Christen | Nannetti - NOF4 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

Christen Nannetti - NOF4


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-5055-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

ISBN: 978-3-7526-5055-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nannetti - NOF 4 Die Geschichte Fernando Oreste Nannettis, eines Italieners, der sein halbes Leben in psychiatrischen Anstalten verbrachte und dessen "Ritzereien" in die Hofwände des Ospedale psichiatrico di Volterra heute zu den bedeutenden Werken der sogenannten Art brut gehören.

Thomas Christen lebt in Düsseldorf und studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Trier sowie später Agrarwissenschaften an der Universität Bonn. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit in einer Heidelberger Klassikproduktion gründete er im Jahr 2000 das audio-visuelle Konzeptlabel tomtone music. Er schrieb über zwanzig Jahre lang Texte für Künstler wie Udo Jürgens, Milva, Veronika Fischer oder das Bremer Ensemble Mellow Melange, verfasste zwei Drehbücher für Music-Features im Auftrag des ZDF und veröffentlicht Romane, Erzählungen und Lyrik.

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Rom - 1934
Langsam schloss er das Fenster des Büros. Seine rechte Hand nahm die Brille ab und legte sie mit offenen Bügeln behutsam auf das oberste Buch des Stapels, der neben ihm auf dem Schreibtisch lag. Der alltägliche Lärm der Stadt war nur noch ein leises Rauschen. Er machte die zwei Schritte vor den Stuhl, und als seine linke Hand die dünne, ockerfarbene Mappe so vorsichtig auf die Schreibunterlage sinken ließ, als seien die darin enthaltenen Blätter aus Glas, traf sich sein Blick für wenige Sekunden einmal mehr mit dem des Mannes, der seit zehn Minuten schweigend auf der anderen Seite des Tisches saß. Von Trastevere wehte das leise Zwölfuhrgeläut von mindestens vier Kirchen über den Tiber. Mit einem kurzen, kaum vernehmbaren Seufzen legte er eine Hand auf die Mappe und dann schlugen seine Fingerkuppen immer wieder unmerklich gegen die Pappe des Deckels, als wollten sie etwas entdecken, lesen und ergründen, das ihm bisher entgangen war. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Herr Direktor ...“ Der Mann auf der anderen Seite des Tisches verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. „... es erscheint mir dennoch wenig ratsam und auch nicht besonders hilfreich, wenn man ihn ... wie soll ich es ausdrücken ... wenn man ihn zu streng angeht. Auch, wenn ich denke ... Der Junge ist sich seiner Verfehlungen durchaus bewusst. Nur ...“ Wieder entstand eine kurze Pause, die der Direktor dazu nutzte seine Brille wieder aufzusetzen. „Wenn man ihn, was in der Vergangenheit selbstverständlich auch vorgekommen ist, zu schroff mit seinem Verhalten konfrontiert, dann neigt er immer wieder zu ... zu einer erheblichen Aggressivität. Er zeigt keinerlei Einsicht. Im Gegenteil. Er schreit und schimpft wie von Sinnen. Er wird quasi zu einer nicht zu öffnenden Auster. Einer Auster, die hier und da schon um sich geschlagen hat. Ich selbst ... aber es liegt mir selbstverständlich fern, Sie zu belehren, Herr Direktor. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wollte nicht ...“ „Ich weiß, Carlo. Und ich verstehe Sie nicht falsch. Es ist nur bedauerlich, dass uns keine andere Wahl bleibt. Schon allein in Anbetracht eines zu gewährleistenden reibungslosen Unterrichtsbetriebes.“ Der Direktor nahm seine Brille wieder ab, klappte sie dieses Mal zusammen und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. „Es ist noch nicht oft vorgekommen. Und man kann ja nun wirklich nicht sagen, dass wir es nicht immer wieder einmal mit Problemfällen zu tun hätten.“ Es klopfte. Der Direktor schob die Mappe zur Seite. „Ich mach das schon, Carlo. Auch das Unerfreuliche gehört eben manchmal zu meinen Aufgaben. Ja, bitte.“ Der Junge blieb einen Moment lang unschlüssig in der Tür stehen. Seine Augen schienen einen Punkt zu fixieren, der irgendwo draußen, jenseits des Fensters lag. Erst als Direktor Moretti ihn mit einer Hand hineinwinkte, machte er zögerlich ein paar Schritte vorwärts und blieb dann abrupt in der Mitte des Raumes stehen. „Guten Tag, Fernando.“ Der Junge zeigte keine Reaktion. Das einzige, was sich an ihm bewegte waren seine Finger, die sich aneinander rieben, als wollten sie etwas zermahlen. „Weißt du, warum du hierher gerufen worden bist, Fernando?“ Der Junge schwieg. Er wirkte, als hätte er die Frage überhaupt nicht gehört. „Setz dich ruhig, Fernando. Du darfst dich gerne setzen. Dort ist ein Stuhl. Und du musst wirklich überhaupt keine Angst haben.