Chizhova | Die Terrakottafrau | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Chizhova Die Terrakottafrau

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-423-42821-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-423-42821-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Seele verkaufen für eine Tasse Kaffee?
Die wilden Neunzigerjahre in Russland: Tatjana bringt sich und ihre Tochter allein durch - kein leichtes Unterfangen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Als der erfolgreiche Unternehmer Friedrich ihr ein lukratives Jobangebot macht, überlegt sie nicht lange.

Doch schon bald lernt sie die Schattenseiten des Raubtierkapitalismus kennen und muss sich fragen, ob sie ihre moralischen Grundsätze wirklich über Bord werfen kann – und will.

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Teil I
Wurde er umgebracht oder
hat er jemanden umgebracht?
Eine Frau mittleren Alters geht über den Newski Prospekt. Für einen unbeteiligten Betrachter mag es aussehen, als lächele sie: Die Lippen sind leicht aufgeworfen, die Mundwinkel nach oben gezogen. Ihr Exmann bezeichnet dieses Lächeln als archaisch: eine leichte Muskelanspannung. Es entspricht nicht dem Ausdruck in ihren Augen. Sie denkt: »Besser nur geradeaus sehen. Wohin man blickt, überall Schaufenster. Man braucht sich nur umzuschauen …« Die Frau geht an McDonald’s vorbei und überquert die Rubinstein-Straße. Früher war hier an der Ecke ein Fischgeschäft. »Merkwürdig …« Sie zupft ihre Kleidung zurecht. »Als wäre ich ein Spion. Wie Stierlitz[3]. Auf feindlichem Terrain …« Sie findet den Gedanken lachhaft. So lachhaft, dass sie sich ganz bewusst umschaut. Ihr Spiegelbild, das sich unbewusst umgeschaut hat, blickt ihr in die Augen. Das Spiegelbild – ein Substantiv sächlichen Geschlechts. Es denkt: Auch eine Frau, die schlecht gekleidet ist. Die Frau, die Secondhandklamotten trägt, tritt näher heran. Für einen unbeteiligten Beobachter muss es so aussehen, als sei eine Frau, die über den Newski Prospekt geht, vor einem Schaufenster stehen geblieben. Das Spiegelbild kommt ebenfalls einen Schritt näher. Es gibt dazu eine passende Redewendung – jemandem einen Schritt entgegenkommen bedeutet den Versuch, ihn zu verstehen. Das, was sie trägt, sind ihre eigenen Sachen. Ein Rock, eine Jacke. Dunkelbraune Stiefel. Vor vielen Jahren hat sie sie in einer exklusiven Boutique gekauft. Damals konnte sie sich so manches leisten. Ihr Spiegelbild hat die Kleidung geerbt. Die Frau von damals gibt es nicht mehr. Das Spiegelbild schlägt die Augen nieder. Gestern sind sie gemeinsam Bus gefahren. Eine Frau mittleren Alters stand da in ihren eigenen abgelegten Kleidern und hielt sich an der Haltestange fest. Ihr Spiegelbild stand gegenüber – im Busfenster. Es hielt sich auch an der Haltestange fest. Im Bus hält man sich am besten irgendwo fest. »Ja, genau. In der ›Cosmopolitan‹. Stell dir vor, selbst Madonna ist sich dafür nicht zu schade.« »Ach komm!« »Nichts ach komm! Das steht da echt: Sie ist sich dafür nicht zu schade. Vintage nennt man diese Klamotten …« Zwei Freundinnen, jede ein Spiegelbild der anderen, unterhielten sich über einen Zeitschriftenartikel. Schwarze Hosen, Lackstiefel, Handtäschchen aus grobem Kunstleder – billiges Lederimitat. Die Frau und ihr Spiegelbild blickten sich an und hörten unfreiwillig zu. Still für sich registrierten sie: sich nicht zu schade sein. In der Umgangssprache waren solche Verben eine Seltenheit. »Aber ich bin mir dafür zu schade! Das fehlte gerade noch … Erstens ist es gefährlich. Vintage … Abgelegte Kleider. Gewöhnliche Secondhandklamotten. Du weißt doch gar nicht, was für eine das war …« »Madonna?!« »Wieso Madonna? Die Frau, der die Sachen gehört haben. Vielleicht war sie ja eine dumme Pute? Das hängt dann noch in den Klamotten, wenn du sie anziehst. Im Fernsehen haben sie das gesagt. Habe ich selbst gehört …« Die beiden Mädchen, die aussahen wie Studentinnen im ersten Semester, stiegen an der nächsten Haltestelle aus. Die Frau und ihr Spiegelbild stießen gleichzeitig einen Seufzer aus. Vor langer Zeit waren auch sie Studentinnen gewesen. Danach hatten sie an der Hochschule unterrichtet, später dann für Friedrich gearbeitet. Damals waren sie sich nicht zu schade gewesen, sich umzuschauen und der anderen in die Augen zu sehen. Ein Strom von Ausländern wälzt sich über den Bürgersteig. Sie gehen einfach drauflos. Neugierig sehen sie sich um. Die Frau denkt: »Ich stehe im Weg.