E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Choi Vertrauensübung
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-910372-12-2
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. »Packt das Herz ebenso wie den Verstand.« The New York Times
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-910372-12-2
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Freundschaft, Liebe, Sex und Macht: »Vertrauensübung« ist ein intensiver Roman, der mutmaßliche Wahrheiten erdrutschartig mit sich reißt Sarah und David gehören zu den Auserwählten, die an der Elite-Schauspielschule CAPA aufgenommen werden. Sarah stammt aus einfachen Verhältnissen, David aus reichem Elternhaus. Wie ihre Mitschüler:innen konkurrieren sie um die Sympathien ihres Lehrers Mr Kingsley, dem eigentlichen Star der Schule. Kingsley ist ein Charismatiker, der jeden Raum zum Leuchten bringt und dann durchschneidet wie eine Messerklinge. Selbst die Eltern haben keinen Einfluss darauf, was innerhalb der Schulmauern geschieht. Als Sarah und David ihren Unterschieden zum Trotz eine Beziehung anfangen, ziehen sie alle Aufmerksamkeit auf sich - und setzen damit eine Dynamik in Gang, die der Welt außerhalb der Schule über Jahre Rätsel aufgibt. Bis zwei Außenseiterinnen sich Gehör verschaffen und unseren Blick auf das, was damals geschah, auf Intimität und Inszenierung, Fakt und Fiktion, Geltung und Gewalt radikal verändern.
Susan Choi, 1969 geboren, lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. An der Yale University unterrichtet sie Kreatives Schreiben. 'Vertrauensübung' ist ihr fünfter Roman.
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VERTRAUENSÜBUNG Karen« stand vor der Skylight-Buchhandlung in Los Angeles und wartete auf ihre alte Freundin, die Autorin. Ihre alte Mitschülerin von der Highschool, die Autorin. Nahm sie sich zu viel heraus, wenn sie »Freundin« sagte? Ließ sie sich zu viel bieten, wenn sie »Karen« sagte? »Karen« heißt nicht »Karen«, aber als »Karen« den Namen »Karen« las, war ihr sofort klar gewesen, dass sie gemeint war. Tut es für irgendjemanden etwas zur Sache, außer für »Karen«, wie »Karen« wirklich heißt? Nicht nur tut es für niemand anderen etwas zur Sache, der Fakt, dass es für »Karen« etwas zur Sache tut, wird zudem wohl ein schlechtes Licht auf »Karen« werfen, wie so vieles an »Karen« ein schlechtes Licht auf »Karen« wirft. »Karen« wird also darauf verzichten, ihren richtigen Namen zu nennen, oder den von irgendjemand anderem, auch wenn sie anmerken möchte, nur fürs Protokoll, dass sie die Entscheidung für ihre Benennung als »Karen« komplett durchschaut. Mit allem Respekt gegenüber tatsächlichen Karens, ist »Karen« als Name unsexy. Er ist zu aktuell, um als retro durchzugehen, und nicht jung genug, um angesagt zu wirken. Ein Name ohne Pep. Er wirkt irgendwie farblos, aber nicht farblos genug, wie zum Beispiel »Jane«, ein dermaßen farbloser Name, dass der Ausdruck »Plain Jane« entgegen seiner Aussage schon wieder Pep hat. Er reimt sich und deutet auf eine romantische Farblosigkeit hin. Der Ausdruck »Plain Jane« bringt die Leute zum Lächeln. »Karen« ruft keine solchen Assoziationen hervor. »Karen« ist nicht hübsch oder klug oder trügerisch farblos, bis sie ihre Brille abnimmt. »Karen« ist ein Name aus dem Jahrbuch, ein Lückenfüller, ein Mädchen mit derselben Frisur wie alle und einem Gesicht, das man vergessen hat. Mein Name ist nicht und war nie Karen, aber dann bin ich eben Karen. Ich bin nicht kleinlich. Da, ich habe sogar die Anführungszeichen weggelassen. Karen stand vor der Skylight-Buchhandlung in Los Angeles und wartete auf ihre alte Freundin, die Autorin. Sie war nicht kleinlich, war nie kleinlich gewesen, hatte nie genug Selbstbeherrschung besessen, oder genug Selbst, um