E-Book, Deutsch, Band 3, 208 Seiten
Reihe: Finstermoos
Clark Finstermoos 3 - Im Angesicht der Toten
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7320-0347-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Atemberaubender Nervenkitzel für Jugendliche ab 12 Jahre
E-Book, Deutsch, Band 3, 208 Seiten
Reihe: Finstermoos
ISBN: 978-3-7320-0347-1
Verlag: Loewe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit elf Jahren hat Janet Clark ihren ersten Roman geschrieben. Er hatte zwölf Seiten und eine Leserin. Obwohl diese sofort von ihren schriftstellerischen Fähigkeiten überzeugt war, brauchte es viele Jahre und Umwege über diverse Länder und Berufe, bis Janet Clark ihr erstes Manuskript an eine Agentur schickte. Seitdem finden ihre Bücher immer mehr Fans. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in München. Mehr über die Autorin unter www.janet-clark.de
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2.August
1
Die schwarzen Augen der Toten starrten leer durch ihn hindurch. Ein Schauder jagte über Nics Rücken. Instinktiv wandte er den Blick ab, fixierte die bläulich weiße Eiswand, die kalt und tödlich oberhalb der Toten schimmerte. Er wich einen Schritt zurück, da vernahm er Maschas unregelmäßige Atemzüge, kurz und gepresst, als verwende sie alle Kraft darauf, nicht wieder loszuschreien. Er zwang sich, seinen Blick auf die Tote zu richten. Das Gesicht war ausgemergelt, die Haut ledrig und dunkel. Die Lippen fest aufeinandergepresst, schob er sich an Mascha vorbei und ging vor der Toten auf die Knie. Erst jetzt fielen ihm die Details auf. Sie musste schon sehr lange hier gelegen haben. Die Schuhe, die Jacke, so etwas trug man schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Doch das Erschreckendste war die Ähnlichkeit zu Mascha, obwohl das Gesicht der Toten eingefallen war bis auf die Knochen: die großen, von langen Wimpern umrahmten schwarzen Augen, die zierliche Nase, die Lippen, die noch erahnen ließen, dass sie ehemals so voll wie Maschas gewesen sein mussten.
Die Härchen an seinen Armen stellten sich auf. Wie konnte das sein? Eine Tote, die Mascha ähnlich sah? Solch einen Zufall gab es nicht. Er drehte sich zu Mascha, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Atem noch immer kurz und gepresst, auf ihren Wangen hatten sich hektische rote Flecken ausgebreitet. Sie schien völlig im Bann der Toten zu stehen, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Als wäre sie in einem Horrorfilm gefangen. Vielleicht konnte er den Bann brechen, indem er die Tote berührte, indem er Mascha zeigte, dass es nur ein Körper war, nur eine harmlose Hülle, von der keine Gefahr ausging.
Er drehte sich wieder zu der Toten, streckte seine Hand nach ihr aus.
»Fass sie nicht an, bitte!« Mascha fiel ihm in den Arm.
Er zog seine Hand zurück. »Sie ist tot. Es wird sie nicht stören.«
Mascha schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie ist die Frau von dem Bild. Die Göttin, die das Baby in Empfang nimmt.« Sie packte seinen Arm, zerrte ihn hoch, weg von der Toten. Weißer Atem hauchte ihm entgegen. Ihre Hand zitterte. »Lass uns gehen.«
»Warte kurz.« Behutsam löste er ihre Hand von seinem Arm und ging an der Toten vorbei. Neben ihr lag eine rotbraune Umhängetasche auf losem Eis. Daneben große Eisbrocken und kleinere Klumpen, teils zu Schneekristallen zerbröselte und zertrampelte Häufchen.
Er ließ seinen Blick schweifen, entdeckte keine zwei Meter neben der Toten einen hüfthohen Haufen aus Eis und Schnee. Er bückte sich und griff hinein. Er war bröselig und locker, als wäre er gerade erst aufgeworfen worden. Die Leiche hatte hier gelegen, ummantelt vom ewigen Eis, bis sie jemand mit brachialer Gewalt daraus befreit hatte. Vor Kurzem erst, dem guten Zustand der Toten nach. Sein Blick fiel auf einen kräftigen Holzstiel, der seitlich aus dem Eishaufen ragte. Er zog ihn heraus, sah die Initialen F.S. unbeholfen und schief in den Stiel eingeritzt. Die Axt aus der Schmugglerhütte.