« Sie tritt einen Schritt nach vorn. Jetzt steht sie unmittelbar vor dem Schaufenster. Ihr Spiegelbild ist zum Greifen nah. Sie sind sich so nah wie nie zuvor. Sie braucht nur die Hand auszustrecken, und die Finger berühren sich. Aber was ist das? Ihr Spiegelbild ist verschwunden. Sie kann nur die Ware erkennen. Ein Rock, eine Hose, Stiefel mit Pfennigabsätzen. Ein Kaschmirschal. In dieser Saison ist Violett die Modefarbe. Die Augen der Schaufensterpuppen blicken ins Leere – sie sind sich zu schade für die Blicke der Passanten. Die Frau will sich Gewissheit verschaffen: Ob es wirklich so einfach ist? Sie tritt einen Schritt zurück: Im selben Moment taucht ihr Spiegelbild wieder auf. Ein Schritt nach vorn – das leere Lächeln der Schaufensterpuppen. Ein Schritt zurück – wieder sie: die Frau von früher, in ihren eigenen Secondhandkleidern. Sie will nicht, dass es noch darin hängt. Ihr früheres Leben. Studentin, Hochschullehrerin, erfolgreiche Geschäftsfrau. Ihr Spiegelbild steht direkt vor ihr. Sie will die Hand erheben, die Scheibe zertrümmern, mit aller Kraft zuschlagen, dass die Scherben nur so fliegen. Ihr scheint, als würde das Spiegelbild schon jetzt in tausend Stücke springen. Passanten laufen über die Scherben. In jeder Scherbe steckt ihr Spiegelbild. Fremde Sohlen treten die Scherben in den Dreck. Die Frau macht einen Schritt nach vorn. Ihr Spiegelbild ist spurlos verschwunden. Sie fühlt sich unsichtbar. Unsichtbare haben kein Spiegelbild. Unsichtbare blicken einander nicht in die Augen. Jetzt steht sie ganz dicht vor dem Schaufenster. Sie hat es nicht eilig, hat nichts zu befürchten. Zwischen ihr und dem Spiegelbild ist eine blinde Mauer. Die Mauer ist eine sichere Trennwand, die keine Spiegelbilder zurückwirft. Ein Schritt zurück. Die Frau erstarrt: Gleich wird es wieder auftauchen – ein armseliger Loser, der die Welt mit deinen Augen ansieht … Nichts dergleichen. Kein Spiegelbild. Offenbar hat es die Nase voll von diesem Spiel. Es ist zurückgewichen, aus dem Schaufenster gesprungen, in den Verkaufsraum entwischt, hat sich unter die geschäftigen Kundinnen gemischt … Da, es geht an den Kleiderständern entlang, will etwas aus der neuesten Kollektion anprobieren. Die Schaufensterpuppen laufen herbei. Ein archaisches Lächeln erhellt ihre Gesichter. Die Lippen sind leicht aufgeworfen, die Mundwinkel nach oben gezogen. Das Lächeln passt nicht zum Ausdruck in ihren Augen – sie sind leer.   Über die rückwärtige Wand des Geschäfts läuft ein farbiger Schriftzug: Wir kleiden Ihr Spiegelbild ein. Ihr klägliches Spiegelbild, eine Scherbe ihrer Vergangenheit, verschwindet in einer Umkleidekabine. Die unsichtbare Frau frohlockt: Das ist ja wunderbar! Sie tritt vom Schaufenster zurück und geht leichtfüßig den Newski Prospekt hinunter. Während das Spiegelbild auf Shoppingtour geht, ist sie sich selbst überlassen. Jetzt kann sie sein, wer sie will. Ohne das Spiegelbild ist es ganz einfach. Sie braucht nur mit fremden Augen zu schauen … Zum Beispiel mit den Augen dieses Ausländers. Knittrige Jeans, Bierbauch, eine dünne Steppjacke. Er steht direkt am Bordstein und blickt sich nach allen Seiten um. Was er wohl denkt, wenn er über den Newski Prospekt geht? Sie möchte seine Gedanken ergründen. Für eine Frau ohne Spiegelbild ist das nicht weiter schwierig … »Die Petersburger können stolz sein. Ihr Newski ist definitiv schöner geworden. Er steht heute den größten Einkaufsstraßen Europas in nichts nach: Cafés, Geschäfte, elegante Auslagen. Nicht zu glauben, wie schäbig das alles noch vor kaum zehn Jahren war …« Er erinnert sich: Damals war er aus Europa gekommen und in einer sterbenden Stadt gelandet. Karyatiden mit abgeschlagenen Nasen. Bröckelnder Stuck an den Fassaden. Und heute – keine Spur mehr davon. Die Reklame ist eine Wohltat für das Auge des Europäers: Es sind die gleichen Bilder wie in seiner Heimatstadt. Wie in allen europäischen Städten. Er freut sich, dass er auf dem Newski dasselbe schöne Mädchen entdeckt hat wie vor der eigenen Haustür: Am Morgen, beim Einsteigen ins Taxi, hat er sie mit einem gleichgültigen Blick gestreift und nicht ahnen können, dass sie ihm wenige Stunden später auf der Hauptstraße der ehemaligen russischen Hauptstadt zublinzeln würde … Einen Moment lang meint der Europäer, Russisch zu verstehen: Überall, hier wie in Europa, bieten die Mädchen ein und dasselbe Produkt an …   Die Frau, die ihrem Spiegelbild entwischt ist, geht über die Brücke und bewundert Clodts Pferde[4]. Sie bäumen sich auf, drängen in die Freiheit. Vor Kurzem erst wurden sie restauriert. Sie denkt: »An ihrer Stelle hätte ich das ausgenutzt. Aus der Werkstatt kann man leichter Reißaus nehmen. So eine Chance darf man sich nicht entgehen lassen, die gibt’s nur einmal in hundert Jahren.« Vor dem Sockel der Skulptur steht eine Horde Ausländer. Die Stimme der Reiseführerin geht unter im Lärm der Autos. Die Ausländer sind nicht recht bei der Sache. Sie interessieren sich wohl kaum für die Einzelheiten: Was haben sie mit diesen russischen Pferden zu schaffen … Die Frau überquert die Brücke und geht an der ehemaligen Apotheke vorbei. Dort hat inzwischen eine Sushi-Bar eröffnet.   Der Europäer, mit dessen Augen sie geschaut hat, ist verschwunden. Für einen Moment werden ihre Augen wieder die ihren. Sie fragt sich plötzlich: »Wie komme ich überhaupt darauf, dass er schon einmal hier war? Wahrscheinlich ist er zum ersten Mal in Petersburg.« Das Reisebüro hatte ihm eine exotische Reise versprochen. Der...