sich Kleinlichkeit leisten zu können, denn kleinlich sind Leute mit Kapazitäten. Trotzdem: Sie möchte anmerken, nur fürs Protokoll, dass die Wahl ihres Namens, dieses Namens, Karen, mit dem sie sich abgefunden hat, nicht das Einzige ist, was sie durchschaut. Sie durchschaut auch vieles andere, so mühelos, wie man Verbindungslinien zwischen einer Spalte auf der linken und einer Spalte auf der rechten Seite zieht und die Spalten so mit einer Art zickzackförmigen Naht zusammenfügt. Wie früher, als Kind. Die rechte Spalte besteht zum Beispiel aus Bildern und die linke aus Wörtern, aber die zusammengehörenden Paare stehen nicht nebeneinander, sie sind durcheinander und man muss sie zuordnen. Das ist nicht schwer. Wer mich gekannt hat – wer Karen gekannt hat – oder jemand von den anderen, kriegt das garantiert hin. Eigentlich ist die Anordnung sogar fast zu einfach – aus Respekt vor der »Wahrheit«? Aus Mangel an Fantasie? Macht die Tatsache, dass der Code so leicht zu knacken ist, es besser oder schlimmer? Sarah und David sind die Personen, die sie offensichtlich sein müssen. An ihnen wurden nur die Namen geändert, und nicht einmal besonders stark – die neuen Namen haben den richtigen Spirit, entsprechen ihren Gegenständen. Eigentlich sind sie so treffend, dass sie überflüssig sind, ihre Abweichung von der Wahrheit so minimal, dass sie genauso gut die Wahrheit sein könnten, die sie ersetzt haben. Auch Mr Kingsley ist die Person, die er offensichtlich sein muss. Auch sein neuer Name hat den richtigen Spirit. Wenn sein Charakter einigen schillernden Überarbeitungen unterzogen wurde, dann nicht, um die historische Person zu verschleiern, obwohl mit ihnen durchaus etwas verschleiert wird. Dieses Etwas zu demaskieren obliegt jedoch nicht Karen; sie ist nicht dazu da, etwas ohne Vorwarnung zu enthüllen. Im Gegensatz zu Mr Kingsley ist Pammie keine historische Person, sondern verkörpert den Teil von Karens Frömmigkeit, der als lächerlich wahrgenommen wurde. Julietta hingegen verkörpert den Teil von Karens Frömmigkeit, der bewundert wurde. Joelle ist die Vertrautheit zwischen Karen und Sarah, die geleugnet und auf eine historische Person übertragen wurde, die Joelle sehr ähnelt und mit der Sarah eigentlich gar nicht befreundet war. Warum den Schmerz der zerbrochenen Freundschaft Joelle zuerkennen und ihn Karen wegnehmen? Das mag psychologische Gründe haben. Warum Karen die Frömmigkeit nehmen, dafür das Lächerliche an ihrer Frömmigkeit Pammie und das Bewundernswerte an ihrer Frömmigkeit Julietta zuschreiben? Das mag künstlerische Gründe haben. Alles reine Spekulation. Karen ist nicht der Typ dafür, so zu tun, als hätte sie einen tieferen Einblick in Menschen, die sie als Kind gekannt hat, bevor sie sich von ihnen abgewandt und sie dann nach Herzenslust für ihren eigenen Profit ausgenutzt hat. Ohne jetzt Namen nennen zu wollen. Das wäre kleinlich. Karen steht vor der Skylight-Buchhandlung in Los Angeles und wartet auf ihre alte Freundin, die Autorin. Karen ist dreißig Jahre alt, genau wie ihre alte Freundin, die Autorin. Sie hat ihre alte Freundin, die Autorin, nicht mehr gesehen, seit beide achtzehn waren. In den zwölf Jahren, die seitdem vergangen sind, ist viel mit Karen passiert. Viel von dem, was passiert ist, war Therapie, und was sonst noch passiert ist, lässt sich vor allem mit therapeutischen Begriffen beschreiben. Dieser Neigung ist sich Karen bewusst, und sie hat nicht das Bedürfnis, sich dafür zu rechtfertigen. Zumindest weiß sie, woher ihre Sprache kommt. Wenn allerdings Sarah – nur als Beispiel – sie fragen würde, was sie die letzten zwölf Jahren so gemacht habe, würde Karen in ihrer Antwort den Therapiejargon ebenso sorgfältig vermeiden, wie sie früher den Jesusjargon vermieden hat. Sie täte das, um