“ Der Direktor räusperte sich. Dieser letzte Satz war wohl eher eine Lüge. Auf jeden Fall entsprach er nicht der ganzen Wahrheit. Was würde aus dem Jungen werden? Morgen? In den nächsten Jahren? Aus seinem Leben? Den Kindern, die diese Schule verließen, standen nicht viele Türen offen. Sant’Styliano und sein kleines Kollegium konnten lediglich versuchen, dass nicht alle Türen verschlossen blieben. Und jetzt mussten sie diesen Jungen ausschließen. Weil er störte. Weil er schwänzte. Weil er unberechenbar war und gelegentlich zu Gewalt neigte. Und weil er mit weit mehr als nur einem Schritt den Weg auf eine schiefe Bahn gesucht hatte. Vielleicht hatten die Kinder wirklich keine Angst. Weil er und die meisten anderen im Haus sie ihnen abnahmen. Weil sie nachdachten, weiterdachten. Der Junge rührte sich nicht. „Weißt du, was du einmal werden willst, Fernando?“ Der Junge antwortete nicht. „Feuerwehrmann? Vielleicht ja Fußballer?“ Ihm ging das Wort Soldat durch den Kopf, aber irgendwie fand er die Frage danach in dieser Situation fehl am Platz. Es vergingen ein paar sprachlose Sekunden, und dann zeigte er mit dem Daumen hinter sich auf das Bild, das dort an der Wand hing. „Weißt du, wer das ist?“ Das Schulterzucken und Kopfschütteln des Jungen war kaum zu erkennen. „Das ist der Duce. Benito Mussolini. Wenn du so willst der Direktor Italiens. Nein, man muss nicht unbedingt Führer eines Landes werden. Es gibt viele andere Möglichkeiten zu zeigen, dass man ein wertvoller Mensch ist. Aber weißt du Fernando, zu einer der traurigsten Sachen im Leben gehört es, dass der Mensch viele gute Taten vollbringen muss, um zu beweisen, dass er tüchtig ist, aber nur einen einzigen Fehler zu begehen braucht, um den Eindruck zu erwecken, dass er zu nichts tauge ist ...“ Er wusste nicht warum. Es geschah vollkommen automatisch. Während des letzten Satzes hatte der Blick des Direktors unentwegt das Abzeichen am Revers seines Kollegen gemustert. Eine kleine, braune, leicht glänzende Fascis, ein Reisigbündel, in dem ein winziges Beil steckte. Er räusperte sich und es entstand eine längere Pause. „Sie können jetzt gehen, Carlo. Ich mache das schon. Der Junge und ich werden uns noch ein wenig unterhalten und dann ... wird man sehen.“ Der Mann gegenüber sah ihn irritiert an. „Gehen Sie nur. Sie haben sicherlich zu tun. Ich danke Ihnen herzlich.“ Als die Türe ins Schloss gefallen war, lehnte sich der Direktor zurück und stieß einen ebenso leisen wie langen Seufzer aus. „Wenn es denn nur ein Fehler gewesen wäre, Fernando. Meinetwegen zwei oder drei. Warum prügelst du dich immer wieder mit deinen Mitschülern? Warum beschimpfst du sie? Und sogar deine Lehrer? Und warum stiehlst du immer wieder? Die Polizei war mehrmals hier. Warum schwänzt du so oft den Unterricht? Sage es mir, Fernando! Gibt es eine Erklärung dafür? Was ist los mit dir.“ Der Junge schwieg und schien immer kleiner zu werden. Und dann flüsterte er so leise, dass es kaum zu hören war: „Ich habe Rückenschmerzen. Meine Hände kribbeln ...“ Der Direktor nickte unmerklich. „Herr Rossi erwähnte das gelegentlich. Dort wo du hingehen wirst, wird man sich darum kümmern, versprochen, aber ...“ Im Grunde war es völlig gleichgültig. Es war beschlossen und würde nicht mehr geändert werden, was immer der Junge jetzt noch sagen würde. Der Direktor schob die Mappe gedankenverloren von links nach rechts und wieder zurück. Er musste unbedingt noch etwas sagen, das weniger negativ klang, wenigsten den Anschein von Versöhnlichkeit ausstrahlte. „Du hast doch sicherlich mitbekommen, dass Italien vor zwei Wochen Weltmeister geworden ist. Fußballweltmeister, Fernando! Ist das nicht großartig? Ich wette, jeder Junge in Rom und im ganzen Land will seit vierzehn Tagen später einmal Fußballer werden. Ein neuer Raimundo Orsi. Oder ein neuer Angelo Schciavio! Wie sieht es aus? Wäre das was?“ Noch immer liefen gelegentlich fahnenschwenkende Gruppen durch die Stadt und skandierten Gesänge oder Teile der Nationalhymne. Stringiàmci a coòrte, siam pronti alla morte, siam pronti alla morte, l’Italia chiamò ... Der Junge schaute den Direktor an, und für den Bruchteil einer Sekunde zog ein verhuschtes Lächeln über sein Gesicht. „So und jetzt geh. Herr Rossi wird sich um dich kümmern. Und Fernando – denk darüber nach. Versuch es. Versuch dich zu ändern. Dann wird alles gut ...“ Als der Junge sich langsam umdrehte und zur Türe schlich, schaute ihm der Direktor nach. Das kaum erkennbare Lächeln auf seinem Gesicht glich einer seltsam traurigen Heiterkeit. „Fernando! Warte bitte.“ Er winkte ihn mit den Fingern zurück. „Was ist das für ein Buch oder Heft, das da in deinem Hosenbund steckt?“ Das Gesicht des Jungen nahm die Farbe einer reifen Tomate an. „Zeig es mir. Darf ich es sehen?“ Zögernd kam der Junge näher und schob ihm das Taschenbuch über den Schreibtisch. „’Die Etrusker – Eine kleine Geschichte über ein großes Volk’. Meine Güte, wo hast du das denn her? Ein ziemlich altes und abgegriffenes Exemplar. Sag bloß wir alle hier haben etwas an dir übersehen!“ Aber die Antwort war nur ein weiteres Kneten der Finger und ein Blick auf die Schuhe. „Nein! Ich weiß. Wir haben nichts...



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