E-Book, Deutsch, Band 2, 784 Seiten
Reihe: Die Letzten Stunden
Clare Chain of Iron
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-20546-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Letzten Stunden 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 784 Seiten
Reihe: Die Letzten Stunden
ISBN: 978-3-641-20546-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Cassandra Clare ist eine internationale Bestsellerautorin. Ihre Bücher wurden weltweit über 50 Millionen Mal verkauft und in 35 Sprachen übersetzt. Seit dem Überraschungserfolg der 'Chroniken der Unterwelt' waren all ihre Romane große Bestseller. So auch die neueste Serie 'Die Letzten Stunden'. Cassandra Clare lebt in Massachusetts, USA.
Weitere Infos & Material
2
Alles, was vorüberrollt
Und wenn ihr einmal auf den Stufen eines Palastes, auf dem grünen Grase eines Grabens, in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet, der Rausch schon licht geworden oder verflogen ist, so fraget den Wind, die Woge, den Stern, den Vogel, die Uhr, alles, was flieht, alles, was seufzt, alles, was vorüberrollt, alles, was singt, alles, was spricht, fraget sie: »Welche Zeit ist es?« und der Wind, die Woge, der Stern, der Vogel, die Uhr werden euch antworten: »Es ist Zeit, sich zu berauschen! Um nicht die gequälten Sklaven der Zeit zu sein, berauschet euch; berauschet euch ohne Ende; mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt.«
»Pass auf, hinter dir!«, rief Christopher erschrocken, und James sprang hastig zur Seite. Zwei betrunkene Werwölfe, in ein wüstes Handgemenge verwickelt, stürzten an ihnen vorbei und landeten krachend auf dem Boden. Thomas hielt sein Glas über den Kopf, um es im Getümmel zu schützen.
James war unsicher gewesen, ob die Devil Tavern der richtige Ort für diese Party war, da er sich ohnehin mehrmals in der Woche dort aufhielt. Aber Matthew hatte darauf bestanden und angedeutet, dass er etwas ganz Besonderes arrangiert hätte.
James warf einen Blick auf das Chaos um ihn herum und seufzte innerlich. »Eigentlich hatte ich mir einen eher beschaulichen Abend vorgestellt.«
Bei ihrer Ankunft war es in der Devil Tavern noch nicht so turbulent zugegangen – es hatte nur die übliche heitere Betriebsamkeit geherrscht. James wäre vollauf damit zufrieden gewesen, sich wie immer nach oben in ihre Privaträume zurückzuziehen und mit seinen ältesten Freunden einfach einen entspannten Abend zu verbringen.
Matthew war jedoch sofort auf einen Stuhl gestiegen und hatte die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste auf sich gezogen, indem er mit seiner Stele gegen den Kronleuchter unter der Decke schlug und rief: »Freunde! Heute feiert mein , James Jeremiah Jehoshaphat Herondale, seinen letzten Abend als unverheirateter Mann!«
Der gesamte Pub hatte gejohlt und gejubelt.
James hatte freundlich gewinkt, um seinen Gratulanten zu danken, doch allem Anschein nach war es damit nicht getan. Schattenweltler aller Art kamen herbei, um ihm die Hand zu schütteln, ihm auf die Schulter zu klopfen und alles Gute zu wünschen. Zu seiner Überraschung wurde James klar, dass er fast alle Anwesenden kannte – dass er viele von ihnen bereits als kleiner Junge gekannt hatte und sie ihn hatten aufwachsen sehen.
Da war Nisha, die »älteste Vampirin aus dem ältesten Teil dieser alten Stadt«, wie sie zu sagen pflegte. Dazu kamen Sid und Sid, die beiden Werwölfe, die sich ständig stritten, wer von ihnen »Sid« heißen durfte und wer deshalb »Sidney« sein musste. Oder das seltsame Grüppchen von Kobolden, die nur miteinander schwatzten, aber nie mit Außenstehenden, und die trotzdem anderen Gästen immer wieder mal aus heiterem Himmel einen Drink spendierten. Jetzt umringten sie James und forderten ihn auf, das Whiskyglas in seiner Hand zu leeren, damit er den Whisky trinken konnte, den sie ihm bestellt hatten.
Obwohl James die Welle von Gefühlsbekundungen aufrichtig rührte, fühlte er sich aufgrund der Umstände seiner Heirat dadurch noch unbehaglicher. , dachte er.
Matthew war kurz nach seiner Rede die Treppe hinauf verschwunden und hatte seine Freunde inmitten der lärmenden Zecher zurückgelassen, die zu Ehren von James immer betrunkener wurden. Und irgendwann war natürlich der unvermeidliche Moment gekommen, in dem Sid dem anderen Sid einen Kinnhaken verpasst hatte, worauf die Menge zu johlen begann – die eine Hälfte ermutigend, die andere spottend.
Thomas zog eine finstere Miene und nutzte seinen robusten Körperbau und seine beachtlichen Muskeln, um die drei in eine weniger überfüllte Ecke des Raums zu manövrieren.
»Danke, Thomas«, sagte Christopher, mit zerzausten braunen Haaren und einer Brille, die ihm in die Stirn gerutscht war. »Eigentlich sollte Matthews einzigartige Vorstellung …«, er warf einen hoffnungsvollen Blick zur Treppe, »… jeden Moment beginnen.«
»Wenn Matthew etwas Einzigartiges geplant hat, ist es in der Regel schrecklich schön oder schön schrecklich«, sagte James. »Wollen wir wetten, was es diesmal wird?«
Christopher lächelte matt. »Laut Matthew handelt es sich um eine Darbietung von unerreichter Schönheit.«
»Das könnte alles sein«, meinte James und beobachtete, wie Polly, die Bardame, direkt ins Zentrum des Getümmels marschierte und die beiden Sids energisch voneinander trennte, während Pickles, der ortsansässige Kelpie, Wetten auf den Gewinner des Kampfes entgegennahm.