Die Axt, die ihm gestern Abend aus der Hand geschlagen worden war.
Angespannt sah Nic sich um. Warum befreite jemand eine Leiche aus dem Eis und ließ sie dann liegen? Er ging die Wand entlang, tiefer in die Spalte hinein, den Blick nach oben geheftet. Schließlich sah er Eisschrauben. Zwei Stück, eine auf etwa vier Metern Höhe, eine direkt am Einstieg, daneben ein einfacher Flaschenzug, wie Basti und sein Vater ihn bei Rettungseinsätzen der Bergwacht verwendeten.
Er winkte Mascha zu sich. Zögerlich kam sie näher, dicht an die Wand gepresst, immer wieder drehte sie den Kopf zu der Leiche zurück, als müsste sie sich vergewissern, dass sie wirklich dort sitzen blieb.
»Hier ist er ein- und ausgestiegen.« Nic zeigte auf die Eisschrauben und die unregelmäßigen Löcher im Eis, die von einem Eispickel und den Eiskrallen stammen mussten, die sich der Kletterer offenbar unter die Sohlen geschnallt hatte.
»Ein Flaschenzug«, murmelte Mascha. »Das war also die Spur.«
Spur? Wovon sprach sie? Verwirrt sah Nic sie an.
»Es muss eine zweite Leiche in der Spalte gewesen sein«, fuhr Mascha fort. »Jemand hat sie weggeschafft. In einem Sack oder auf einer Plane. Das Gewicht würde reichen, um die Rinne zu hinterlassen.«
Nic begriff. Sie meinte die Schneespur zur Spalte hin, die Rinne, die sie beide für eine Minilawine gehalten hatten. Dann … Verflucht! Sein Atem stockte. Sollte Mascha recht haben, konnte der Angreifer von gestern jeden Moment hierher zurückkommen, um die andere Leiche ebenfalls zu holen.
Sie mussten aus der Spalte heraus. So schnell wie möglich. Er packte Maschas Hand. »Komm. Schnell. Wir müssen hier weg!«
»Er kommt wieder, oder?«
»Ja. Und er sollte besser nicht wissen, dass wir sein Geheimnis entdeckt haben.« Nic steckte die Axt in den Schneehaufen zurück und schabte mit der Sohle Eisklumpen über seine Fußspuren im Schnee.
»Komm schon!«, drängte Mascha. Sie hatte bereits das Seil erreicht. »Du zuerst oder ich?«
»Ich«, sagte Nic und schluckte die Panik hinunter, die bei dem Anblick des wackeligen Seils in ihm aufstieg. »Dann kann ich dich hochziehen, falls du es nicht schaffst.«
Er griff nach dem Seil und merkte, wie steif gefroren seine Hände waren. Viel zu steif, um sich sechs Meter an einem Seil hochzuarbeiten, selbst mithilfe der Steigklemme. Er ballte seine Finger zu Fäusten und hauchte sie an. Öffnete sie, hauchte wieder. Dann umklammerte er das Seil erneut und umfasste die Steigklemme. Langsam und konzentriert arbeitete er sich nach oben, die Füße gegen die Wand gestemmt, doch immer wieder rutschte er von dem glatten Eis ab.
Plötzlich hörte er ein Knirschen über sich. Er sah nach oben, die Bewegung brachte das Seil zum Schaukeln. Nicht schwingen. Er keuchte. Sah nach unten. Keuchte heftiger.
Nur zwei Meter bis zum Boden. Trotzdem wurde ihm schummerig. Undeutlich sah er Mascha Zeichen machen.
Sollte er wieder runterkommen?
Sie legte einen Finger an ihren Mund und winkte ihn zu sich. Er entriegelte die Steigklemme und rutschte am Seil hinunter, ließ es los – zu früh. Unsanft landete er auf dem harten Eis. Schon stand Mascha neben ihm und zog ihn tiefer in die Spalte.