Trottenberg, Dorothea
Dorothea Trottenberg studierte Slavistik in Köln und Leningrad. Sie arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, unter anderem von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol, Vladimir Sorokin, Lev Tolstoj, Ivan Turgenev und Ivan Bunin. 2007 wurde sie mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis ausgezeichnet. 2012 erhielt sie den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen ins Deutsche.

Chizhova, Elena
Elena Chizhova, 1957 in Leningrad geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und war an der Universität und in der freien Wirtschaft tätig, bevor sie sich Mitte der 1990er Jahre dem Schreiben zuwandte. Ihre bislang sieben Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, für ›Die stille Macht der Frauen‹ erhielt sie 2009 den angesehenen russischen Booker-Preis. Elena Chizhova ist Vorsitzende der Sankt-Petersburger Sektion des PEN-Clubs.

Elena Chizhova, 1957 in Leningrad geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und war an der Universität und in der freien Wirtschaft tätig, bevor sie sich Mitte der 1990er Jahre dem Schreiben zuwandte. Ihre bislang sieben Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, für ›Die stille Macht der Frauen‹ erhielt sie 2009 den angesehenen russischen Booker-Preis. Elena Chizhova ist Vorsitzende der Sankt-Petersburger Sektion des PEN-Clubs.

Elena Chizhova, 1957 in Leningrad geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und war an der Universität und in der freien Wirtschaft tätig, bevor sie sich Mitte der 1990er Jahre dem Schreiben zuwandte. Ihre bislang sieben Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, für ›Die stille Macht der Frauen‹ erhielt sie 2009 den angesehenen russischen Booker-Preis. Elena Chizhova ist Vorsitzende der Sankt-Petersburger Sektion des PEN-Clubs.



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