Blind schreiben
Buch, Deutsch, 128 Seiten, PB, Format (B × H): 125 mm x 202 mm, Gewicht: 207 g
ISBN: 978-3-85449-613-7
Verlag: Sonderzahl Verlagsges.
Im Essay »Conversation avec l’âne. Écrire aveugle« von Hélène Cixous – ins Deutsche übertragen von Claudia Simma mit kommentierenden Beiträgen von Esther Hutfless, Gertrude Postl und Elisabeth Schäfer – betont Hélène Cixous jene Dimension des Schreibens, die sich dem Ankommen des radikal Anderen öffnet, was als eines der zentralsten Themen der Dekonstruktion und ihrer Ethik gelten kann.Statt im Prozess des Schreibens auf das Sichtbare, das Offenkundige der uns umgebenden Welt zu fokussieren, geht es Cixous darum, sich dem Verborgenen zu nähern, dem Nicht-Sichtbaren, Nicht-Hörbaren, der Welt der Anderen, einzutauchen in eine Beziehung zum Anderen, in der eine:r nicht länger blind dem:der Anderen gegenüber ist, sondern sich des ganzen Sensoriums mit und zum Anderen hin bedient. Damit kündigt sich die poetisch-wirksame Utopie einer anderen, einer Bedeutungen queerenden Welt an. Eben diese Annäherung an das Unbekannte, Noch-Nicht-Benannte ist eine Bewegung, die jedoch selbst eines »blinden Schreibens« bedarf, das eine sehende, ergo wissende, teleologische, auf das Objekt des Schreibens zentrierte Perspektive radikal hinter sich lassen will.Hélène Cixous betont – wie in vielleicht keinem anderen ihrer Texte – die immanente Verbindung von Widerstand und Schreiben. Und sie tut dies in einer radikal queer-poetischen Weise, die sich der Kraft der Sprache zur Transformation, zum Generieren neuer Bedeutungen verschreibt.
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Ich habe das Unglu¨ck und geheime Glu¨ck, dass ich sehr kurzsichtig auf die Welt gekommen bin. Der Blinde war immer mein Nächster, mein Verwandter und mein Entsetzen. Wenig fehlte und ich war er.Meine Myopie ist das Geheimnis meiner Hellsichtigkeit. Ich bin Frau. Aber noch bevor ich eine Frau bin, bin ich eine Kurzsichtige. Die Myopie ist mein Geheimnis. Ein Geheimnis? Aber wenn du den Schleier hebst? Sogar eingestanden ist das Geheimnis nicht gelu¨ftet: Schwere Kurzsichtigkeit bleibt unbegreiflich fu¨r jemanden der nicht schwer kurzsichtig ist. Ich gehöre dem Geheimbund der Kurzsichtigen an.[…]Was ich dann schreibe kennt weder Grenzen noch Zögern. Keine Zensur. Zwischen Nacht und Tag. Empfange ich die Nachricht. Ich empfange unerschu¨ttert. Bei grobgrellem Tageslicht hätte ich nie diese paradiesische Nacktheit. Man kann nur als Nackte empfangen. Nein, nicht als Entkleidete. Die Nacktheit vor jeder Kleidung.Dann hebe ich vor meinen Augen das Visier, ich wende meine nackten Augen der Welt zu. Und ich sehe. Ich sehe! mit nacktem Auge, und das ist reinste Begeisterung. Ich gehe u¨ber von Nichtsehen zu Die-Welt-Sehen. Die Gesichtszu¨ge der Welt treten hervor, zeichnen sich ab, gehen u¨ber von nicht Wahrgenommenem zur Gegenwart. Jäher, blitzartiger, zeugender Übergang. Ich fu¨hle mich sehen. Augen sind die gewaltigsten sachtesten Hände, sie beru¨hren unabwägbar die Ferne. Aus der Ferne fu¨hle ich mir ein Ich zuru¨ckkommen.Ich wäre also der Beru¨hrungspunkt zwischen meiner sehenden Seele und dir? Ich hebe das Visier und siehe: Die Welt geht fu¨r mich auf. Ist mir gegeben. Die Gabe der Welt. Was mir bei diesem plötzlichen Aufgehen gegeben wird ist gleichzeitig die Welt und die Gabe. Ich sage Welt: Ihr Gesicht: Die physische Welt. Ihre Landschaft.