E-Book, Deutsch, 397 Seiten
Clark Ich sehe dich
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-804-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller - Wenn der Mensch, den du liebst, zu deinem schlimmsten Albtraum wird
E-Book, Deutsch, 397 Seiten
ISBN: 978-3-98690-804-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Janet Clark arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dozentin und Marketingchefin in Belgien, England und Deutschland, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in München und engagiert sich für AutorInnenrechte. Die Website der Autorin: janet-clark.de/ Die Autorin auf Instagram: instagram.com/janetclarkautorin/ Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller »Ich sehe dich«, »Black Memory« und »Rachekind«.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 14
Lydia nahm immer zwei Stufen auf einmal. Auf der letzten wartete sie, bis das Licht das erste Mal ausging, und schaltete es wieder an. Dann sprintete sie über den schmalen Flur. Vor ihrer Wohnung fuhr sie vorsichtig mit dem Finger am Türrahmen entlang, bis sie den feinen, fast unsichtbaren Seidenfaden spürte. Ihre Schultern senkten sich, und sie fühlte, wie die Anspannung aus ihnen wich. Dann griff sie in ihre Manteltasche und zog einen Schlüsselbund heraus.
Sie schloss die Tür auf, trat ein, verriegelte die Tür wieder und legte die Sicherheitskette vor. Dann erst machte sie Licht. Sie hängte ihren moosgrünen Parka an den dreizackigen Garderobenhaken, nahm den Baseballschläger aus dem Schirmständer und stand mit drei Schritten mitten in der Küche, wo sie sich umschaute, bevor sie ihn an die Wand lehnte.
Seufzend betrachtete sie das Geschirr, das sich in der Spüle stapelte. Sie machte den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und entnahm ihm eine Flasche Spülmittel und ein zerquetschtes Päckchen mit unregelmäßigen roten Flecken an den Seiten. Einwandfrei. Der krönende Abschluss des Tages – Kirschstrudelmansche. Hoffentlich war die Seminararbeit nicht versaut. Sie entfernte das Papier, legte den Strudel auf den Tisch neben die Obstschale und griff noch einmal in den Rucksack. Auf dem Deckblatt des spiralgebundenen Hefts war ein klebriger roter Streifen, der sich vom Titel bis zum Rücken und über den seitlichen Buchblock zog.
»Oh Mann!« Sie warf das Heft auf den Tisch, dass es knallte, und beobachtete, wie sich eine Orange aus dem Turm in der Obstschale löste, auf dem Strudel landete und dann langsam durch die herausgequetschte Kirschmasse über den Tisch rollte.
»Na klar.« Sie griff die Orange und putzte sie ab. »Willst du mir was sagen? Vielleicht, dass ich lieber dich als die Kalorienbombe da drüben essen sollte?«
Mit einer Hand fasste sie an den Verschluss ihrer schwarzen Cargohose und zog ihn einen Zentimeter von ihrem Bauch weg. »Nicht, solange der Knopf noch hält.«
Geschickt fügte sie die Orange wieder in die Obstschale ein. Dann nahm sie ein Messer, schnitt den Verschluss des Spülmittels auf und spritzte die gelbe Flüssigkeit auf einen Schwamm. Das Zitronenaroma stieg in die Luft. Während sie die Essensreste vom Geschirr kratzte, überlegte Lydia, ob sie die Strudelleiche in warmer oder kalter Vanillesoße ertränken sollte. Sie entschied sich für kalt.
Aus dem Wohnraum, der gleichzeitig ihr Schlafzimmer war, holte sie ihren Laptop, stellte ihn auf den Tisch und steckte das Stromkabel ein. Vielleicht konnte sie sich im Januar schon einen neuen Akku leisten.
Sie durchsuchte den weißen Hängeschrank nach Zutaten für einen Winterzaubertee und nahm sich vor, im neuen Jahr den Schrank auszumisten. An dem schwarz verfärbten Ingwer roch sie mehrmals, bevor sie ihn wegwarf, nahm dann zwei Zimtstangen, fünf Nelken, eine Handvoll Kardamom, zwei Teelöffel Früchteteemischung und warf alles zusammen in den Siebeinsatz ihrer gläsernen Teekanne. Sie rührte die Vanillesoße an und schüttete sie kurz darauf in den Suppenteller, in dem der Strudel lag. Dann nahm sie Tee und Strudel, setzte sich an den kleinen Tisch und schaltete den Computer ein.
Endlich Feierabend.
Tee. Etwas Süßes. Internet. Was wollte sie mehr. Sie öffnete ihren Browser und tippte »Gewalt gegen Frauen, Selbsthilfe« als Suchbegriff ein. 45 730 Treffer. Ob sich je etwas ändern würde? Sie scrollte durch die Ergebnisse der ersten Seiten, klickte auf einen Link, loggte sich als »Blackwidow« ein und navigierte gezielt zu einem Chatroom.
Blackwidow ist jetzt online.
Violettinchen: Hallo blackwidow, schön dich zu sehen!
Blackwidow: hi leute, was geht ab?
Bibi: Hallo Blacki, gut dass du da bist. Streiten darüber, wieso Frauen nicht aussteigen, wenn sie geprügelt werden.
Wie sinnlos. Wisst ihr nicht, dass jede Geschichte ihre eigene Dramaturgie hat? Deshalb fragte sie nie warum, sondern stärkte erst einmal das Selbstbewusstsein: Keiner hat das Recht, dich zu schlagen. Keiner. Nicht dein Mann, nicht deine Eltern, nicht dein Freund, nicht dein Feind. Erst wenn eine Frau das verinnerlicht hatte, war sie bereit auszusteigen. Erst dann lohnte es sich, ihr beizubringen, wie sie sich wehren konnte.
