E-Book, Deutsch, 187 Seiten
Chmelik / Dörre / Hünniger Die Zukunft des Automobils
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-593-46069-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Innovation, Industriepolitik und Qualifizierung für das 21. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 187 Seiten
ISBN: 978-3-593-46069-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rico Chmelik studierte Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr München und BWL an der FernUniversität Hagen. Seit 2017 ist er Geschäftsführer des Automobil-Netzwerks automotive thüringen e.V. mit 115 Mitgliedsunternehmen, Mitautor zahlreicher Studien und Gutachten zum automobilen Strukturwandel, darunter Tiefenanalyse der Thüringer Zulieferindustrie und Regionalanalyse von Beschäftigungseffekten. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Julia Hünniger ist Erziehungswissenschaftlerin und promovierte Mediendidaktikerin, didaktische Beraterin an der FH Erfurt und Personalentwicklerin bei Stadtwerke Erfurt. Seit 2022 arbeitet sie als Projektleiterin Kompetenz- und Personalentwicklung automotive thüringen e.V. Thomas Rehfeldt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt BeaT - Berufliche Bildung erneuern für die automobile Transformation (BMWK) am Servicezentrum Forschung und Transfer (SFT) der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Stefanie B. Seitz arbeitet als Transferexpertin am Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme. Seit mehr als 10 Jahren ist sie im Bereich Innovations- und Wissenschaftsmanagement in Einrichtungen wie dem Karlsruher Institut für Technologie, dem Deutschen Biomasseforschungszentrum (Leipzig) oder der Friedrichs-Schiller-Universität Jena tätig. Ihre Interessenschwerpunkte liegen auf dem Transfer von wissenschaftlichem Wissen über die Grenzen verschiedener Disziplinen und gesellschaftlicher Bereiche hinweg sowie auf der Frage, wie innovationsförderliche Kulturen in Arbeitszusammenhängen geschaffen werden können.
Autoren/Hrsg.
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I’m travelin’ down the road
I’m flirtin’ with disaster
I’ve got the pedal to the floor
My life is running faster
I’m out of money, I’m out of hope
It looks like self destruction
Well how much more can we take
With all of this corruption […]
’
1.Einleitung – Von der Dekarbonisierung zur Deindustrialisierung?
Wer heute über die Zukunft der Mobilität und die der Autobranche nachdenkt, wird sich mit Geopolitik, Umbrüchen in der Weltwirtschaft und deren gesellschaftlichen Auswirkungen befassen müssen. Klimawandel, Pandemiefolgen, Kriege, gestörte Wertschöpfungsketten, knappe Rohstoffe und teure Energie belasten die globale Ökonomie und mit ihr auch die europäischen Wirtschaftsmodelle. Fortschreitende Deindustrialisierung ist eine reale Gefahr, die sich bereits in wichtigen Kennziffern niederschlägt (Kirton-Darling 2024). So verzeichneten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) 2022 ein Handelsdefizit von 432 Milliarden Euro. Von Februar 2023 bis zum Vergleichsmonat im Jahr 2024 fiel die Industrieproduktion in der Eurozone um 6,4 Prozent, die der gesamten EU ging um durchschnittlich 5,4 Prozent zurück. Innerhalb der EU gilt die deutsche Wirtschaft als besonders schwieriger Problemfall. Eben noch für das »German Job Miracle« gelobt, ist nun wieder vom »kranken Mann« Europas die Rede, denn die Konjunktur lahmt, die Wachstumsraten sind niedrig und der Kapitalstock für öffentliche Investitionen ist über viele Jahre hinweg geschrumpft.5
Was bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft der Automobilität? War es industriepolitisch naiv, primär auf elektrifizierten Verkehr zu setzen? Soll, ja muss, das Tempo des sozial-ökologischen Umbaus gedrosselt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit einer Industrie mit vergleichsweise gut bezahlten Arbeitsplätzen zu erhalten? Erleben wir gar eine von Realismus getriebene Rolle rückwärts, die das fossile Zeitalter in Deutschland und der EU um viele Jahre verlängert?
Nachfolgend werden diese Fragen in mehreren Schritten behandelt. Einleitend geht es um die europäischen 6 und eine mögliche Revision ökologischer Klima- und Nachhaltigkeitsziele – eine Problematik, auf die sich die Kernthese des Beitrags bezieht (2, 3). Es folgt eine Inspektion von Strukturproblemen der Autobranche (4), die sodann im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche und branchenspezifischer Transformationskonflikte verortet wird (5). Überlegungen zu den Perspektiven einer nachhaltigen Mobilität, die der Branche als zukunftsträchtiges Leitbild dienen könnte, schließen den Beitrag ab (6).
