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E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Christensen Yesterday

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14019-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-641-14019-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Oslo, Frühling 1965: Die Beatlemania grassiert wie überall in Europa. Gerade ist 'I feel fine' erschienen. Die Pilzköpfe aus Liverpool beherrschen das Bild, beeinflussen die Jugend und verstören die Alten. Für Gunnar, Seb, Ola und Kim ändert sich alles. Hausaufgaben und Fußballtraining treten in den Hintergrund. Sie wachsen heran im Zeichen der Beatles. Sie nennen sich Paul und John, Ringo und George. Die neuen Scheiben bestimmen ihr Leben. Die vier überstehen den Erziehungsamoklauf ihrer besorgten Eltern und treiben Herrenfriseure in den Ruin. Sie erfahren den bittersüßen Geschmack der ersten Liebe und nehmen teil am weltweiten Aufbruch der Jugend. Und als die Zeit überschattet wird vom blutigen Ausgang der Pariser Maiunruhen und dem Massaker von My Lai, geht auch das nicht spurlos an ihnen vorüber ...

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.
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She’s a woman


Sommer 65


Das war der kälteste Sommer seit dem Krieg. Ich lag in meinem Zimmer im ersten Stock und hörte Platten, las alte Zeitschriften oder machte gar nichts, hörte nur den Elstern zu, die draußen im Baum hysterisch herumschrien und jäh davonflatterten, wie schwarze Scheren im Regen.

An diese Dinge erinnere ich mich: die Tennisschuhe, die im nassen Gras grün und eng wurden, eine Schnecke, die glänzenden Schleim hinter sich her die Treppe hoch zog, die ovale Form der Stachelbeeren, ihre eklige, behaarte Oberfläche (die mich an etwas erinnerte, was ich nie getan hatte), weiße Johannisbeeren und Magenkneifen, das Klo auf dem Hof und eine verblichene Fotografie des Urgroßvaters, der das Haus 1920 gekauft hatte. Und die Stille. Die Stille im Regen, unter der Bettdecke und der Haut, eine große, bedeutungsträchtige Stille. Bis auch er Urlaub bekam, fuhr Vater jeden Morgen mit dem Schiff in die Stadt und kam genau um fünf Uhr zurück. Und Mutter trippelte in lautlosen Latschen herum, einen riesigen Schal umgeschlungen, sie fror die ganze Zeit und langweilte sich, genau wie ich.

An so einem Tag, mit einer Regenwand vor den Fenstern, kam sie auf was ganz Verrücktes.

»Ich langweile mich so«, sagte sie plötzlich und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Es ist so dunkel hier. Können wir nicht irgendwas machen?«

»Kommt Vater nicht bald?« fragte ich nur.

Sie erhob sich und ging unruhig hin und her.

»Er bleibt bis morgen in der Stadt«, seufzte sie und starrte in den Regen hinaus. »Eine Sitzung.«

»Wir können ja Karten spielen«, schlug ich zaghaft vor.

»Nein, bloß nicht! Ich hasse Kartenspielen, das weißt du doch.«

Ich überlegte, ob ich runter zur Brücke verschwinden sollte, um dort ein paar Würfe mit dem neuen Blinker auszuprobieren.

Doch Mutter kam mir zuvor.

»Ich hab’s!« sagte sie laut. »Wir verkleiden uns! Wir spielen Karneval! «

»Karneva!?« murmelte ich. »Mit was für Kleidern denn?«

»Da liegt ’ne Menge alter Kleider im Schrank auf dem Boden!«

Sie trippelte aus dem Zimmer und blieb eine ganze Weile fort.

Ich wäre am liebsten abgehauen, könnte vielleicht Walderdbeeren pflücken fahren, die waren sicher nach all dem Regen reif. Aber ich blieb sitzen, und Mutter kam mit einem Haufen Kleidern überm Arm zurück.

»Hier!« strahlte sie und warf alles auf den riesigen Tisch im Zimmer.

Ein komischer Geruch war in dem Zeug, Mottenkugeln, Staub, tote Menschen, bildete ich mir ein, es war etwas unheimlich. Mutter wühlte in dem Haufen, legte das, was ihr gefiel, zur Seite, und die ganze Zeit lachte sie, so hatte sie den ganzen Sommer noch nicht gelacht. Ich fand eine alte zweireihige Jacke und hängte sie über einen Stuhl.