Blackwidow: und?
Violettinchen: Gewaltspirale, wenn du da mal drinne bist ist ...
Bibi: Blödsinn, Gewaltspirale, wenn dein Typ dich kloppt, dann haust du ab.
Blackwidow: stopp. gewaltspiralen gibt es, und sie dauern durchschnittlich 7 jahre. aber sie sind nicht der grund, warum frau sich schlagen lässt, sondern beschreiben, wie sich die gewalt immer weiter steigert.
Bibi: 7 Jahre?
Blackwidow: im durchschnitt, kann auch ein monat oder zwanzig jahre sein.
Lydia senkte den Löffel in die weiche Kirschstrudelmasse, schaufelte sich Vanillesoße darauf und führte ihn zum Mund. Sie lehnte sich zurück und genoss den sauren Kirschgeschmack zusammen mit der süßen Vanillesoße auf ihrem Gaumen. Wenn das keine sinnliche Erfahrung war. Wer brauchte schon einen Mann, solange es Obststrudel mit Vanillesoße gab.
Violettinchen: Siehste, Bibi, sach ich doch.
Blackwidow: das fängt langsam an. erst splittet der mann die frau von ihrem umfeld, so mit: »willst du wirklich noch weg? ich hab uns extra einen video geholt«, später dann zeigt er offene eifersucht und abneigung gegen ihre familie und freunde.
Violettinchen: Und dann?
Blackwidow: dann kann sie ihm nichts mehr recht machen, sie wird vor anderen bloßgestellt und systematisch kleingemacht. irgendwann ist ihr selbstvertrauen weg.
Bibi: Und die Frau lässt alles so einfach mit sich geschehen? Die ist doch selbst schuld!
Blackwidow: manche gehen rechtzeitig, manche sind schon zu kaputt oder wissen nicht wohin. das kannst du nicht pauschalieren, das sind schleichende prozesse.
Bibi: Ich find trotzdem, es ist ihre eigene Schuld. Niemand zwingt sie, zu bleiben.
Ach Bibi, denk doch mit! Wo soll sie denn hin? Wenn sie niemanden hat? Oder nichts anderes kennt? Oder weiß, dass er sie ein Leben lang jagen wird?
Natürlich sollte eine Frau raus aus so einer Situation. Natürlich war Davonlaufen die beste Verteidigung. Natürlich war es bescheuert, zu dem Schläger zurückzukehren. Und trotzdem war es die Realität. Und dafür gab es Gründe. Viele Gründe. Individuelle Gründe. Wie bei Marie, die Angst hatte um ihre Kinder, um sich selbst, vor der Verantwortung für ihr Tun, dessen Konsequenzen sie nicht abschätzen konnte. Und deshalb war sie für jede Frau, die sich aus einer Gewaltsituation befreit hatte, dankbar. Sie hatte ihre Aufgabe im Leben gefunden. Esoteriker würden es wahrscheinlich Bestimmung nennen. Lydia lächelte. Esoteriker würden jetzt bestimmt ein schlechtes Karma um sie herum spüren. Strudelkarma.
Blackwidow: schön, wenn es so einfach wäre. versetze dich mal in die lage der frau: der erste schlag kommt als schock. der typ ist untröstlich über den »ausrutscher« und ist danach besonders lieb, und die frau hofft, dass alles wieder gut wird.
Cooldude ist jetzt online.
Violettinchen: Aber das wird’s eben nich mehr, oder?
Blackwidow: nein, über 90% der männer, die einmal zuschlagen, schlagen wieder zu. trotzdem bleiben viele frauen, weil er droht, die kinder wegzunehmen, sie finanziell abhängig ist, usw.
Lydia schenkte sich Tee nach. Und manche sperren ihre Frauen ein. Oder bringen sie um.
Cooldude: Ich hatte einen Fall, da hab ich die Polizei eingeschaltet, und die Frau hat die Anzeige zurückgezogen. Eine Woche später war sie wieder im Krankenhaus.
Charly ist jetzt online.
Bibi: Sag ich doch: Blöd, wenn man bei so einem Arsch bleibt.
Violettinchen: Bibi, du nervst. Vielleicht hatte sie Angst.
Allerdings. Du nervst. Lydia leckte die letzten Reste Vanillesoße aus dem Suppenteller.
Cooldude: Ich bin zu ihr, echt sauer, denn ich hatte viel Zeit investiert, aber sie hat nur geweint. Mit viel Mühe hab ich dann herausgefunden, dass sie die Anzeige zurückgezogen hat, weil er ihr gedroht hat, sie umzubringen, wenn er verknackt wird.
Und, Cooldude, kannst du ihre Angst nicht verstehen? Was soll sie denn tun? Ihr Leben lang auf der Flucht sein? Immer Angst haben? Oder ihren Mann um die Ecke bringen? Als sichere Lösung? Meinen Segen hätte sie. Vater Staat sieht das aber nicht so gern.
Charly: Es gibt auch Männer, die Opfer sind.
Genau, Charly. Geh doch mal in die Notaufnahme und schau, wie viele Männer du dort findest, die von ihren Frauen zusammengeschlagen wurden.
Blackwidow: statistisch sind das nicht mal 5% der häuslichen gewaltopfer, notwehr mit eingerechnet.
Violettinchen: Hallo charly, bist du eins?
Charly: Ja. Alles hab ich für meine Frau getan. Aber das Luder hat sich in einen anderen verguckt und wollte mich loswerden. Also hat sie versucht, mich umzubringen, und mich dann liegen...