Augenbrauen nach oben. »Was gibt’s denn zu verhören, wenn ich vor der Tür stehe und dahinter rumpelt’s?«
Hanna sprang auf. »Warte.«
Sie lief ins Schlafzimmer und riss den Schrank auf. Sofort bemerkte sie die Lücke, wo letzte Woche noch seine Reisetasche gestanden hatte. Übelkeit stieg in ihr hoch. Er hatte seine Tasche gepackt. Mit einem schnellen Blick überflog sie den Inhalt des Schranks. Es fehlten T-Shirts und die schwarzbraun karierte Hose. Mehr registrierte sie nicht, bevor sie zur Toilette rannte und sich übergab.
Obwohl sie sich ihre Gesellschaft vorhin so sehr gewünscht hatte, hoffte sie jetzt inständig, dass Britt in der Zwischenzeit gegangen war. Doch sie hörte ihre Stimme leise aus der Küche durch den Flur wandern und fragte sich, mit wem sie wohl redete. Hanna holte tief Luft, zählte bis drei und trat in die Küche....