Mutter zog sich aus. Ich sah sie erschrocken an und drehte mich weg.

Mutter lachte hinter mir.

»Genierst du dich, Kim?«

Seide raschelte. Ich drehte mich schnell um und sah sie wieder an. Unsere Blicke trafen sich in dem halbdunklen Raum, viel Angst und Weichheit waren in ihren Augen, auf den Armen bekam sie eine Gänsehaut. Sie stand ausgezogen da, lange war es still, ihr war wohl klar, daß sie mich jetzt ein wenig verloren hatte.

Hinterher stolzierte sie in einem geraden, engen Kleid umher, es war kohlrabenschwarz, reichte ihr bis zu den Knöcheln, und um die Stirn trug sie ein ebenso schwarzes Band, im Haar stach eine riesige goldene Feder. Sie machte einen Schmollmund, ihre Lippen waren knallrot. Ich stand breitbeinig in Urgroßvaters alter Leinenjacke da und ähnelte wohl einem Gärtner oder einem Leichtmatrosen. Dann rezitierte sie Gedichte für mich und Rollen, die sie vor langer Zeit, bevor sie Vater kennenlernte, einstudiert, aber nie gebraucht hatte. Und ich bildete mir ein, daß Lachen und Weinen bei ihr nicht weit voneinander entfernt lagen, denn auch wenn sie gutgelaunt war und eine Menge komischer Dinge machte, so war es doch eine einsame Vorstellung, einsam und voller Panik. Ich klatschte, was ich nur konnte.

In dieser Nacht hatte ich einen schlechten Traum: Ich lag in tiefer Finsternis, dunkler als ich es mir jemals vorgestellt hatte. Wenn ich mit meiner Hand ausholte, traf ich etwas Hartes, wie Holz. Ich schlug und schlug und spürte, daß ich blutete. Da hörte ich etwas außerhalb der Dunkelheit, zuerst Stimmen, leise, summende Stimmen ohne erkennbare Worte, gefolgt von Musik. Ich schlug gegen die Finsternis, schrie so laut ich konnte, aber es half alles nichts. Dann hörte ich ein neues Geräusch, während ich gleichzeitig herabsank: das Geräusch von Erde, die auf Bretter rieselt, dreimal.

Am nächsten Tag wußte ich, daß die Zeit gekommen war. Spät am Abend, als Vater aus der Stadt gekommen war, nahm ich meine Badehose und lief zum Strand hinunter. Das Wetter hatte aufgeklart, aber es wehte ein starker Wind, der genau in den Fjord hineindrückte und das Wasser in scharfen, weißen Wellen vor sich hertrieb. Ich zog mich um und ging vorsichtig auf das Sprungbrett, zögerte kurz, bevor ich mich hinauswarf. Das Wasser schnürte mich in seiner grauen Kälte ein. Die Strömung und die Wellen zwangen mich hinaus, ich mußte alle meine Kräfte aufbieten, um dagegen anzukämpfen. Einen Augenblick lang geriet ich in Panik, wollte um Hilfe rufen, aber es war ja sowieso niemand da, der mich hätte hören können. Dann hatte ich die Kontrolle wieder, ich schwamm schräg gegen die Strömung und zog mich an Land.

Als ich hinaufkam, fror ich wie ein Hund, der Wind zerrte an meinem Körper, ich ging zitternd zu den Felsen. Ich blieb an einem Punkt stehen, wo ich den Wind und die Wellen direkt gegen mich hatte. Mehrere Male holte ich lief Luft, pumpte mich voll, und dann schrie ich. Ich schrie, bis die Tränen spritzten, aber ich hörte es fast selbst nicht, denn der Wind hatte eine größere Lunge als ich. Etwas in mir war dabei, sich zu lösen, eine Lawine, ich schrie und schrie, heulte, und zwischendurch sang ich, kam aber nur auf ein paar Worte, die sang ich immer, immer wieder, ohne Melodie:

Denk nicht an die Folgen,
Reite auf den Wellen.
Denk nicht an die Folgen.
Reite auf den Wellen.