»Da oben läuft jemand«, flüsterte sie aufgeregt.
Entsetzt legte er den Kopf in den Nacken, versuchte, etwas zu erkennen. Er hatte genug Fantasie, um sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn er, erschöpft vom Hochklettern, den Kopf über den Rand geschoben hätte.
»Ich hol die Axt!«, flüsterte er in ihr Ohr. »Wir überraschen ihn, wenn er absteigt.« Er stürmte los, doch schon im Laufen begriff er, dass es umsonst sein würde.
Es gab keinen Überraschungsangriff. Wer immer dort oben entlanglief, wusste längst, dass sie in der Spalte waren. Ihr Rucksack am Einstieg war nicht zu übersehen.
2
»Du bist was?« Valentins Vater setzte sich so abrupt auf, dass die Triangel über seinem Krankenhausbett wild hin- und herschaukelte.
»Reg dich wieder ab, ist ja nichts passiert.« Vorsichtig lehnte Valentin sich in die frisch aufgeschüttelten Kissen zurück und verdrehte die Augen. Gut, dass die Krankenschwester ihre Abendrunde bereits beendet hatte: Der Gesichtsfarbe seines Vaters nach stieg dessen Blutdruck gerade in bedenkliche Höhen. Warum hatte er nicht die Klappe gehalten? Er hätte sich doch denken können, wie sein Vater reagierte.
»Nichts passiert!« Sein Vater schnaubte wie eine Dampflok. Er griff nach der Triangel, zog sich daran hoch und setzte sich so aufrecht, wie sein Gips es zuließ. »Du wärst fast zu Tode gestürzt!«
»Bin ich aber nicht.« Valentin verdrängte die Angst, die die Worte seines Vaters in ihm auslösten. Er durfte sich von ihm jetzt nicht verrückt machen lassen. Er war nicht gestürzt. Weil Mascha und Luzie ihn gerettet hatten.
»Du musst doch gesehen haben, wer dich gestoßen hat! Wenn ich rausfinde, wer das gewesen ist … Der kann den Rest seiner Tage im –«
»Mann, Paps, jetzt lass gut sein.« Valentin setzte sich ebenfalls auf, zu schnell, denn sofort begann sich das Zimmer um ihn zu drehen. Er schloss für einen Moment die Augen, das Drehen stoppte. »Du weißt auch nicht, wer dich in die Grube gestoßen hat.«
»Ich habe einen partiellen Gedächtnisverlust.«
»Und ich hinten keine Augen.« Valentin legte sich behutsam ins Kissen zurück und fixierte die winzigen Löcher in den Quadraten der Zimmerdecke. Genug erzählt. Daran würde sein Vater erst einmal eine Zeit lang kauen. Es musste für ihn wie die Kurzfassung eines Actionfilms geklungen haben: der Sprung aus dem Lift, Maschas Versuch, den Blitz von ihm wegzuleiten, seine Hängepartie über der Schlucht, der Steinschlag … Und dabei hatte er viele Details ausgelassen – das Wandbild in der Höhle, den Angriff auf Nic, den Kuss …
Er schloss die Augen und holte den Moment mit Luzie zurück. Wie wunderbar es sich angefühlt hatte, sie in seinen Armen zu halten. Ihre weichen warmen Lippen auf seinen zu spüren. Er fuhr mit der Zunge über seinen Mund, spürte Wärme durch seinen Körper strömen. Er liebte sie. Für ihn hatte sich nichts geändert. Abgesehen davon, dass er jetzt wusste, dass sie nicht ihn, sondern Basti wollte. Und Basti sie. Und dass er wahrscheinlich nie eine Chance bei ihr haben würde.
Die Tür wurde aufgedrückt und eine Krankenschwester trat mit dem Essen ein. Er stellte sich schlafend, hörte, wie sie das Tablett abstellte und ein paar Worte mit seinem Vater wechselte. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss.
Gab es etwas Blöderes, als sich in die Freundin...