Thomas breitete seine bis dahin verschränkten Arme aus und verkündete: »Es ist eine Meerjungfrau.«
»Eine was?«, fragte James.
»Eine Meerjungfrau«, wiederholte Thomas. »Mit irgendeiner … betörenden Meerjungfrauen-Nummer.«
»Eine von Matthews Freundinnen aus der Demimonde«, warf Christopher ein, sichtlich stolz darauf, das Wort »Demimonde« zu kennen. Zugegebenermaßen waren Matthews häufige Stelldicheins mit Dichterinnen und Kurtisanen weit entfernt von Christophers Tinkturen und Reagenzgläsern oder Thomas’ umfangreicher Bibliothek und intensivem Trainingsprogramm. Trotzdem wirkten beide erleichtert, das Geheimnis gelüftet zu haben.
»Was wird sie vorführen?«, fragte James. »Und … vor allen Dingen wo?«
»In einem großen Wasserbehälter, hoffe ich doch«, antwortete Christopher.
»Was die Vorführung selbst angeht …«, setzte Thomas an, »so handelt es sich um etwas Unkonventionelles mit Glöckchen, Kastagnetten und Schleiern. Nehme ich jedenfalls an.«
Christopher wirkte besorgt. »Werden die Schleier denn nicht nass?«
»Matthew meint, es wird ein unvergessliches Erlebnis«, fuhr Thomas fort, »von unerreichter Schönheit und so weiter.«
Intuitiv griff James nach dem silbernen Armband an seinem Handgelenk und fuhr mit den Fingern geistesabwesend über die Oberfläche. Nach all den Jahren nahm er dessen Existenz kaum noch wahr – Grace Blackthorn hatte ihm das Armband anvertraut, als er gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen war. Allerdings hatte er sich größte Mühe gegeben, nicht an Grace zu denken, während seine Hochzeit näher rückte.
, dachte James. Er musste Grace noch für ein Jahr aus seinen Gedanken verbannen. Das war das Versprechen, das sie einander gegeben hatten. Und er hatte auch Cordelia versprochen, Grace nicht allein oder hinter ihrem Rücken zu treffen: Wenn jemand es herausfände, wäre Cordelia gedemütigt. Alle mussten denken, dass sie eine richtige Ehe führten.
Die Vorstellung, sich mit Cordelia zu verheiraten und dabei das Armband zu tragen, behagte ihm nicht. Er musste es abnehmen, sobald er wieder zu Hause war, ermahnte er sich. Das mochte zwar eine Kränkung gegenüber Grace bedeuten, doch wenn er es weiterhin trug, hätte er das Gefühl, Cordelia zu kränken. Schließlich hatte er den Entschluss gefasst, sein Eheversprechen weder in Worten noch in Taten zu brechen. Er mochte zwar nicht in der Lage sein, sein Herz oder seine Gedanken zu beherrschen, doch das Armband konnte er abnehmen – so viel lag in seiner Macht.
Auf der anderen Seite des Schankraums kommandierte Polly ein kleines Team aus Wichteln herum. Sie hatten dort ein Podium aufgebaut, auf dem tatsächlich ein großer Glasbehälter mit Wasser stand. Zwei Wichtel rückten Kerzenständer zurecht, um für eine theatralische Beleuchtung zu sorgen. Die anderen huschten durch den Raum und räumten den Boden frei, um Platz für das Publikum zu schaffen.
Kurz darauf knarrte die Treppe, und Matthew stürmte herunter. In der verhangenen Wirtshausluft schimmerte sein helles Haar wie Kerzenlicht. Er hatte seine Jacke abgelegt und war in Hemdsärmeln, mit einer grün-blau gestreiften Weste darüber. Geschickt schwang er sich über das Treppengeländer, landete auf dem Podium, postierte sich neben dem Glasbehälter und hob die Hände, um für Ruhe zu sorgen.
Der Lärm hielt jedoch unvermindert an, bis der erste Sid seine massigen Fäuste über dem Kopf gegeneinanderschlug und brüllte: »He! Ruhe jetzt, oder ich zerquetsche euch die lausigen Schädel!«
»Genau!«, rief der andere Sid – anscheinend hatten sie ihre Differenzen beigelegt.
Murren erhob sich aus den Reihen der Gäste, und ein Werwolf in der Nähe murmelte: »Lausig! « Doch schließlich kehrte Ruhe ein.
»Moment mal!«, flüsterte James. »Wie soll die Meerjungfrau überhaupt die Treppe hinunterkommen?«
Seine Freunde sahen ihn ratlos an. Dann meinte Christopher, der seine Brille zum Putzen abgenommen hatte: »Wie ist die Meerjungfrau überhaupt die Treppe hinaufgekommen?«
Thomas zuckte die Achseln.
»Guten Abend, Freunde!«, rief Matthew, woraufhin höflicher Applaus erklang. »Heute werden wir euch, zu Ehren eines langjährigen Freundes der Devil Tavern, etwas wirklich Außergewöhnliches präsentieren. Freundlicherweise duldet ihr ja die Anwesenheit der Tollkühnen Gesellen schon seit mehreren Jahren …«
»Wir dachten bloß, ihr Schattenjäger würdet hier eine Razzia durchführen und euch dabei ordentlich Zeit lassen«, warf Polly grinsend ein.
»Morgen wird sich einer von uns – der Erste von uns – auf den Weg...