Nach kurzer Zeit war ich völlig ausgepumpt. Müde und glücklich sank ich auf die nassen Steine nieder. Ich hatte keine Töne mehr in mir. Ich hatte sie alle hinausgeschrien, jetzt war mein Schrei, mein Gesang auf dem Weg ins Weltall, wie ein Sputnik auf der Bahn rund um die Erde.

Eines Tages wird er zurückkommen.

Ich zog meine Sachen an und trottete mühsam nach Hause. Auf dem Balkon stand Vater und hielt Ausschau, er sah ganz wild aus.

»Wo bist du gewesen?« rief er.

»Baden«, antwortete ich.

»Du weißt doch, daß du nicht allein baden gehen darfst!«

Ich brachte keine Antwort mehr heraus.

Mutter kam auch herbei, sah mich mißtrauisch an, irgendwie war sie den ganzen Tag etwas verlegen gewesen.

»Du wirst dich erkälten, Kim«, sagte sie nur.

Und das tat ich. Sechs Tage lang lag ich im Bett, mit Fieber und leichten Phantasien, und die ganze Zeit krächzten die Elstern draußen im Baum. Und als ich abgekehrt und hungrig am siebten Tag aufstand, brannte die Sonne, der Sommer war endlich da. Wir saßen auf der Terrasse beim zweiten Frühstück, als Onkel Hubert kam. Er kam nicht allein. Er hatte ein Mädchen bei sich.

Nun gut. Vater wurde zum Hummer und Mutter zum Kanarienvogel. Und ich, ich wurde zum Schmetterling. Im Bauch. Sie trampelten stöhnend zu uns hinauf, verschwitzt und erhitzt von dem Weg von der Anlegestelle. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt.

Sie war das Schönste, was ich je gesehen hatte.

Und sie begrüßte mich zuerst.

»Hallo. Ich bin Henny«, sagte sie und nahm meine Hand.

Und dann machten die Hände die ganze Runde, und Mutter sagte irgendwas von mehr Tassen holen, so daß sie etwas Kaffee oder Tee haben könnten, während Onkel Hubert nach Bier rief. Und dann verschwanden er und Henny im Schlafraum unter der Treppe.

Mutter und Vater blieben stehen und sahen sich an.

»Es ist schön, Besuch zu bekommen«, sagte Mutter. »Und das Mädchen sieht ja niedlich aus.«

Vater setzte sich, ohne zu antworten, nahm eine Zeitung und blätterte in ihr. Mutter holte Bier aus dem Keller.

Und ich stellte die Liegestühle ins Gras.

Ich zählte 123 Segelboote auf dem Fjord, 16 Möwen flogen über meinen Kopf, und die Ameisen waren an diesem Samstag besonders fleißig, allein um meine Schuhe herum waren es 468, und alle trugen Tannennadeln. Der Rhododendron hatte 29 Blüten, doch acht davon waren schon kurz vorm Verwelken.

Es wurde ein merkwürdiger Tag.

Die anderen tranken Bier. Ich bekam Limo. Es war verrückt, Vater zuzusehen, wie er das Bier direkt aus der Flasche trank. Henny starrte mit großen, abwesenden Augen in den Himmel. Onkel Hubert lag verliebt im Liegestuhl, die Schirmmütze auf der Nase. Mutter saß mit dem Rücken zur Sonne da, ihre Schultern waren rot.

Henny sagte: »Wir haben Massen Krabben mit!«

»Und Weißwein«, fügte Hubert hinzu. »Ich hab’ die Flaschen in den Kühlschrank gestellt.«

»Wie lange bleibt ihr denn?« fragte Vater plötzlich. Mutter sah ihn scharf an.

»Wir fahren morgen wieder, lieber Bruder, keine Sorge.«

»War nicht so gemeint«, lachte Vater und ruderte kräftig mit den Armen.

»Schon in Ordnung, Bruder.«

Rote Gesichter in der Sonne. Leere Bierflaschen im Gras. Noch nie hatte ich Onkel Hubert so ruhig gesehen, er lag weich wie ein Kissen im Liegestuhl, ab und zu gab er Laute von sich, Gutwetterlaute, ein Murmeln und zufriedenes Seufzen. Alle Knoten waren gelöst. ich bildete...


Christensen, Lars Saabye
Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.



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