2.Die These – Flirtin’ with disaster
Beginnen wir mit den europäischen . Um den Klimawandel zu bekämpfen und eine Wende hin zu ökologischer Nachhaltigkeit einzuleiten, hatte sich die EU ambitionierte Ziele gesetzt. Bis spätestens 2050, in Deutschland bereits bis 2045, sollten die klimaschädlichen Emissionen auf Netto-Null zurückgefahren werden. Pro EU-Einwohner müsste der Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase dann jährlich unter zwei Tonnen liegen. Diese Ziele sind für die Mitgliedstaaten – noch – verbindlich und sanktionierbar. Ihre Realisierung würde auf tiefgreifende Veränderungen der Produktionsmodelle, Geschäftsstrategien und Konsummuster hinauslaufen. Doch Ziele sind das eine, ob und wie sie erreicht werden, steht auf einem anderen Blatt.
Die Gefahr einer Deindustrialisierung vor Augen und in der Erwartung schwieriger Mehrheitsbildungen im Europaparlament, fordert die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsverbandes industriAll Europe, Judith Kirton-Darling, einen erneuerten europäischen , der durch Initiativen zur Stärkung der Industrie zu ergänzen sei. Zugleich warnt die Gewerkschafterin vor einem rechten Populismus, der durch eine Überbetonung ökologischer Nachhaltigkeitsziele befeuert werde. Eine eindimensionale Fokussierung auf strenge Umweltkriterien berge die Gefahr, dass unbezahlbare grüne Produkte entstünden, wodurch Fortschritte bei Elektrofahrzeugen und anderen wichtigen Industrien aufgehalten würden (Kirton-Darling 2024).
Was die Spitzengewerkschafterin nur vorsichtig andeutet, die Relativierung ökologischer Nachhaltigkeitsziele, wird im liberal-konservativen Spektrum der Medienlandschaft bereits als das »Ende der grünen Hegemonie« (Rödder 2024) gefeiert. Ursula von der Leyen habe »lange stur am festgehalten«, nun werde sie ganz »andere Akzente setzen müssen« (Kafsack 2024: 18):
»Weder Corona-Krise noch Ukraine-Krieg haben die Kommissionspräsidentin davon abgebracht, ihre zu Beginn der Amtszeit zum Kernthema erkorene Politik zum Schutz von Klima und Naturschutz – die sie gar als Europas Mondlandung bezeichnete – voranzutreiben. […] Nichts hätte von der Leyen davon abgehalten, bis zum Ende ihrer Amtszeit weiterzumachen, wenn im Frühjahr des vergangenen Jahres [2023, d. A.] nicht die eigene Partei rebelliert hätte. […] Ein gutes Jahr später halten im Wahlkampf nur noch die Grünen und Teile der liberalen Renew-Fraktion – nicht die FDP – am Green Deal fest« (ebd.).
Tatsächlich ist das Geld für den über 2026 hinaus nicht gesichert. Bereits beschlossene Maßnahmen wie das Ende der Zulassung von Pkw mit Verbrennungsmotor, ein wichtiger Baustein des , werden wieder in Frage gestellt (Zeit-online 2024).
Der Abschied vom Leitbild eines grünen Kapitalismus wäre jedoch, so die hier vertretene These, ein verheerendes Signal. Würden die Mitte-rechts-Parteien gemeinsam mit Teilen der radikalen Rechten für ein Ende des europäischen sorgen, käme das nicht nur für die deutsche Automobil- und Zulieferindustrie einem Flirt mit dem Desaster gleich. Die Fahrzeugbranche hat in Deutschland und Europa nur dann eine Zukunft, wenn sie ihre Produktion konsequent an der Vision nachhaltiger, vernetzter Mobilitätssysteme ausrichtet. Eine Förderung der ökologisch völlig unzureichenden E-Mobilität ist dafür als Übergangslösung – leider – unverzichtbar.
Wenn Teile der politischen Eliten nun unter dem Signum der Technologieoffenheit ihren Kurs ändern und zu Kampagnen gegen den Abschied vom Verbrennungsmotor aufrufen, senden sie damit also ein fatales Signal. Sie säen Unsicherheit für investitionswillige Unternehmen und blockieren Innovationen. Vor allem die Automobilcluster im Osten der Republik, die auf den Erfolg von elektrifizierten Fahrzeugen und E-Mobilität zugeschnitten sind, würden hart getroffen. Zu leiden hätte die Gesellschaft insgesamt. Denn je länger der dringend nötige Umbau der Autobranche und des Verkehrssektors hinausgezögert wird, desto höher wird der Preis sein, den Beschäftigte, Kunden, Unternehmen und Gesellschaften zu zahlen haben, wenn der Druck des ökologischen Katastrophenpotenzials den Wandel unausweichlich macht.
3.Verschlafene Zukunft, E-Mobilität und Rolle rückwärts
Aktuelle Vorstöße zur Revision des Verbots für Verbrennungsmotoren suggerieren, dass die deutsche Automobil- und Zulieferindustrie unter politischem Druck zu rasch »ergrünt« sei, was nun zur Gefährdung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit führe. Zutreffend ist jedoch das genaue Gegenteil. Über Jahrzehnte hinweg hat die Branche Sprunginnovation verschlafen. Als einer der...