von einer Person ohne jeden Glauben ernst genommen zu werden. Obwohl Karen dieser Person ohne jeden Glauben nicht nur Abneigung, sondern Missachtung entgegenbringt, würde sich wieder diese alte Scham über ihren Glauben einschleichen, über ihr Bedürfnis zu glauben – ans Glauben zu glauben –, wie ein Schandfleck, und Karen würde sich – wie damals – als nichtgläubig ausgeben. Soweit also alles beim Alten. Ach, dies und das, würde sie sagen. Vor allem Verwaltungsarbeit, persönliche Assistenz, Terminplanung, so in die Richtung – auf der Highschool hat man das vielleicht nicht gemerkt, aber ich bin extrem gut organisiert [Lachen]. Es ist wirklich ein Fluch, ich muss alles, was ich sehe, effizienter machen. Wahrscheinlich eine Reaktion auf meine Mutter [Lachen]. Aber so als Arbeit ist es gar nicht übel. Leute engagieren mich, um ihren Kram zu organisieren, ich kann mir die Kunden aussuchen und selbst über meine Termine bestimmen. Es ist lukrativ. Ich habe viel Zeit zum Reisen. Mein Bruder und ich – ich weiß nicht, ob du dich noch an meinen Bruder erinnerst? – waren neulich in Vietnam und Laos. Ja, es war der Hammer. Wunderschön. Während sie all das sagt, falls sie es sagt, wird sich Karen der trügerischen Lässigkeit bewusst sein, mit der sie die beneidenswertesten Aspekte ihres Lebens in den Vordergrund rückt. Sie wird sich der Mühe, die es kostet, Neid zu schüren, und der Mühe, die es kostet, diese Mühe zu verhehlen, so bewusst sein, dass es ihr schwerfallen wird zu glauben, dass Sarah sich all dessen nicht ebenso bewusst war – und das trotz der umfassenden Beweislage für Sarahs Unfähigkeit, zu durchschauen, was sie, Karen, fühlt. Synonyme für »umfassend« sind unter anderem »gehaltvoll«, »erschöpfend« und »substanziell«, nicht jedoch, zumindest laut dem Wörterbuch, das mir vorliegt, »voluminös«, dessen Synonymliste wiederum die Einträge »ausladend«, »riesig«, geräumig« und »weit« aufführt – und »umfassend«. Manchmal funktioniert Synonymität nur in eine Richtung. »Voluminös« leitet sich, so steht es im Wörterbuch, vom lateinischen voluminosus her, was so viel heißt wie »voller Windungen/Krümmungen« und sich wiederum vom lateinischen volumen für »Rolle« herleitet, das dann im Mittelalter umgekehrt wieder seinen Weg etwa ins englische volume gefunden hat, die Bezeichnung für eine Schriftrolle aus Pergament. Jeder kann das nachschlagen. Die Fähigkeit einer Person, mit Worten umzugehen, ist mitnichten eine besondere Gabe oder ein Talent. Sie deutet nur darauf hin, dass die Person ein Synonymwörterbuch und ein Lexikon besitzt. In unserer Erziehung – mit »uns« meine ich mich und Sarah; mit »Erziehung« meine ich, dass uns eine Vorstellung davon mitgegeben wurde, was uns am meisten bedeutet, und zwar nicht von unseren Eltern, sondern von unseren Lehrern und Freunden – war Talent die einzige Religion, die einzige Glaubensgrundlage, über die man sich nicht lustig machte. Talent war etwas Göttliches, verkörpert im Menschen. Man hatte es entweder oder nicht, war entweder gesegnet oder nicht. So oder so huldigte man ihm. War man mit Talent gesegnet, huldigte man ihm, indem man es nutzte, und es gab keine schwerere Sünde, als Talent zu vergeuden. Wenn man nicht damit gesegnet war, huldigte man ihm, indem man den Menschen diente, die es besaßen. Und zwar mit Freude und ohne Neid. Karen und Sarah, ihr wisst doch, Mädchen, ohne euch wäre diese große Inszenierung niemals möglich, was würden wir nur ohne unsere tapferen Schneiderlein vom Kostümteam machen! Sprach Sarah für jede Inszenierung auf der großen Bühne vor, obwohl sie das stimmliche Register einer Kröte hatte? Ja. Sprach Karen, Solistin im Kirchenchor, für jede Inszenierung auf der großen Bühne vor? Ja. Wurde eine von ihnen jemals besetzt, und sei es auch...